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Ihr wilder Mut. Erzählungen von Heinz Kruschel
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
21.10.2014
ISBN:
978-3-95655-100-0 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 204 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Kurzgeschichten, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Politik, Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Familienleben
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories, Kriegsromane, Familienleben, Liebesromane, 20. Jahrhundert (1900 bis 1999 n. Chr.)
Faschismus, Liebe, Schülerliebe, Ausreißer, Weihnachten, Schach, Tierliebe
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Sie muss absteigen und das Rad über die Gleise heben, und da sieht sie, dass auf einer Schiene ein großer Rabe sitzt, der vor ihr nicht einmal auffliegt, obwohl sie auf seiner Höhe ist. Sie kann gut seinen kleinen Federbart unter dem Kinn erkennen. Er wirkt kräftig und stolz, aber er scheint aufgeregt zu sein. Die alte Frau wundert sich, denn der Rabe droht ihr sogar klangvoll und frech. Das interessiert sie nun doch, obwohl die Gäste in der Pension bald zum Frühstück aus ihren Zimmern kommen werden und zu dieser Zeit die frischen Brötchen und Wurst auf den Tischen liegen müssen. Sie entdeckt über den Rand der Schiene den Kopf einer Stockente. Der Rabe könnte, obwohl das ungewöhnlich wäre, die Ente bedrohen, und darum legt die alte Frau das Fahrrad an den Hang und kraxelt seufzend den Bahndamm hinauf. Sie will wissen, was da vor sich geht. Solchen Rätseln ging sie schon immer auf den Grund.

Aber über den Anblick, der sich ihr bietet, muss sie schmunzeln, so rührend ist er. Da laufen zwischen den Schienen sieben verschreckte Küken, winzig klein, wie eben erst aus den Eiern geschlüpft. Die Entenmutter lockt, sie sollen endlich über die Schienen kommen, aber sie sind so klein, so winzig, und die Aufgabe ist viel zu schwer für sie. Da hilft es auch nicht, dass sie einige Male den Weg vormacht. Der Kolkrabe hält seinen Platz, er sitzt da wie ein Raubritter auf der Lauer, dem die Beute sicher ist.

Der alten Frau ist klar, dass sie da helfen muss, obwohl in der Pension die Wirtin unruhig werden wird. Sie rafft ihre blauleinene Schürze, um die Vögelchen aufzunehmen.

Aber die Entenmutter schnattert mit ihrem Löffelschnabel gegen sie an. Die alte Frau lässt die Schürze fallen, breitet begütigend die Arme aus und geht langsam auf dem Schotterbett den Kleinen entgegen. Der Entenmutter schwant etwas, sie setzt über das Gleis und lockt von jenseits des großen Hindernisses. Die Kleinen wollen ja folgen, sie wollen ja gehorchen und versuchen es wieder und wieder mit ihren kurzen, stummligen Flügelchen, die wie verkümmerte Arme wirken.

Ach, Gott, nun macht schon, ihr Krümelchen, ihr Wollknäuel. Es rührt die alte Frau, wie sie sich mühen, die Krümelchen, aber mit ihren Sprüngen erreichen sie nicht mal die Oberkante einer Schiene. Die Entenmutter schimpft und setzt wieder zurück, hin zu den Kleinen. Sie gibt nicht auf.

Noch immer harrt der dicke Rabe belustigt aus, diese Beute wird ihm nicht entkommen. Nun breitet die Entenmutter ergeben ihre Fittiche weit aus. Aber diesmal scheinen die Küken das Signal nicht zu begreifen, das da lautet: Kommt, verkriecht euch, hier bei mir ist Sicherheit für alle meine Kinderchen. Sie schlüpfen nicht unter das Federkleid. Vielleicht wissen sie, dass dieser Schutz heute nicht ausreichen könnte.

Vielleicht sind sie auch zu aufgeregt, sie wieseln, sie huschen, sie piepsen, sie stolpern, und sie purzeln übereinander. Und das nervöse Entenquaken ihrer Mutter verunsichert sie noch mehr.

Die alte Frau weiß aber neben dem Kolkraben noch um eine andere Gefahr. In wenigen Minuten muss der Frühzug aus der Stadt vorbeifahren. Natürlich könnten sich die Kleinen zwischen die Schwellen ducken, aber weiß man so genau, ob sie das schon tun werden. Der Rücken schmerzt der alten Frau.

Sie könnte den schrägen Hang hinunterrutschen, bis zu ihrem Rad, sie könnte aufgeben, aber das kommt ihr nicht in den Sinn. Sie sieht hinunter auf den schmalen Wanderweg, der am Schloss vorbeiführt, aber noch steht auf dem Weg nicht die bunte Tafel, auf der die Ausstellung des Malers angekündigt ist, noch steht da kein Stuhl, noch ist die rote Baskenmütze des Malers, der eine Urmutter kennt, nicht zu sehen, aber weit und breit auch kein anderer, der helfen könnte.

Die alte Frau gibt sich einen Ruck und greift energisch mit beiden Händen nach dem zwitschernden Volk, erwischt die Küklein und schaufelt erst drei, dann zwei und endlich die letzten über den Rand der Schiene.

Sie überschlagen sich, kommen aber alle auf der anderen Seite an, von der Entenmutter sehnsüchtig erwartet. Sofort watschelt sie mit ihrem Kindertross in Richtung See davon. Dabei sieht sie sich nicht einmal um, ob auch alle folgen, wohl weil sie weiß, dass sie den Gänsemarsch schon beherrschen. Ganz eifrig marschieren sie und halten das Tempo, das die Mutter vorlegt. Sie müssen sich auch beeilen, denn der Kolkrabe ist noch da. Er fliegt jetzt kräftig und gewandt auf und zieht lüstern seine Kreise. Er kann gut verfolgen, wohin die Entenfamilie läuft.

Die alte Frau klaubt aus dem Schotterbett einen kantigen Stein und wirft ihn dem Vogel nach, aber natürlich hat sie in ihrem Alter nicht mehr die Kraft, so weit zu werfen. Der Rabe setzt sich auf den steinernen Wächtergreif des Torbogens, der den Drachen abwehrt.

Hoch vom Turm der Bergkirche schlägt es sieben Uhr, und die Halbschranke beginnt sich ruckartig zu schließen. Es wird Zeit für die alte Frau. Noch drückt sie kein Schrecken. Aber sie atmet hastig, und ihr Herz schlägt schmerzhaft gegen die Rippen. Sie will sich einen kleinen Moment auf die Schienen setzen, nur einen kleinen Moment.

Sie sieht die hellen Sterne der Miere und die gelben Hundeblumen und am Seitenhang eine goldene Königskerze, so hoch wie die drei Zepter, die oben auf dem Grab stehen, und da meint sie, aus der Ferne eine Stimme zu hören, einen Gesang: „Komm in meinen Garten, du Braut mein, ich will dich erwarten“, leise sehr fern und ganz klar, und natürlich sieht sie auch noch den rötlichen Knöterich.

Sie kennt sich aus in Blumen und pflegt den großen Garten der Pensionswirtin. Alle Urlauber erfreuen sich an den vielen Blumen. In einem zweiten Leben würde die alte Frau eine Gärtnerin werden wollen.

Als sie den Zug hört, meint sie, nicht aufstehen zu können. Sie versucht es, aber ihr Körper kann sich weder beugen noch strecken. Der Kolkrabe segelt in das große Gebüsch vor dem Ufer, und ihr wird sofort klar, dass die Enten es nur bis dorthin geschafft haben könnten. Den See müssen sie noch nicht erreicht haben.

Immer noch hockend, greift sie wieder einen Stein mit ihrem schwachen Arm und spürt schon im Schwung, wie das Herz reißt. -

 

Ihr wilder Mut. Erzählungen von Heinz Kruschel: TextAuszug