Ein Kerl wie ein Kleiderschrank, Mama als Rosenmontagspfannkuchen und die drei Leben des Josef - Sechs E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 28.12. 2018) Braucht es eigentlich Helden oder nicht? Und was heißt es, sich als Held oder als Heldin zu verhalten? Kann man „Held-sein“ auch lernen? Einige spannende Antworten auf diese Frage gibt der erste der insgesamt sechs Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 28.12.18 – Freitag, 04.01.19) zum Sonderpreis zu haben sind. Und schon in seinem Titel „Heldenberichte“ legt das Buch von Erik Neutsch nahe, dass er sich damit beschäftigt, was wann und wie man tun kann und muss, um Außergewöhnliches zu leisten – eben Heldenhaftes. Und nicht immer übrigens findet so ein Held oder eine Heldin von Anfang an Anklang bei seinen Mitmenschen und Zeitgenossen. Selbst rein sprachlich spiegelt sich das in Begriffen wider wie „einsamer Held“ oder „trauriger Held“ …
Auch die Hauptfigur von „Knöpfchen und der Mann mit der Mütze“ von Siegfried Maaß taugt zum Helden und zum Diskutieren von „Heldischen Eigenschaften“ – in diesem Falle geht es um Freundschaft und Verlässlichkeit. Und um Anlagen, Geldanlagen …
Eine Einladung ganz anderer Art spricht dagegen der Arzt Thomas Luthardt mit seinem Gedichtband „ASSISTENZ“ aus, eine Einladung zu einer poetischen Sprechstunde.
Wieder mit einem Helden im eigentlichen Sinne haben wir es in der „Trauergesellschaft“ von Rainer Lindow zu tun, und seinem Josef, dem Zimmermann, zu tun, der sein Leben in drei Zeiten einteilt …
Ganz märchenhaft geht es (wie auch sonst) in den sehr lesenswerten „Märchen von den Hügeln“ von Waldtraut Lewin und Miriam Margraf zu. Wir haben einen extra langen Auszug aus dem Gespräch von seiner Exzellenz und einem ihrer Besucher ausgewählt, der eine konkrete Absicht hat und Überraschendes erfährt. Und der geneigte Leser und die geneigte Leserin dürfen sich köstlich amüsieren bei dieser Begegnung mit den zauberhaften Einfällen der beiden Autorinnen. Nehmen Sie sich unbedingt Zeit dafür, rät der Newsletter-Redakteur, der übrigens auch mindestens einen starken guten Vorsatz unter manch anderen gefasst hat – Lewin lesen! (oder auch: Lewin lesen lohnt sich!)
Und ehe wir nun wieder zu den „Heldenberichten“ von Erik Neutsch vom Anfang dieses Newsletters zurückkehren, soll der Hinweis auf den sechsten und letzten Deal der Woche nicht fehlen – zu einem noch mal preiswerteren Preis. Mehr dazu am Ende der heutigen Angebotsliste. Und jetzt endlich zu Neutsch und damit auch zu Jürgen Ulrich Kauffmann. Nie gehört von dem Mann? Abwarten. Gleich klärt sich manches auf.
Erstmals 1976 erschien im Gewerkschaftsverlag Tribüne Berlin de Band „Heldenberichte. Erzählungen und kurze Prosa“ von Erik Neutsch: Seine bisherigen Erzählungen und seine kurze Prosa - darunter die Zyklen „Die anderen und ich“ und „Bitterfelder Geschichten“ fasst Erik Neutsch in diesem Band zusammen. Sie alle ergeben die Vielfalt im Heldenbild des Autors, die jede Kanonisierung eines abstrakten schematischen Heldenbegriffes ausschließt. Arbeiter sind es vor allem, die Neutsch in den Mittelpunkt seiner Geschichten rückt, oder Vertreter solcher Schichten, die mit der Arbeiterklasse gehen. Eine illustre Palette von Heldengestalten bietet sich dem Leser dar: große und kleine, historische wie zeitgenössische, durchschnittliche wie außergewöhnliche. Neben Werktätigen, die vorbildliche Produktionstaten vollbringen, neben Intellektuellen und Bauern steht der NVA-Pilot, der eine Stadt vor der Katastrophe rettet und dabei, wie er selbst memoriert, bei seiner Arbeit verunglückt. Und jetzt kommt auch der eben erwähnte Jürgen Ulrich Kauffmann ins Spiel:
„Die anderen und ich
Jukker. Soll das Jukker sein? Nach zwanzig Jahren bekäme man wieder was zu Gesicht von ihm, ein J. U. K. wie damals in einer Zeitung. Wir nannten ihn daraufhin Jukker. Oder Jucker. Ich habe das Wort nie geschrieben gesehen, bis zu diesem Augenblick jedenfalls nicht, da ich es selbst niederschreibe. J.U.K. Jürgen Ulrich Kauffmann. Ob Arno, der vor meinem Fenster den Kalk mischt und karrt, weiß, ahnt, sich Gedanken darüber machen würde, wenn er wüßte, wer, besser: was Jukker ist? Worin das Problem bei Jukker besteht? Natürlich nicht. Neulich fragte er mich, ob ich mir denken könne, warum er säuft. Nein. Saufen ist dumm, sagte ich, wiederholte die Sprüche Sonjas, Saufen macht immer dümmer. Geh lieber schwimmen oder wenigstens angeln. Leb gesund.
Isch will meine Frau loschwerden, sagte er. Gründe gibt’s. Die anderen treiben ihn mit lauten Zurufen an. Du hast den Kalk nicht richtig gemischt. Eine Plempe. Du hast wieder zuviel gesoffen. Deshalb ist uns die Mauer abgesackt. Nun flucht er.
Also: Jukker. Sie waren alle von uns umgetauft worden. Der Direktor hieß Kater, der Lateinlehrer Piccard, der Mathematiklehrer Metze. Oder war das sein richtiger Name? Er verschwand als erster, kurz nach unserem Abitur, aber das störte mich nicht, er hatte ohnehin nur Zahlen im Kopfe gehabt, andauernd die Preise verglichen, ich nahm es zur Kenntnis wie den selbstverständlichen Wechsel von Tag und Nacht.
Eines Tages kam Jukker in die Toilette für Jungen, sah uns rauchen, klappte den Deckel eines silbernen Etuis mit mächtigem Monogramm darauf auf, J. U. K., stellte sich hinzu, rauchte und sagte: Warum versteckt ihr euch hier? Machen wir FDJ-Versammlung, machen wir einen Beschluß über das Rauchen, dafür oder dagegen. Wir beschlossen, über die Gegenstimmen unserer paar blassen Mädchen hinweg, in Zukunft ab elfte Klasse auf dem Schulhof zu rauchen, uns nicht mehr ins Pissoir zu verkriechen, eine Zigarette soll nach der Denkarbeit eine Erholung sein. Die Stadt hatte zwar ihr Gesprächsthema, das soll nun die neue Erziehung sein, sagten die Leute, die kurz vor dem Zaun auf die Straßenbahn warteten, aber wir gingen seitdem für Jukker durchs Feuer, diejenigen jedenfalls, denen zum ersten Mal gelungen war, einen FDJ-Beschluß zur Verhaltensnorm an dem altehrwürdigen Gymnasium zu machen. Die Wände schienen zu wackeln.
In einer der nächsten Stunden sagte ich ihm: Das ist doch ganz egal, wie die Wirklichkeit ist, wie der Flieder zum Beispiel blüht. Lila ist sowieso keine Farbe. Wenn ich ihn male, mal ich ihn blau, himmelblau, und den Himmel dahinter, steht mir der Sinn danach, grün. Kunst kommt von innen heraus, nicht von außen. Er lachte sich halbkrank, ging vor den Bänken auf und ab, die wir in seinem Unterricht stets zu einem Halbkreis formierten, und hielt uns einen Vortrag über Erkenntnistheorie. Es war das erste Mal, daß ich darüber etwas erfuhr, Marx und Engels, Hegel und Kant und wieso das ein dialektischer Umschlag von einer alten Qualität in eine neue sei, wenn das Wasser bei hundert Grad Celsius zu verdampfen beginnt. Ich sagte es später dem Physiklehrer, machte mich trotz der warnenden Rippenstöße von Hans-Helmut Kassbaum, Sonjas Bruder, zum Sprecher Jukkers, stritt mich, erhielt daraufhin eine Vier, denn der Physiklehrer sah meine Aufklärungsattacke nicht ein und antwortete: Quatsch, das ist Physik, und unterlassen Sie gefälligst Ihre politischen Extratouren, wenigstens in der schönen Natur exakter Wissenschaften.
Da saß ich nun da mit dickem Kopf, Physik war nicht mein Paradefach, ich benötigte darin dringend eine Aufbesserung meiner Zensuren, ärgerte mich über den Reinfall und sann nach über Jukker, wohl nicht anders als jetzt, allerdings damals ohne den Abstand von zwanzig Jahren und auch nicht vor einem Fenster, durch das der Flieder duftet, der himmelblaue natürlich. Ich starre auf dieses J. U. K., denk mir mein Teil und höre die Maurer fluchen, Hannes und Arno, Erich und Paul, die eine fünfzöllige Wand, die gestern eingestürzt ist, wieder aufzubauen versuchen, diesmal jedoch im Zehnerzoll. Sieh mal, sagt Erich, im Keller die Schwalben.
Soeben war Kassbaum bei mir. Er warf mir die Zeitung vom letzten Sonnabend, in der eine Reportage von mir veröffentlicht ist, auf den Tisch und sprach — Kassbaum spricht immer —, sprach: Drei Telefonanrufe, sechs Briefe, alles Proteste, einer sogar eigenhändig von deinem Helden darunter... Von ihm ? Glaub ich dir nicht. Zeig her. Hab ihn leider vergessen. Und wennschon. War denn vonnöten, daß du von Stepan schreibst, er habe dem Donnergott auf die Hände treten wollen? Vonnöten? Laß deine Stilallüren. Auf die Hände, Menschenskind, in den Hintern vielleicht, ja, aber nicht auf die Hände, auf die Arbeitssymbole... Ich sah ihn entmutigt oder so ähnlich an; wehrte mich: Die Handarbeit wird nach und nach abgeschafft. Er lächelte überlegen: Das wird ohnehin nicht gedruckt.
Nicht gedruckt? Ja. Und dann legte er noch die andere Zeitung hinzu, die mit dem J. U. K. auf einer der Innenseiten, und sagte: Hier, ich hab dir was mitgebracht. Erinnerst du dich noch an Jukker? Lies mal. Das ist aus ihm geworden. Jukker interessiert mich jetzt einen Dreck, Helmut. Fest steht jedenfalls, Stepan wollte dem Mann nicht nur auf die Hände treten. Er hat’s getan, begreifst du, er tat es. Versetz dich doch mal in seine Lage.
Kassbaum schüttelte den Kopf, hob die Augen zur Decke, stöhnte. Unverbesserlich. Deine Sturheit. Der Flieder ist himmelblau, wenn du es willst. Reiner Stepan ist sozusagen der Held der Reportage, einer, den man einen Schrittmacher nennen könnte, Parteimitglied, Hundertschaftskommandeur, Meister inzwischen, ein Kerl wie ein Kleiderschrank. So steht’s in der Zeitung vom Sonnabend, geschrieben von mir, auch mit dem Klischee am Ende, das ich natürlich ändern werde, bevor meine Reportage in den Druck geht, streichen, einfach weglassen, streichen, und dann steht darin noch: Als sich der Donnergott vor ihm hinkniete, ihm mit ein paar Handgriffen zeigte, wie man die doppelte Menge Stahlplatten in derselben Zeit, die man früher zum Schweißen brauchte, mit dem neuartigen Stoff kleben konnte, schoß Stepan das Blut unter die Haut, und er dachte im ersten Augenblick: Tritt zu, tritt ihm auf die Hände, er vermiest dir dein Ansehen bei sämtlichen Schweißern.
Das war doch schöngefärbt, so schön wie Jukker die Welt gefärbt hatte, die Welt, die nun nicht mehr die seine ist.
Paul, hör ich von draußen, sagt: Mal sehn, wer wohl früher fertig ist, Hannes, die Schwalben mit ihrem Nest oder wir. Und Hannes beschimpft wieder Arno: Deine ewige Sauferei, ich hau dir die Flaschen ins Kreuz, wenn du uns wieder die Mischung verdirbst. Ich weiß, daß die Schwalben vorgestern im Keller zu bauen begonnen haben. Ich sah ihre roten Kehlen, ihre steilen Flüge, das Flattern und Schnäbeln, die Kopula. Und dann stürzten sie sich von den hohen Bäumen herab auf die Erde und sammelten Stroh ein. Ich schlich ihnen nach. Die ersten Halme klebten bereits an der Wand. Doch wo sie die Nacht verbringen, sagte ich Sonja, weiß ich nicht.
Auch Jukker ist für mich ein Problem. Wir, Kassbaum und ich und die anderen, hatten dergleichen, einen wie ihn, noch nicht erlebt. Der alte Geschichtslehrer war abgelöst worden, ein Jahr vor unserem Abitur, und ihm folgte Jukker. Lehrbücher hatten wir keine, die alten waren eingestampft worden, die neuen noch nicht gedruckt. Jukker legte Broschüren mit roten Umschlägen auf den Tisch, dazu einen Packen Zettel mit Daten und Stichpunkten und später, als er regelmäßig unter dem Zeichen J. U. K. in der Zeitung veröffentlichte, auch seine Artikel, „Lehrbriefe über dialektischen und historischen Materialismus“. Nun los, ihr Analphabeten, was den Marxismus betrifft, nun studiert mal. Das Kommunistische Manifest, aus seiner Privatbibliothek, ging von Hand zu Hand. Manche lasen es nur, um sich nicht die Zensur zu verderben, wir jedoch nicht, Kassbaum nicht, ich nicht. Wir drei, Jukker und er und ich, bildeten bald die engere Leitung, das Triumvirat der FDJ an der Schule, ließen uns wählen, keinen anderen, Jukker schaffte auch das, im Kollegium, bei den Schülern. Er redete, ließ andere reden, redete wieder, niemand war ihm gewachsen. Dank seiner Geschicklichkeit waren wir ein gut funktionierendes Parlament. Er ließ sogar abstimmen, wußte aber genau, glaube ich heute, wann er es wagen konnte, denn nie vereinigte er so viele Stimmen gegen sich, als nötig gewesen wären, einen Vorschlag oder gar einen Beschluß, den er durchsetzen wollte, zu verhindern. Anschließend nahm er uns beide dann in die Lehre und erklärte: Es gehe um die Frage Wer — wen? Auch an unserer Penne, und wir lassen uns nicht die Macht nehmen von Leuten, die unwissend sind, die nicht einmal die exakte Wissenschaft vom Klassenkampf in Deutschland begriffen haben. Wer — wen? Seit Thomas Müntzer. Auch das leuchtete uns ein. Engels’ Bauernkrieg zählte inzwischen ebenfalls zu unserer Lektüre. Das Buch steht noch in meinem Schrank, das Eigentum Jukkers, ich hab es ihm nie zurückgegeben.
So wurden wir klüger. Zeitiger schon als Männer wie Stepan. Das verdanke ich Jukker. Stepan muß noch reichlich unwissend gewesen sein, als er dem Donnergott auf die Hände trat, ja, das ist die Wahrheit, er hat es nicht nur gedacht, er hat es getan, er trat, und ich habe es nur verschwiegen, hab es zurückgenommen, versimpelt in dies: Schoß Stepan das Blut unter die Haut, und er dachte im ersten Augenblick: Tritt zu. Und warum nahm ich’s zurück? Hatte ich schon einkalkuliert: Es wird nicht gedruckt? Als Stepan das dachte, nein, als er es tat, schrieben wir noch das Jahr neunzehnhundertundsechzig. Da kam der Donnergott auf ihn zu, ein Parteiinstrukteur, den sie genauso umgetauft hatten wie wir damals unsere Lehrer. Es war im Walzwerk, wo Stepan heute Meister ist, Hundertschaftskommandeur, doch das spielt keine Rolle — nicht: welche Funktion hat einer, sondern: was für ein Mensch ist der Mensch—, wo Stepan heute die Stahlplatten nicht mehr schweißt, sondern klebt, Stepan, ein Kerl wie ein Kleiderschrank.“
Erstmals 2012 ließ Siegfried Maaß im damals noch existierenden Projekte-Verlag Cornelius GmbH Halle sein Buch „Knöpfchen und der Mann mit der Mütze“ veröffentlichen: Matthias, Knöpfchen genannt, möchte seiner Mama nicht noch einmal wehtun, indem er deren neuen Freund vergrault. Robert und Jenny sind dicke Freunde, die sich nicht von der Clique und ihrem Anführer negativ beeinflussen lassen. Marco erweist sich als Rudis wahrer Freund, als dessen Eltern bei einem Erdrutsch ihr Haus verlieren. In drei Kurzgeschichten für Kinder und Erwachsene erzählt Siegfried Maaß von konfliktreichen Situationen, in denen sich Kinder bewähren müssen. Der Autor gibt damit unaufdringliche Beispiele von Freundschaft und Verlässlichkeit. Hören wir Knöpfchen einfach zu:
„Knöpfchen und der Mann mit der Mütze
An einem Nachmittag im Frühling wollte ich meine Mama von der Arbeit abholen. Sie ist in der Sparkasse beschäftigt und muss die Leute - Kunden, sagt sie dazu — beraten, wie sie am besten ihr Geld anlegen können, damit es im Lauf der Zeit immer mehr wird, ohne dass sie etwas dafür tun müssen.
Als sie sagte, dass man Geld „anlegen“ kann, habe ich zuerst an Spielkarten gedacht, die man anlegt, nämlich eine an die andere, und wer zuerst keine mehr in der Hand hält, hat gewonnen. Genauso wie beim Rommé, zu dem wir abends immer zusammensitzen, wenn Oma bei uns ist. Aber dann fange ich jedes Mal rechtzeitig zu gähnen an und vergesse, die Hand vor den Mund zu halten. Mama und Oma wissen dann, dass ich schon sehr müde bin und darum nicht lange Karten spielen kann. Außerdem regt sich Oma immer auf, wenn ich die Hand nicht vor den Mund halte, und macht Mama Vorwürfe, weil sie mich nicht gut erzogen hat. Für Oma ist Mama immer noch das Kind. Danach tut mir Mama jedes Mal leid und zum Ausgleich gähne ich darum noch einmal und benehme mich diesmal gut erzogen.
Aber dann musste ich lernen, dass es bei Geld umgekehrt als beim Kartenspiel ist: Es gewinnt, wer später mehr hat als am Anfang, als er mit dem Anlegen begann. Das hat sie mir erklärt und gemeint, damit könnte ich mir aber noch Zeit lassen. Wenn es so weit wäre, würde sie mich genau wie ihre Kunden gut beraten. Nur bei sich selbst scheint ihr das Beraten nicht so gut zu gelingen. Jedes Mal, wenn ich ganz bestimmte Sachen haben möchte, stöhnt sie und fragt, ob es denn nicht auch solche sein könnten, die nicht so teuer sind. Manchmal kann ich sie dann überzeugen, dass es ausgerechnet diese ganz bestimmten Markenschuhe sein müssten oder die besonderen Jeans, weil die anderen sie auch haben. Dann beginnt sie immer zu rechnen, bis sie endlich ihr „Okay!“ sagt und ihren Laptop schließt, ehe ich einen Blick auf den Bildschirm werfen kann. Darin verbirgt sie all ihre kleinen Geheimnisse vor mir. Auch ihre Geldangelegenheiten.
Ebenso wie ich selbst manches für mich behalte. Ich muss aber dafür nichts schließen oder ausschalten, sondern einfach nur den Mund halten und aufpassen, dass mir nicht ein Wort über die Lippen kommt, das mein kleines Geheimnis verrät. Zum Beispiel, dass ich mir ausgedacht habe, sie heute von der Arbeit abzuholen. Sie hat nämlich Geburtstag und ich habe zu Hause schon den Kaffeetisch vorbereitet. Sogar an das gute Geschirr habe ich mich herangewagt, das ich nicht anfassen soll, weil es ein Erbstück von Oma und darum als ewiges Andenken sehr wertvoll ist. Oma selbst achtet darauf, dass wir das „gute Stück“ immer gut behandeln. Wenn es nach ihr ginge, müsste es wie im Museum in einer Glasvitrine stehen und sollte nicht berührt werden. Aber danach richtet sich Mama zum Glück nicht.
Das ist unser gemeinsames Geheimnis. Nur mir hat sie untersagt, es aus dem Schrank zu nehmen. Aber weil heute ein besonderer Anlass ist, habe ich getan, als hätte sie es mir nie verboten. Dafür habe ich mir einen Stuhl an den Wohnzimmerschrank gerückt, weil ich sonst nicht herangereicht hätte. Mit jedem Teil, das ich herausnahm, glaubte ich Omas Worte zu hören: Das gute Porzellan muss man behandeln wie ein rohes Ei! Darum war ich froh, als ich Tassen, Untertassen und Kuchenteller endlich auf dem Tisch stehen hatte.
Zum Glück hatte ich sie besser als rohe Eier behandelt. Von denen waren mir nämlich schon einige zu Bruch gegangen. In die Mitte hatte ich einen Topf mit Alpenveilchen gestellt. Dafür hatte ich zwei Wochen lang mein Taschengeld gespart. Nun brauchten wir nur noch den Kuchen zu kaufen und zum Schluss den Kaffee zu brühen. Das macht sie aber lieber selbst, weil sie es besser kann als ich. Mit brühheißem Wasser habe ich schon meine Erfahrungen gesammelt und einige wolkenartige Narben auf meinem linken Arm dazu.
Gern wäre ich jetzt in die Sparkasse hineingegangen, wagte es aber nicht. Wenn ich wenigstens den Schattenplatz neben dem Zeitungskiosk erwischt hätte! Aber dort hatte es sich bereits ein Mann bequem gemacht, dem es wohl in der Nachmittagssonne ebenso wenig gefiel wie mir. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Ich wusste aber nicht, wo ich ihn schon mal gesehen haben könnte. Trotz der Wärme trug er eine Mütze. Eine mit kurzem Schirm, unter der blonde Locken hervorragten und die seinen Kopf rund und klein aussehen ließ. Auch seine blaue Windjacke fiel an diesem Tag besonders auf. Alle anderen liefen kurzärmelig in Blusen oder Sporthemden umher. Genau wie ich selbst. In einem von meinen guten, die für besondere Tage bestimmt waren. Heute war so ein Tag. Hoffentlich denkt Mama gleich daran, dass sie Geburtstag hat, wenn sie mich sieht. Damit sie gar nicht erst auf den Gedanken kommt zu schimpfen.
Manchmal trafen sich unsere Blicke, die des Mannes mit der Mütze und meine. Dann wandte ich mich jedes Mal schnell ab und sah auf die bunten Zeitschriften an dem Kiosk. Ich war wütend auf mich selbst, weil ich zu feige war, in die Sparkasse hineinzugehen. Aber Mama hat es nicht gern. Sie sagt, sie würde sich dann von mir beobachtet fühlen und auch ihre Kolleginnen wollten nicht, dass ich sie durch die Glaswand anstarre. Da sitzen sie nämlich wie in einem gläsernen Käfig und können sich nicht einmal kratzen oder die Nase putzen, ohne dass ihnen dabei jemand zusieht. Ich wäre bestimmt nicht hineingegangen, um Mama oder die anderen Frauen anzustarren, sondern hätte mir gern noch einmal dieses Polizeiplakat angesehen, das man einen Steckbrief nennt. Es hängt gleich neben dem Eingang an einer Säule. Darauf ist ein Mann zu sehen, der von der Polizei gesucht wird, weil er eine Sparkasse überfallen und ausgeraubt hat. Mit einer Waffe in der Hand hat er die Angestellten gezwungen, alles Geld herauszugeben. Danach war er verschwunden, als hätte es ihn nicht gegeben. Seitdem wird er von der Polizei gesucht. Zum Fürchten sieht er auf dem Plakat aus. Unrasiert und mit ganz dünnen Brauen, als wären sie nur mit einem schwarzen Stift gemalt, wie ihn Mama manchmal benutzt, wenn sie am Abend etwas vorhat. Der Kopf des Gangsters ist ein großes Ei. So groß wünschte ich mir mal ein Schokoladenei zu Ostern.
Oft habe ich Angst, Mama könnte auf diese Weise mal etwas Schreckliches geschehen und ich könnte ihr dann nicht helfen. Ich würde jedoch alles versuchen, um sie zu befreien, wenn so ein Gangster sie fesseln und mit einer Pistole bedrohen sollte. Sie hat doch nur mich, seit sich mein Vater vor einigen Jahren aus dem Staub gemacht hat, wie Mama es nennt. Seitdem bin ich der Mann im Haus. Ich muss immer lachen, wenn ich mir vorstelle, wie ich selbst auf einem solchen Polizeiplakat aussehen würde. Und was dann darauf zu lesen wäre. Vielleicht dies: „Gesucht wird Matthias Knopf, genannt Knöpfchen. Klein und dunkelhaarig ... Noch keinen Bartwuchs. Ungefähres Alter: acht Jahre ... Aber das stimmt nicht, denn ich bin bereits zehn. Nur leider etwas kurz geraten. Das liegt in der Familie, sagt Mama. Mir zum Trost, aber auch, um zu erklären, dass es ganz natürlich ist, wenn es Große und Kleine gibt. Wegen der Luft. Damit jeder genug davon zum Atmen bekommt. Die oben und auch die unten. Sie lacht dabei und ich weiß darum, dass sie sich einen ihrer Späße damit erlaubt. Gerade das gefällt mir so an ihr. Mama behauptet von sich, mit zehn wäre sie noch rund wie ein Rosenmontagspfannkuchen gewesen. Man hätte sie nur an einen Abhang legen müssen und sie wäre gerollt und gerollt, ohne anhalten zu können.
Während sie das sagt, lacht sie wieder und streicht mir über mein Struwwelhaar. Aber mir ist gar nicht zum Lachen zumute. Wer weiß denn, wohin sie dann gerollt wäre? Vielleicht hätte man sie gar nicht wiedergefunden und sie wäre dann auch nicht meine Mama geworden? Daran will ich gar nicht denken! Eine andere Mama will ich nicht! Sagen kann ich das aber nicht, weil ich bestimmt nicht die richtigen Worte finde würde. Wenn ich jedoch Zeit und Lust habe, zeige ich es ihr. Dann versuche ich, ihr irgendeine Freude zu bereiten. Wie zum Beispiel heute, wenn sie schon den gedeckten Kaffeetisch vorfindet. Auf ihr Gesicht freue ich mich schon, seit ich vor der Sparkasse auf sie warte. Diese Überraschung wird bestimmt gleich die Müdigkeit aus ihrem Gesicht treiben, die immer erkennen lässt, dass die Arbeit in dem Glaskasten sehr anstrengend ist.“
Erstmals 1982 druckte der Mitteldeutsche Verlag Halle-Leipzig unter dem Titel „Assistenz“ Gedichte des Arztes Thomas Luthardt: ASSISTENZ - das ist die poetische Sprech-Stunde des Arztes Thomas Luthardt. Öffentlich und individuell zugleich, ein Gespräch ohne Arztgeheimnis. Prophylaxe und Therapie im lyrischen Wort. Verse als Test und Diagnose... Ein Arzt, der sich Zeit nimmt für uns.
ASSISTENZ - das Titelwort, in Schwebe gehaltener Doppelsinn von Beruf und Berufung; Arzt im Selbstversuch, dadurch wohl Vertrauensarzt.
ASSISTENZ - ein bemerkenswertes lyrisches Debüt; Freude am Wortspiel und am Phantastischen, sprachliche Präzision, besondere Subjektivität.
AN DIE WENIGER LEICHTE BEWEGUNG
gebunden, weiß ich wenig: zum Beispiel
vom Zugzwang der Vögel; denen
neide ich manchmal ihre traumhafte
Sicherheit:
Sie wissen, dass sie nie sahen: das Ziel,
den sie nie flogen: den Weg.
Wieder und wieder
überrascht uns ihr Aufbruch:
Eines Abends dann
schweigt unser Baum.
BÄUMEFÄLLEN
Früher Abend für Abend
verstummen die Vögel.
Waldher erschüttert die Ebenen
das Gekreisch der Sägen.
Zwischen Sonne und Stadt
hängt sommerlang Harzrauch.
JETZT MUSS ICH HERABSTEIGEN
zwischen Schatten und Jahren,
vom Schweren zum Leichten.
Jetzt hinter den Bergen
bereitet sich Herbst.
Alles vermengt sich und trennt sich.
Jetzt Beischlaf und Tod im Dunkel
unbeweglicher Häuser.
Ich verschließe den Sommer.
WO ICH WOHNE
(für bobrowski)
Am Gewand der vergessenen
Sprache wob hier der Litauer
Kommt darin
Auf uns:
Früh
Wieder das Käuzchen:
Schlaf
Unser verletzlichster Zustand
FRIEDRICHSHAGEN, AHORNALLEE
(mühsam zugeeignet)
Aus dem hinteren Fenster hier
In den Ahorn: Vaterflüche
Pflastern die Allee.
Weit
Reicht das Erinnern
Der Steine.
Funken springen unter blauen Hufen.
Immer noch.
NAHE LEUNA
Kleinstadtidyll: zerscherbter Zauber
zwischen muffigen Mauern;
an uns gelehnt, nicht zu stürzen.
Ich schiebe mich zwischen
ihre steinernen Schenkel.
Da ducken sich Dächer
unter Schlägen der Schlote,
tropft verschlafnes Geschwätz
von graphitglänzenden Lippen.
Zerdehnte Zeit zieht das Netz zu:
Verlorne Vergangenheit. Vergessene
Sprache.
Alle Straßen münden in Schweigen.
Ich schwimme wider den Strom.
OSTKREUZ, SIEBEN UHR FRÜH
Durch verschmierte Scheiben
gähnt der Tag. Ich
ertrink im Grau, das flutet
über Bahnsteige, Treppen.
Irgendwer schiebt einen Schirm
mir ins Kreuz, ein andrer
tritt mir keuchend auf die Zehen.
Fußbreitfern das Ziel:
die letzte Stufe...
Ich stolpere zwei Stufen rückwärts,
zum Fallen fehlt der Platz.“
Ebenfalls im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig erschien erstmals 1990 – und somit mit einer Verspätung von acht Jahren seit dem Abschluss des Manuskriptes von Rainer Lindow sein Opus Mangnus „Trauergesellschaft. Wie Josef der Zimmermann die Geschichte erlebte“: Wenn eine Idee zur Staatsdoktrin erstarrt und alles ausgrenzt und bekämpft, was ihr nicht dient, gerät sie früher oder später in eine Krise und kehrt sich gegen sich selbst. Im Herbst 1989 setzt ein Volk seine Regierung gewaltlos ab. Noch nie gab es in der deutschen Geschichte einen derartigen Vorgang. Dieses Buch, sieben Jahre davor geschrieben und von Verlagen der DDR aus politischen Gründen abgelehnt, berichtet mit tragikomischen, dokumentären und fantastischen Mitteln von den Ursachen, die das Volk auf die Straße brachten. Josef der Zimmermann ist einer aus der jungen Generation, der an den Lügen der traurigen Gesellschaft zu zerbrechen meint. Gezwungen von seiner polnischen Freundin Zofia, kommt Josef der wahren Geschichte seines ertrunkenen Vaters, die verwoben ist mit der Geschichte des polnischen und des jüdischen Volkes, auf den Grund. Darüber vergehen dem Josef drei Leben, die er die Zeit der Finsternis, die Zeit der Zweifel und die Zeit der Heiterkeit nennt. Der Junge erkennt, dass sein Vater schon zum Untergang, zum Abtreten verurteilt war, als er nach seiner Heimkehr aus den Lagern und der polnischen Gefangenschaft Wahrheit zu verschweigen begann. Dass nach der schändlichen Leidenschaft für die Schwester Siglinde, nach dem Zusammenstoß mit der Staatslimousine, nach den Schikanen beim Militär, nach der Liebe zur Frau eines Solidarnosc-Führers, nach dem Leben mit dem auferstandenen Vater und mit dem rachsüchtigen Szymon, der nicht sterben kann, aus Josef dem Narren kein Weiser wird, ist der Wahrhaftigkeit dieses parabelhaften Romans geschuldet. Das Buch durfte wie gesagt erst acht Jahre nach seiner Vollendung 1990 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig erscheinen. Der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist daran ein gewisser Anteil nicht abzusprechen. Literarische Tragik im politischen Aufbruch: Das Erscheinen des Romans ging jedoch in den Vereinigungswirren unter. Am Anfang der „Trauergeselschaft“ steht ein Bekenntnis des
1. Kapitel
ICH BIN EIN NARR und habe drei Leben. Sie heißen die Finsternis, der Zweifel, die Heiterkeit. Am Anfang war die Finsternis. Sie begann bei meiner Geburt und endete an jenem Tag, als der Vater in die Erde fuhr und Zofia erschien. Die Zweifel setzten ein nach der Auferstehung des Vaters. Seit drei Jahren will ich ein heiterer Mensch werden. Die Mutter habe ich gequält, die Schwester geschwängert. Aber ich bin kein verkommenes Subjekt. Ich bin der glücklose Josef, der stets die Stunde verpasst, wenn der Schöpfer die nützlichen Eigenschaften verteilt. Meinen Vater trieb ich in den Fluss. Aber nicht, um seinen heißen Kopf zu kühlen, den er sich aus dem Krieg mitgebracht hatte. Bewaffnet mit dem Lineal, fiel ich über ihn her, nachdem er auferstanden, nur drosch ich keine Fliegen und wollte auch nichts begradigen. Es war nichts mehr zu begradigen. Der Stuhl, auf dem ich stand, brach unter der Wucht des Schlages, ich stürzte aufs Kreuz und war tot.
Dem Friedhofstor gegenüber lagen wir im Familiengrab: meine Schwester Siglinde, mein Vater Fritz und mein verzweifeltes Leben. Jeden Freitag schlurfte die Mutter über den Kies und goss uns aus dem Eisentopf Wasser auf die Seelen. Es reinigte. Ich spürte die süße Feuchte, und das Salz der Tränen schmeckte ich. Benommen kroch ich, einen Kloß im Hals und wieder belebt, aus der öden Gruft. Meiner Mutter verdanke ich alle meine Leben, meiner Mutter und den Umständen. Sie gebar, legte mich beiseite wie einen Erdklumpen, bis sie anderes geschaffen, und, allein geblieben, erinnerte sie sich meiner. Behutsam stellte sie mich auf die Füße, das Hemd war mir viel zu weit. Sie knotete mir meine verdammte Seele an die Knochen und zog den weißen Kittel aus, in dem sie mich besuchte.
Ich lehnte mich gegen ihre warme Brust. Kühl stieg der Nebel vorm Krankenhaus auf, schwere Wolken tränkten die Wipfel der Linden. Die Autos klebten vom Honigtau. Ich war erstaunt, dass die Welt schon fertig war. Was sollte ich tun? Was anfangen mit meinem gewonnenen Leben?
Ich fahre nach Warschau, sagte ich entschlossen. Ja, sprach meine Mutter, fahre nur. Sie legte mir ihren Mantel um die Schultern. Ich muss endlich wissen, was für ein Mensch er war. Ja, sprach sie, aber versprich dir nicht zu viel.
Warum hat er mich gehasst? fragte ich. Ja, sagte sie. Das war nicht recht von ihm. Ich hasste ihn auch, flüsterte ich heiser. Ja, sprach sie. Beide habt ihr es euch schwer gemacht. Ich muss endlich ein heiterer Mensch werden, rief ich wütend. Ja, sagte sie. Das musst du unbedingt.
Der Mantel hing von meinen Schultern wie von einer Vogelscheuche. Jemand spuckte mir im Vorbeigehen auf die Wade. Meine Mutter hielt mich zurück und wischte den Fleck von der Hose. Sie hatte recht, ich muss mir abgewöhnen, hinter jedem Zufall eine gemeine Folgerichtigkeit zu sehen. Wer sich Weisheit erwirbt, erwirbt sich Kummer, und in der Fülle des Wissens liegt eine Fülle des Schmerzes. Vom Weltgeschehen unter den Strich gedrängt, lag diese Erkenntnis wochenlang als oberste in der Barackenecke. Der Spruch stammte von einem gewissen Erasmus Mörtelklecks. So nannten wir ihn, weil der größte Teil des Namens unter einem Mörtelklecks begraben lag. Die Ereignisse heute gleichen noch denen der letzten Jahrhunderte, zu vieles verblasst in der Inflation der Gefahren. Wir hetzen von einer Katastrophe zur nächsten und streuen unbekümmert alte Erfahrungen ins Meer. Ich warf den Satz schließlich zum Altgut und hätte ihn vergessen, wenn er sich nicht, häufiger, als mir lieb wäre, wie eine Mauer vor mich gestellt hätte. Mauern reizen mich, entweder ich überwinde sie oder renne mir den Schädel wund. Das letztere überwog in meinem Dasein.
Kaum neu belebt, ging ich fort aus dem Hospital, vergaß mein Unglück und suchte Brücken. Das verlangt man vom heiteren Menschen. Brücken, die Übergänge sein können, aber keine Geländer haben. Brücken, die man abbricht, sich unter den Füßen weghaut oder schlägt. Du machst Versprechungen, reißt Pfeiler ein, benutzt andere Wege. Kennen Sie das Spiel? Das uralte Narrenspiel: Man sitzt beieinander und denkt sich reihum Begriffe aus, die zu einem ersten Wort in Beziehung stehen. Sich treffen, sich lieben, sie hat zwei wunderschöne blaue Augen und einen Bubikopf. Man flüchtet hinüber, verbindet Gewässer, plant eine Autobahn von der Seine bis nach Moskau, sucht gemeinsam nach Pflugscharen. Brücken über Brücken, über Grenzen, über Köpfe hinweg.
Mein Vater baute sie, ich verschalte die Fundamente. Es gibt viele, aber zwischen uns beiden gab es keinen Steg. Bis zu seinem Tod vor sieben Jahren nicht.“
Erstmals 1986 erwarb sich der Kinderbuchverlag Berlin das Verdienst, die wunderbaren „Märchen von den Hügeln“ von Waldtraut Lewin und ihrer Tochter Miriam Margraf herausgebracht zu haben: Sechs Märchen erzählen romantisch-fantasievoll und doch auch wirklich von Elben und Halbelben, von den Unterirdischen im Berge, von Magiern und Menschen. Ist elbisch nicht alles um uns her? wird gefragt, und wir spüren Geheimnissen nach, sind verzaubert von wundersamen Erscheinungen und Begebenheiten, bewegt von Leidenschaften, von Verzicht und Erfüllung. Auf und unter den Hügeln über dem Strom, der die Stadt durchfließt, in den Wäldern und Behausungen folgen wir Leontine, dem Löwenmädchen, und den anderen Gestalten, bis hin zum großen Fest und seinem Ruf: „Die Tromba erschallt, und wir werden verwandelt!“
Das Buch ist übrigens Peter Schreier gewidmet. Die beiden Schriftstellerinnen und der national wie international sehr gefragte DDR-Startenor hatten damals bei mehreren künstlerischen Projekten zusammengearbeitet, wie Miriam Margraf dem Newsletter-Zusammensteller während eines ganz aktuellen Telefonates am Vortag seines Erscheinens betätigte. Es sei wohl vor allem um Händel-Opern gegangen. Und natürlich habe bei der Entscheidung für diese Widmung auch die gemeinsame Liebe zu Dresden gespielt. Und jetzt hinein ins Vergnügen, ins literarische Vergnügen und ins musikalische Vergnügen, ins literarisch-musikalische Vergnügen also:
„Seine Exzellenz empfängt Besuch
An einem Septemberabend, so zwischen Sommer und Herbst, stand ein alter Mann in seinem Garten und verbrannte das erste welke Laub, denn der Sommer war sehr heiß gewesen, und die Blätter begannen früh zu fallen. Damit ihm das Feuer fein groß geraten sollte, schleifte er dürre Zweige vom Vorjahr herbei, die in einem Winkel lagen, raufte getrocknetes Gras aus und tat es dazu, und schließlich holte er noch einen Armvoll des aufgeschichteten Buchenholzes, das für den Kamin bereitlag. Dann griff er verstohlen in seine Hosentasche, und nachdem er sich umgesehen hatte, ob er auch unbeobachtet sei, sprengte er aus einem glitzernden Fläschchen ein paar Tropfen in die Flammen. Sofort loderte es hoch auf, ja, die Feuerzungen nahmen die schönsten Farben an und schimmerten abwechselnd grün, rosa und blau. Der alte Mann stützte sich zufrieden auf den Rechen, mit dem er das Laub geharkt hatte, und betrachtete sein Werk. In der beginnenden Dämmerung leuchteten die Flammen und wetteiferten mit der Abendröte am Horizont.
„Ist es gestattet, näher zu kommen“, fragte eine weiche, wohltönende Stimme.“Wie ich sehe, sind Exzellenz ganz in Ihrem Element.“ Aus den tiefen Schatten der Rhododendren löste sich eine hohe Gestalt und trat lautlos an den Alten heran, der nicht einmal mit der Wimper gezuckt hatte.
„Ich dachte wahrhaftig, wenigstens auf meinem eigenen Grund und Boden wäre ich sicher“, erwiderte er, ohne den anderen anzusehen. Neben der klangvollen Sprache des Ankömmlings war die seine merkwürdig knarrend und quäkend.
Der andere lachte. „Ja, der Maßnahmen sind ja genügend! Die Warnschilder überall, diese geheimnisvollen Türen, die sich von selbst öffnen und schließen, diese argwöhnischen dürren Wächter mit den Hunden, die das Terrain umkreisen, die hohen Mauern, die abweisenden Zäune, gekrönt mit Zacken und Spitzen! Immerhin kenne ich denn doch noch andere Pfade als jene, die Sie mir versperrten.“
„Da Sie hier sind, scheinen meine Maßnahmen mangelhaft zu sein“, bemerkte der alte Mann und streifte den Besucher mit einem kurzen Blick, der unter den buschigen Brauen wie ein Blitz hervorschoss. Der Ankömmling war merkwürdig anzuschauen. Im Vergleich zu dem kleinen Alten wirkte er groß und hoheitsvoll. Von Kopf bis Fuß hüllte ihn ein dunkler Mantel ein, der wohl bewirkt hatte, dass er erst so spät sichtbar wurde zwischen den Rhododendronbüschen. Um seinen Kopf schlang sich eine Art Kranz aus Zweigen, der durch die strahlenförmig abstehenden Blätter fast wie eine Krone erschien.
Der Alte warf einen zweiten Blick. „In voller Montur, Herr Klinger, wie ich sehe, quäkte er. „Was verschafft mir also die Ehre Ihres Besuchs?“ Wie er sich da auf seinen Rechen lehnte und zu dem anderen aufschaute, klein, in seiner grauen Strickjacke, die sich knapp um den runden Bauch spannte, und mit rötlichem Schädel, der von einem Ring strubbligen weißen Haars umgeben war, sah er recht schäbig aus.
„Exzellenz Darenna, Herr Feuersalamander und Hoher Magier“, sagte Klinger feierlich und beugte das Knie, „ich bitte Sie um die Hand Ihrer Tochter Leontine.“ Um die beiden breitete sich das Dunkel der schnell anwachsenden Nacht aus. Nur der Horizont war noch immer rosenhell.
Magier und Elbenfürst
Zu den Zeiten, als die Erstgeborenen der Schöpfung, die Elben, noch freundlichen Umgang mit den Menschen pflegten und unter ihnen umhergingen, wählten sie sich als eine ihrer bevorzugten Wohnstätten die Hügel oberhalb des von ihnen geliebten Stroms, der ihren Namen führt. Die Menschenkinder nahmen sie freundlich auf, denn das Schöne Volk, wie die Elben auch genannt werden, liebte nicht nur den Wein und die Lieder, sondern verstand es auch, die Willigen zu lehren, wie man Reben anbaut und keltert, Instrumente fabriziert und sie kunstreich spielt. Zudem war, wo die Elben hausten, Licht und Heiterkeit, die Natur freundlich, Missernten, böser Wuchs, Seuchen und Krankheiten fern. Gemeinsam legten beide Völker Weinberge und Gärten an, bahnten liebliche Pfade zwischen den Hügeln, auf dass ein anmutiges Hin und Her zwischen den Wohnungen der Sterblichen und der Erstgeborenen herrsche, und sangen von früh bis spät.
Als sich aber die Menschen um des Besitzes willen zu entzweien begannen, als sie die Waffen gegeneinander erhoben, als der Strom schwarz wurde und die Luft unrein, zogen viele des Schönen Volkes, wie man weiß, fort in das Land hinterm Meer, wo sie alterslos und in ewigem Frieden leben können. Einige jedoch liebten den Strom und die Hügel über alles und blieben. Jedoch gewisse Züge ihres Wesens, über die früher die Bewohner der Gegend lächelnd hinweggingen wie über die dummen Seiten, die nun einmal jeder Mitbürger hat, ließen nun die Menschen mit Misstrauen auf sie blicken. Sie waren so wenige und wurden deshalb besonders beachtet und beurteilt. Man nannte das Schöne Volk nun unberechenbar, leichtsinnig, wankelmütig und zu Schabernack und Spott geneigt. Wohl konnte es vorkommen, dass ein Elb einen Sterblichen besuchen wollte, und der schloss bei dessen Nahen die Tür. Mit der Zeit sah man sie wahrhaftig an wie seltsame Tiere, die längst ausgestorben sein sollten. Viele gingen noch fort, die aber blieben, nahmen menschliche Gestalt an und unterschieden sich nun äußerlich nicht mehr von den Sterblichen, obwohl sie in Wahrheit unsterblich waren und mit anderen Mächten ausgestattet als die Menschen. Da Elben aber, wie uns Meister Tolkien lehrt, von Natur sehr vergesslich sind, so konnte es wohl geschehen, dass manche über einen ganzen mehr oder weniger sorglos verbrachten Zeitraum hinweg gar nicht mehr wussten, dass sie zum Schönen Volk gehörten, oder sie wussten es nur halb und wie in Träumen.
Als auf jener Seite der Hügel, die an den großen Wald angrenzt, gar keine Erstgeschaffenen mehr wohnten, kam ein Großmeister der Magie und Hoher Lehrer des Menschengeschlechts in jene Gegend, dessen Kunst noch von den Urquellen stammte und der sich ständig in ihr vervollkommnet hatte. Ihm gefiel das Land, wie es einst den Elben gefallen hatte, und er ließ sich ebenfalls über dem Strom nieder. Darenna oder Exzellenz Darenna, wie er sich gern von den Menschen nennen ließ, war ein vertrauter Geist des Feuers unddeshalb Meister in allen Künsten des Feuers, wie schmieden, schmelzen, Ton brennen, destillieren und dergleichen mehr. Er lehrte die Menschen, auf die Stoffe einzuwirken, sie zu verwandeln, zu formen und sich dienstbar zu machen, und so verhalf er ihnen zu Reichtum, Macht und Ansehen, und sie ehrten ihn hoch.
Alsbald erklärte er das Hügelland bis zum Grund, der es teilte, zu seinem Eigen und verfuhr hier hinfort nach seinem Gefallen. Wo das erhabene Land plan war und nach dem Wald zuging, ließ er schöne Alleen ziehen, und die Menschen bauten sich prunkvolle Häuser, umgeben von gepflegten Gärten, ihre Wohlhabenheit sowohl zu genießen wie vorzuzeigen. Darenna selbst aber gehörte das prächtigste Haus in dem größten aller Gärten; am Rande des zum Strom abfallenden Hügels stand es und spiegelte sein grünfunkelndes Dach im Angesicht des Wassers. Er selbst aber schloss sich in seinen Laboratorien ein und ersann immer neue Dinge, die dem Geist der Sterblichen unerreichbar waren, und beschenkte sie von Zeit zu Zeit mit einem seiner hilfreichen Wunder. Indes man sich seines Angesichts kaum mehr erinnerte, wurde sein Name zur ehrfürchtigen Sage, bis sich diese Verehrung fast in Hass verwandelte wegen eines Dinges, von dem später zu reden sein wird und als dessen verbrecherischen Urheber ihn das Gerücht bezeichnete. Es lebte aber auf der anderen Seite des Grundes zwischen den Bergtreppen und den weinumrankten Fachwerkhäuschen ein Elb, der hatte weder Herkunft noch Wissen vergessen, denn er war einer der Fürsten und Großen seines Volkes gewesen und hatte es auch unter den Menschen zu hohem Ruhm gebracht, die ihm, dem Sangeskundigen, den Namen Klinger gegeben hatten.
Elben sind nicht ehrgeizig und trachten nicht nach Herrschaft, aber den Klinger verdross die Macht des Magiers, der ganz so tat, als habe er und nicht das Schöne Volk die Hügel bewohnbar gemacht, und so begann er, sich ihm entgegenzustellen - nicht, ihn zu bekriegen, das ist nicht Elbenart, aber doch, ihn zu necken, herauszufordern oder zu übertrumpfen, wann immer es ihm einfiel. Es konnte wohl geschehen, dass er, beschäftigt mit seinem menschlichen Leben, Dezennien lang den anderen vergaß (vergesslich war er wie alle seines Volkes), dann aber erwachte sein Stolz, und halb scherzhaft, halb hoheitsvoll störte er die Berechnungen Darennas.
Der Magier war dergleichen nicht gewohnt. Er schloss seine Kreise fester, argwöhnisch bedacht darauf, in diesem für menschliche Empfindung endlosen Kräftemessen nicht zu verlieren - was immer das auch sei.
Zweihundertfünfzig Jahre verliebt
Der alte Mann räusperte sich. Er stand da, auf seinen Rechen gestützt, und sah auf den Knienden herab. „Mir sind dergleichen Posen verhasst“, sagte er mit seiner knarrenden Stimme, „stehen Sie auf, Herr Klinger. Die Hand - hm - so, meiner Tochter, hm - also meiner Tochter Leontine. Wer hätte das gedacht?“ Er begann schwungvoll die Asche zusammenzuharken, dass die Funken nur so stoben.
Klinger sprang ärgerlich auf und klopfte sich den Ruß vom Knie. „Ist das eine Art, auf eine ernst gemeinte Frage zu antworten?“, rief er.
„Sie überraschen mich, bester Herr Klinger. Ich wusste nicht, dass es Ihnen Ernst ist. Wer bittet heutzutage noch um Hände? Man nimmt sie sich einfach. Indessen - ehüm - nun, das ist wohl keine Frage, die zwischen Tür und Angel zu besprechen wäre. Darf ich Sie ins Haus bitten?“
Der Elb zog ein Gesicht, er betrat nur ungern die Behausung Darennas. Alles darin war ihm fremd: die geometrische Anordnung der Möbel aus Glas und Stahl, der metallisch glänzende Fußboden, die nackten weißen Wände und vor allen Dingen die vielen verchromten Hebel und Knöpfe, mit deren Hilfe sich der Magier alle Bequemlichkeiten verschaffte, die er wünschte. Auch jetzt drückte er wieder auf einen dieser Knöpfe, und ein silbriges Tischchen kam klirrend und scheppernd dahergefahren, beladen mit Gläsern, Flaschen und Karaffen.
„Zur Feier des Tages“, bemerkte Darenna händereibend, „der mir den Herrn von der anderen Seite des Grundes ins Haus bringt ... Ich habe eine erlesene Auswahl von gebrannten Wässerchen, feinste Geister der Kirsche oder Aprikose, Korn auch, Wodka oder Aquavit!“ Er kicherte.
„Das bekommt mir nicht“, sagte Klinger unbehaglich und griff sich an den Hals, „ich habe übermorgen in Salzburg zu singen. Haben Sie keinen Wein?“
Die Exzellenz warf ihm unter den buschigen Brauen hervor einen scharfen Blick zu. „Bedaure, das ist nicht mein Ressort.“
„Ein Glas sauberes Wasser werden Sie doch haben?“
Darenna drückte einen anderen Knopf, und ein metallisch schimmernder Becher schob sich unter einen bläulichen Hahn, aus dem sich eine abgemessene Portion Wasser in das Gefäß ergoss. Klinger kostete misstrauisch, aber dann verklärte sich sein Gesicht. „Das ist Wasser aus der Waldquelle“, rief er, „klar und frisch und prickelnd!“
„Nun“, erklärte der andere unschuldsvoll, „Sie werden mich doch nicht für so boshaft halten, dass ich Ihnen das Wasser aus jenen Röhren vorsetze, das die Menschen trinken.“
„Sie benutzen dergleichen nicht!“
„Ich nicht, wie sollte ich.“ Dabei goss er sich ein geschliffenes Kristallglas voll seines Lieblingsgetränks und kippte es auf einen Zug hinunter. „Ah“, sagte er befriedigt und rülpste, worauf er „Verzeihung“ murmelte. Obgleich sich Klinger alle Mühe gab, nicht hinzusehen, war ihm doch nicht entgangen, dass aus Darennas Mund dabei kleine Flämmchen schlugen. Er lächelte verstohlen.
Die beiden hatten mit Eintritt in das Haus des alten Mannes ihr Äußeres verändert. Während Klinger jetzt in lässigem Seidenhemd und bequemen Flanellhosen menschlich-weltmännisch im Sessel lehnte, die Beine übereinandergeschlagen, hatte der Magier seine kleine Gestalt mit einem schillernden Talar umhüllt, auf dem Flammenzeichen unruhig ineinander spielten.
„Zur Sache also“, schnarrte Seine Exzellenz. „Ich weiß nicht, wie und wo Sie Leontine kennenlernten, noch warum Sie vermeinen, sie heiraten zu müssen. Dass Sie zu mir kommen, zeigt mir, dass Sie - ehüm - doch nicht ganz so töricht sind wie Ihr Volk im allgemeinen. Sie wissen, dass mit meinem Zorn zu rechnen ist und dass man mich nicht reizen soll.“
„Exzellenz“, unterbrach ihn Klinger und nippte an seinem Becher, „ich beginne mich zu langweilen. Sie wissen, wir Elben sind ein vergessliches Volk. Wenn Sie nicht bald Farbe bekennen, habe ich den Grund, weshalb ich hierherkam, aus dem Gedächtnis verloren.“
„Farbe? Gefällt Ihnen meine Farbe nicht?“, krächzte der alte Mann und ließ die geheime Glut seines Talars aufleuchten. „Wenn ich recht berichtet bin, wollten Sie etwas von mir. Also fangen wir an: Woher kennen Sie Leontine?“
Dem Elben war das Verhör nicht recht, aber er hatte Humor genug, sich darein zu schicken, und begann also: „Ich lernte das reizende Mädchen vor zweihundertfünfzig Jahren kennen.“
Das trockene Kichern des alten Mannes unterbrach ihn. „Verzeihung, Herr Klinger. Ich weiß zwar, dass für Leute Ihres Schlages zweihundertfünfzig Jahre wie ein Tag und ein Tag wie zweihundertfünfzig Jahre sind, aber falls ich Ihnen rechnen helfen darf: Meine Tochter Leontine ist genau siebzehn Jahre alt.“ Dabei reckte er stolz den faltigen Hals und sah aus wie ein Truthahn, der sein Revier verteidigt.
„Ich weiß“, sagte der andere mit einem Seufzer. „Ich weiß nur zu gut, dass sie siebzehn ist. Aber hören Sie mich an, Exzellenz, ich bitte Sie. Wie Sie wissen, habe ich mit Musik zu tun, und auf eine Weise, dass es mir bei den Sterblichen Ehre einbringt. Zu jener Zeit nun, von der ich rede, sang ich vor den Ohren eines Königs der Menschen Lieder und Arien des Meister Sagittarius in einem von Fackeln erleuchteten Hofe, und rundum standen die schönen neuen Bildwerke aus Stein. Nachdem ich meine Kunst beendet hatte und, mit viel Beifall und goldener Ehrenkette belohnt, noch umherging zwischen den Statuen, fesselte eine wundersame Figur aus Sandstein meinen Blick. Der Körper der Gestalt war der einer liegenden Löwin, aber anstelle des Katzenkopfes wuchs ein vollkommener Frauenoberleib hervor, geschmückt mit Perlenkränzen über den nackten Brüsten und Ketten an den vollen Armen, und über diesem Körper schwebte in zierlicher Schräghaltung das Haupt, dessen Gesicht mich gleichzeitig in Bestürzung und Wonne versetzte, sodass ich die feine Gesellschaft, in der ich lustwandelte, völlig vergaß und zum Verwundern des illustren Hofs wie ein Trunkener auf das steinerne Bild zustürzte, um es zu umarmen. Ach, welche Verzückung vermögen leicht schräg gestellte Augen und ein voller Mund mit nach oben gebogenen Winkeln hervorzubringen, wie hinreißend ist eine runde Stirn, von der energisch die wohlgeformte Nase fortstrebt! Bevor ich ins Schwärmen gerate - Exzellenz, die Sphinx war Ihre Tochter.
Ich liebte sie sofort und vergaß sie auf der Stelle wieder, als ich eine andere Frau sah, und als ich die vergessen hatte, wieder die nächste und so fort. Aber zwischen all den Schönen liebte ich immer nur eine und sie immer erneut: Das war das Bildwerk im königlichen Garten, halb Weib, halb Löwin, und mit den Jahrhunderten wuchs meine Sehnsucht nach ihr. Nun endlich bin ich in Leontine dem Urbild jener Statue begegnet. Es ist ihr Gesicht, Zug um Zug. Und nun ist es so stark, dass ich fürchte, nicht mehr vergessen zu können, welches doch eine der großen Segnungen ist, über die mein Volk verfügt, und ich bin nicht geschaffen, Liebesschmerzen zu erleiden – auch habe ich in meinem Beruf, wie Sie wohl wissen, viel zu tun und kann mir dergleichen nicht leisten. So bitte ich Sie denn noch einmal in aller Form um die Hand Ihrer Tochter.“ Er leerte sein Wasserglas.
Darenna hatte während der Erzählung vier oder fünf Kristallbecher der scharfen Flüssigkeit heruntergestürzt und glühte immer feuriger. Der Magier knarrte und schnarrte wie ein Uhrwerk, das man aufzieht, räusperte sich mehrmals, ohne dass seine Stimme dadurch an Klarheit gewann, und krächzte schließlich: „Narrenpossen und nichts, woran ich mich halten könnte. Ich hätte es wissen sollen, dass nichts Besseres zu erwarten ist. Also gut, Sie haben sich Leontine in den Kopf gesetzt, aber das Mädchen hat den Ihrigen, und falls es Ihnen nicht gelingt, sie zu gewinnen, wüsste ich nicht, was ich dabei soll. Wie kommen Sie darauf, sich an mich zu wenden?“
„Leontine selbst nannte es als Bedingung“, erwiderte Klinger widerstrebend.
„Oho!“, rief Darenna, und seine Augen belebten sich. „Das ist freilich eine andere Sache! Sie selbst? Nun, dann wird sie sich ja wohl etwas dabei gedacht haben? Sollte Ihr daran gelegen sein, dass der Alte dem Wirbelwind und Luftikus von der anderen Seite des Grundes ein bisschen auf den Zahn fühlt? Schön, schön. - Sie unterwerfen sich jeder Prüfung?“
„Jeder. Wenn Leontine es will.“
„Sie will es, Verehrter, sonst hätte sie Sie niemals zu mir geschickt. Sie kennt mich und kennt Sie.“
„Still“, unterbrach ihn der andere. „Ist das nicht das feine Geklingel ihrer Fußspange mit dem Glöckchen daran, da auf dem Gang im Garten? So hören Sie doch!“
„Sie hören das Gras wachsen, das ist ja bekannt“, erwiderte Darenna giftig. „Nichts ist da, alles nur Fantasie und Schneegestöber. Statt die Ohren für Fußglöckchen zu schärfen, passen Sie lieber auf, was ich Ihnen zu sagen habe. Also nochmals: Sie unterwerfen sich meinen Weisungen, da Sie von Leontine dazu verpflichtet wurden?“
Und, da Klinger nickte, mit einem Stecknadelblitzen seiner hellen Augen: „So erfahren Sie als erstes: Das Mädchen ist gar nicht meine Tochter!“
Und damit sind wir fast am Schluss dieses letzten Newsletters Jahres 2018 angekommen und es wartet noch das Angebot der Woche zum Supersonderpreis von nur 99 Cents pro Exemplar auf Sie.
Es ist noch nicht mal ein paar Wochen her, da veröffentlichte die Krimi-Abteilung von EDITON digital als Eigenproduktion bereits das zweite Buch der Schweriner Krimi-Autorin Christiane Baumann „Die toten Mädchen vom Dreesch. Nora Grafs zweiter Fall – Schwerin-Krimi“ – und zwar wie schon bei Nora Grafs erstem Schweriner Fall „Die Tote im Pfaffenteich“ im vergangenen Jahr wiederum gleichzeitig als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: Ein Schock für Kommissarin Nora Graf: in der Wohnung ihres Freundes stolpert sie eines Nachts fast über eine weibliche Leiche. Schnell stellt sich heraus, dass der Mord an dem unbekannten jungen Mädchen woanders geschah. Warum wurde sie bei Noras Freund abgelegt? Wurde sie aus Eifersucht umgebracht? Eine zweite junge Frau wird in ihrer Plattenbauwohnung auf dem Großen Dreesch in Schwerin ermordet. Intensiv suchen die Kommissarin und ihre Kollegen nach einer Verbindung zwischen den Opfern Marlene und Tabea. Endlich stoßen sie auf ein gemeinsames Hobby. Wurde es ihnen zum Verhängnis, und führt es zum Täter? Parallel zu Marlene und Tabea ermittelt Nora Graf in einem weiteren Fall. In Raben Steinfeld stürzt eine ältere Frau bei Putzarbeiten in ihrem Haus von der Leiter in den Tod. War ihr Kater an dem Unfall schuld? Oder war es Mord? Aber bevor wir hier den eigentlichen Anfang des zweiten Buches von Christiane Baumann präsentieren, möchten wir auch den Leserinnen und Lesern dieses Newsletters ein paar bemerkenswerte Vorbemerkungen der Autorin nicht vorenthalten, welche sie ihrem neuen Krimi mit auf die Reise zum Publikum gegeben hat. Sie lauten:
„Mein Dank für Hinweise und Zuspruch gilt Ulrike, Bettina und Jan.
Kriminalhauptkommissar Michael Schubbe von der Schweriner Polizeiinspektion danke ich für Antworten auf alle meine Fragen.
Alle handelnden Personen und ihre Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Manche Örtlichkeiten und Gegebenheiten sind im Buch anders als im wirklichen Leben.“
Soweit die vielleicht nicht unwichtigen Vorbemerkungen. Und so geht nun das eigentliche Kriminalgeschehen los – mitten in Nacht:
„1 Erste Woche, Nacht zu Donnerstag
Nora Graf wachte mitten in der Nacht auf, froh, ihrem Albtraum entkommen zu sein. Sie rätselte ein paar Sekunden, wo sie war. Obwohl sie es deutlich fühlen konnte: Sie lag allein in Toms überbreitem Bett. Seiner Spielwiese. Wie viele Frauen mochten sich schon auf seiner Matratze getummelt haben? In eine von ihnen war er sicher verliebt gewesen. Verheiratet war er nie gewesen und hatte keine Kinder. Warum nicht? Tom sah gut aus, war sportlich und wild auf Sex. Und er konnte charmant
sein. Außerdem gehörten ihm die blauesten Augen, die es unter Schwerins Sonne gab.
Nora drehte sich auf die Seite. Wie sehr sich ihr Leben innerhalb weniger Monate verändert hatte. Der Schock ihrer Strafversetzung aus einer Mordkommission der Berliner Polizei war überwunden und sie hatte sich in Schwerin eingewöhnt. Seit vier Wochen war sie Mieterin einer kleinen Wohnung in der Schelfstadt. Ihr Mann Robert und Tochter Daphne lebten weiter in Berlin und nahmen es inzwischen hin, auch mehrere Wochen von Nora getrennt zu sein. Den wahren Grund, warum Nora die Wochenenden immer öfter in Schwerin verbrachte, ahnten beide nicht.
Dass sie ausgerechnet mit einem Kollegen eine Liebelei hatte, noch dazu mit einem jüngeren, kam ihr manchmal vor wie eine Zeitbombe, die ihr demnächst um die Ohren fliegen würde. Doch Nora verbat sich jeden Gedanken an die Zukunft. Sie wollte die Zweisamkeit mit Tom genießen, solange sie dauerte. In der Ehe hatte sie in den letzten Jahren vieles vermisst, vor allem die körperliche Nähe und Leidenschaft. Mit Tom erlebte sie beides neu und auf eine besonders intensive Weise. Es würde ihr sehr schwer fallen, darauf zu verzichten.
Aber irgendwann musste sie Robert die Affäre gestehen. Und was dann? Wieder einmal konnte Nora sich selbst keine Antwort geben. Plagte sie deshalb dieser blöde Traum? Sie irrte nachts in Berlin auf dem Bahnhof Ostkreuz herum auf der Suche nach dem richtigen Bahnsteig, nach dem Zug, den sie erreichen musste, um nach Hause zukommen, zu Robert und Daphne. War der Traum ein Zeichen? Wollte er ihr sagen, dass sie die Orientierung in ihrem Leben verloren hatte, den Weg zu ihrem eigentlichen Zuhause nicht mehr fand?
Die Schlafzimmertür wurde leise geöffnet, und Tom kroch ins Bett zurück. Er drückte sich an Noras nackten Rücken. Sie erschauerte; wie kalt er geworden war. „Du warst lange weg.“
„Sehnsucht?“ Er fuhr sacht über ihre Haut. „Oder denkst du etwa an diesen Typen?“
„An wen?“
„Diesen nackten Kerl! Spukt der dir im Kopf herum?“
„Blödsinn.“
„Wenn ich diesen Mistkerl erwische“, plusterte Tom sich auf, „du hättest ihn verhaften sollen. War schließlich Erregung öffentlichen Ärgernisses. Verhaften! Auf der Stelle.“
Tom war eifersüchtig, wie süß.
Als Nora am späten Abend die paar Meter vom Parkplatz zu Toms Wohnblock ging, rannte ein Nackedei im Affenzahn an ihr vorüber. Kaum, dass sie sein Gesicht sehen konnte, bevor die Dunkelheit ihn verschluckte. Oder hatte er sich umgedreht und sie angegrinst? Langes kräftiges blondes Haar und eine leichte Nikotinfahne blieben ihr in Erinnerung. „Ich verhafte niemanden, nur weil er seine Klamotten vergessen hat, Tom. Stell dir vor, er musste vor dem tollwütigen Ehemann aus dem Schlafzimmerfenster flüchten oder was Ähnliches.“
„Wenn jeder Polizist die Staatsgewalt so lässig vertritt wie du, dann gute Nacht.“
„Kannst dich bei meinem Chef über mich beschweren.“
„Danke für den Tipp.“ Er begann, ihren Bauch zu massieren, drehte sie auf den Rücken, und seine Hand glitt zwischen ihre Schenkel. Er streichelte sie, und Nora ließ sich von seiner Leidenschaft mitreißen. Es war schon fast gespenstisch, wie genau er wusste, was sie sich wünschte oder was sie brauchte. Sie stöhnte laut auf und vergaß alles um sich herum. Tom warf die Bettdecke auf den Boden, und ihre Körper vereinten sich. Erschöpft blieben sie danach liegen, er mit dem Kopf auf ihrer Brust. Zärtlich kratzte ihre Hand über seinen Rücken. „Es war wunderschön, Tom. Nun schlafen wir, ja?“
„Wenn’s sein muss.“ Tom deckte Nora sorgfältig zu, küsste sie, und wenig später waren beide eingeschlafen. Was Nora in dieser Nacht ein zweites Mal hochfahren ließ, war kein Albtraum. Sie hatte sich erschrocken, aber worüber? Tom schnarchte leise neben ihr. Nora schaute auf den Wecker: vier Minuten nach vier. Ihr Mund war trocken, ein Schluck Wasser würde helfen. Bevor der Schlaf sie wieder zu überwältigen drohte, gab Nora sich einen Ruck. Auf Zehenspitzen schlich sie aus dem Zimmer. In Toms Wohnung kannte sie sich selbst im Dunkeln aus wie in ihrer eigenen. Es ging über den Flur geradewegs in die Küche. Das Glas Wasser trank sie in einem Zug leer.
Auf dem Rückweg packte Nora ein beunruhigendes Gefühl, und sie schwankte, ob sie ihm nachgehen sollte. Meist war Schlimmes geschehen, wenn sie diese ungute Beklommenheit überkam. Das letzte Mal geschah das vor einem halben Jahr, als sie in der Lübecker Straße eine Leiche aufspürte. Aber bei Tom? Was sollte hier Schreckliches passiert sein? Tom schlief friedlich im Bett, und sie würde sich gleich an ihn kuscheln. Ein unbekannter Geruch in der Luft hielt sie zurück. Ein fremdes Parfüm. Eine Sinnestäuschung? Nora brauchte Gewissheit, dass alles in Ordnung war und knipste das Licht im Flur an. Sie hörte einen markerschütternden Schrei.“
Aber was nun genau passiert ist, das müssen Sie nun schon selber erkunden. Praktischerweise haben Sie ja vielleicht zum Jahresende und über Silvester/Neujahr hinweg ein bisschen mehr Zeit als sonst dazu. Viel Spaß beim Lesen also, einen guten Rutsch sowie ein glückliches und gesundes, ein ideen- und erfolgreiches und spannendes Neues Jahr 2019 sowie bis demnächst. Und übertreiben Sie es auch mit dem Helden-Sein nicht. Das Held doch kein Mensch aus …