Die Suche nach dem geheimnisvollen Zwerg
In seinem Band „Die Welt des Markus Epstein“ erzählt der Schriftsteller Walter Kaufmann 105 autobiographische Geschichten
In 105 autobiographischen Geschichten erzählt der Schriftsteller Walter Kaufmann, der jetzt schon über 90 Jahre alt ist, aus seinem Leben. Es sind einprägsame Geschichten, eindringliche und unverwechselbare Geschichten aus einem Leben, dass viele Berufe und Kontinente gesehen hat.
Dass es so gekommen ist, dass hat mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu tun, die den jungen Walter Kaufmann fortgetrieben hat aus seinem Land. Dass es so gekommen hat, das hat aber vielleicht auch mit einer Eigenschaft zu tun, über die in der Geschichte „Neugier“ erzählt wird: „Der Briefkasten an der Bushaltestelle hatte es ihm angetan - was bloß verbarg sich darin? Markus fragte den Vater, und der antwortete ihm zu ausführlich. Er war noch nicht vier und seine Neugier schnell abgelenkt. Was für eine riesengroße runde Schachtel sich plötzlich über ihm türmte, bunt eingewickelt auch. „Das ist keine Schachtel, sondern eine Litfaßsäule“, bekam er zu hören. „Und ist nicht hohl wie eine Schachtel, sondern aus Beton ...“ Darüber dachte er nach, ehe er sich nach was Neuem umsah. So erfuhr er binnen einer halben Stunde, dass der rote Feuerlöscher im Bus eine schäumende Flüssigkeit enthielt, die Kästen in der Straßenbahn, in die sie dann umstiegen, mit Sand gefüllt waren und die glänzenden Apparate vor den Bäuchen der Schaffner mit allerlei Münzen.“
Vor allem aber interessieren ihn die Ursachen von Geräuschen. Und er will den Dingen auf den Grund gehen: „Sowie er einen Gegenstand entdeckte, der einen Laut von sich gab, übermannte ihn die Neugier, und er zerriss, verbog, zerschnitt oder zerbrach ihn, um dem Geräusch auf die Spur zu kommen. Es musste ein Zwerg darin verborgen sein, der brummte oder eine Glocke läutete, auf einem Kamm oder eine Pfeife blies! Sein Suchen wurde stets enttäuscht, er aber glaubte weiter an einen geheimnisvollen Zwerg. Eine Kindergeige, eine Trommel, ein kleines Akkordeon erlagen seinem Forschungsdrang, weil sie ihm den Zwerg vorenthielten, den er unbedingt finden wollte.“
Wegen dieser viele Gegenstände zerstörenden Neugier bekommt er zu seinem vierten Geburtstag kein Spielzeug. Aber dann steht eines Tages ein Spielzeugelefant vor seinem Bett: „Grau und groß stand der Elefant im Licht der Morgensonne unterm Fenster. Er schwang sich auf seinen Rücken wie auf ein Pony und presste die Schenkel zusammen. Da quiekte es laut. Er ritt den Elefanten vom Fenster zum Bett, und wieder presste er die Schenkel zusammen. Und wieder quiekte es. Er horchte auf. Er stieg ab, hockte sich neben den Elefanten, betrachtete ihn rundum und knuffte ihn. Kein Laut war zu hören. Erst als er wieder aufstieg und mit den Schenkeln presste, quiekte es erneut - einmal, zweimal, dreimal ...“
Faszinierende Facetten eines bewegten Lebens, das der Autor der „Welt des Markus Epstein“ in diesem erstmals 2004 bei ddp goldenbogen Dresden erschienenen Buches ausbreitet.
Walter Kaufmann, der eigentlich Jizchak Schmeidler heißt und am 19. Januar 1924 in Berlin geboren wurde, ist ein deutsch-australischer Schriftsteller. Der in Duisburg aufgewachsene Adoptivsohn eines jüdischen Anwaltsehepaars hatte als 14-Jähriger mit einem Kindertransport über die Niederlande nach Großbritannien fliehen können und wurde so vom Schicksal seiner im KZ Auschwitz ermordeten Adoptiveltern verschont. Mit 15 als „feindlicher Ausländer“ nach Australien deportiert, musste er sich dort ganz auf sich allein gestellt seinen Lebensunterhalt verdienen – als Obstpflücker, Landarbeiter, Straßenfotograf, Werftarbeiter sowie als Arbeiter im Schlachthof, als Freiwilliger in der Australischen Armee und als Seemann. 1953 erschien in Melbourne sein erster Roman „Voices in the storm“. Ihm folgten seit seiner Übersiedlung in die DDR 1957 mehr als 30 Bücher. Deren Mehrzahl hat Kaufmann, der noch immer die australische Staatsbürgerschaft besitzt, in englischer Sprache geschrieben, anschließend selbst übersetzt oder übersetzen lassen. Sein bewegtes Leben als jüdischer Emigrant, seine Reisen als Seemann, sein Leben in Australien und die Ereignisse im faschistischen Deutschland thematisierte der Autor in vielen seiner Romane, Erzählungen in der Tradition der amerikanischen Short Story und Reportagen.
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