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Legende Lövenix. Ein ungesicherter Bericht über die Liebe und anderes Merkwürdige im Leben des Gottfried Wilhelm Leibniz von Manfred Richter
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
25.08.2012
ISBN:
978-3-86394-771-2 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 543 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Biografisch, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Liebesroman/Allgemein, Belletristik/Politik, Biografie & Autobiografie / Wissenschaft & Technik
Biografien: Wissenschaft, Technologie und Medizin, Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Liebesromane, Biografischer Roman
Gottfried Wilhelm Leibniz, Differentialrechnung, Integralrechnung, Mathematiker, Ludwig XIV., Königin Sophie Charlotte von Preußen, Papst Innozenz XI., Leeuwenhoeck, Zar Peter I., Descartes
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Plötzlich hielten wir unvermittelt an. Wir hörten den Kutscher fluchen. Ich riss den Wagenschlag auf und blinzelte in das Schneetreiben. Vor dem Wagen taumelte mit weit ausgebreiteten Armen eine Gestalt auf uns zu. Der Fuhrmann donnerte: "Bleib stehen, Kerl, oder...!" Ehe er seine Drohung aussprechen konnte, brach der Fremde dicht vor den unruhigen Pferden zusammen.

Philipp sprang an mir vorbei aus dem Wagen und eilte auf ihn zu. Schönborn und ich, mehr in Sorge um den jungen Boineburg als um den Menschen, folgten ihm. Da lag mit angezogenen Knien ein junger Mann, Hemd und Hände waren voller Blut. Seine Beine scharrten im Schnee und Straßendreck, als wollte er noch immer laufen. Ich beugte mich zu ihm hinunter, weil ich glaubte, sein Gesicht zu kennen. Auch er blickte mich an und, wahrhaftig, er grinste mir zu. Gleich darauf schoss ihm ein Schwall Blut aus dem Mund, seine Glieder streckten sich und er war tot.

Der Kutscher hatte sich nicht vom Bock herunter bewegt und rief jetzt drängend: "Weg mit ihm, in den Graben! Und dann fort!"

Hinter den hohen Fichten am Wegrand stand ein Birkenwäldchen in hellen Flammen. Die weißen Baumstämme lohten glutrot im Widerschein. In das Rauschen des Windes, der uns beizenden Qualm ins Gesicht trieb, mischte sich peitschendes Krachen, wenn das Feuer ins Holz biss.

Von einer bösen Ahnung getrieben, stürzte ich auf die Lichtung zu. Schönborn rief mit unterdrückter Stimme: "Leibniz! Seid Ihr verrückt?... Leibniz!"

Auf der Lichtung brannten die Wagen jener Zigeuner, bei denen ich eine Sommernacht verbracht hatte. Überall lagen dunkle Gestalten, reglos, mit durchschnittenen Kehlen oder eingeschlagenen Schädeln. Philipp und Schönborn waren mir nachgeeilt. Nahe der brennenden Wagen, die eine Höllenhitze verbreiteten, entdeckten wir die toten Kinder und bei ihnen die Frauen mit nackten, weit gespreizten Beinen. Der beizende Qualm trieb uns Tränen in die Augen. Wir irrten stumm umher, suchten vergeblich nach Lebenden und zerrten den Frauen die Röcke über die entblößten Beine. Philipp stolperte über die zerbrochene Quintera. Ihm wurde schlecht, und er kauerte sich mit abgewandtem Gesicht gegen einen Baumstamm.

Der dick eingemummte Kutscher kam von der Chaussee her. Er zog eine Flasche aus der Manteltasche, nahm einen kräftigen Schluck und raunzte: "Zigeuner, na ja. Scheußlich!" Er blickte sich ängstlich um. "Das waren Marodeure, Soldaten oder Bauern, weiß der Teufel, die können überall stecken. Ihr solltet jetzt einsteigen. Ich mach' mich davon!"

Auf dem Weg zu unserem Wagen entdeckten wir unter einer Brombeerhecke den Leichnam des alten Schnauzbartes. Er lag in einer schwarzen Blutlache. Seine Mörder hatten ihm mit dem Messer ein Kreuz in die Brust geschnitten und ihm beide Hände abgeschlagen. Ich schloss ihm die weit aufgerissenen Augen, mehr konnte ich nicht tun.

Wir rasteten nicht, wie eigentlich vorgesehen, in Blendecques, sondern fuhren durch die von Schneestürmen gepeitschte Nacht und trafen im Morgengrauen übermüdet und mit völlig erschöpften Pferden in Calais ein.

 

Der Alte schweigt lange, fragt endlich zu Eckhart hin: " Was hat die Menschen so gegen einander verschworen? Das möchte ich wissen. Dieser Mann konnte lachen und saufen und pissen und hatte eine Seele und war ein Gefäß aus Gedanken, Gefühlen und Kraft."

"Immerhin!", entgegnet Eckhart, "Immerhin haben sie Euch das Pferd gestohlen. Und wer weiß..."

Der Alte unterbricht zornig: " Wer weiß, wer weiß! Und die Kinder, die Weiber?" Er greift nach seinem Krückstock. Eckhart denkt schon, er will sich erheben, und springt hinzu. Aber der Alte, außer sich, hebt den Stock, fuchtelt mit ihm vor Eckhart herum: "Gedankenloses Pack!" Er lässt sich zurückfallen, beruhigt sich allmählich und weist mit der Krücke zum Kamin. "Leg nach! Bitte!"

Eckhart schürt in der Glut, wirft Holzscheite auf. Hinter ihm flüstert der Alte: "Alle menschliche Erfahrung ist die Summe unendlicher Leiden. Was ist das, Stockfisch - haben wir unser Leben mit Hoffnungen vergeudet?"

Eckhart wischt die Hände an seinen Rockschößen ab, gibt keine Antwort, fragt aber: "Wollt Ihr trinken?"

Der Alte winkt ab. " Wo stehen wir?"

"Calais, Ihr seid in Calais."

"Calais, ja, so. Merkwürdig, ich stand zum ersten Mal am Rand des Meeres. Mir war, als stünde ich am Saum des Universums und zugleich in seinem Zentrum.

 

Legende Lövenix. Ein ungesicherter Bericht über die Liebe und anderes Merkwürdige im Leben des Gottfried Wilhelm Leibniz von Manfred Richter: TextAuszug