Sonntagsschmaus für Händel, Lenin auf nüchternen Magen und eine Datumsgrenze – Sechs E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 07.06.2019) Auch dieser Newsletter beginnt wieder mit der in der vorigen Ausgabe angefangenen Neuerung und ist zum zweiten Mal ein Newsletter mit Fridays for Future – Freitage für die Zukunft. Jede Woche wird an dieser Stelle seit der vergangenen Ausgabe zu Beginn jeder Sendung jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Allerdings sind diese Angebote im Gegensatz zu den anderen Offerten nicht preisgesenkt, sondern sie werden zum Normalpreis verkauft. Heute präsentieren wir in dieser Rubrik den Wissenschaftlich-phantastischen Roman „Magma am Himmel“ von Carlos Rasch, der schon vor einigen Jahrzehnten Fragen aufgriff, die heute aktueller scheinen denn je.
Bei den anderen Angeboten bleibt es dagegen bei den bekannten Sonderpreisen und manchmal gibt es sogar – wie in diesem Newsletter – ein spezielles Bonbon, das vollkommen kostenfrei bestellt werden kann, französische Frivolitäten zum Nulltarif gewissermaßen. Aber mehr dazu am Ende dieser Ausgabe. Und nun zu den aktuellen Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 07.06.19 – Freitag, 14.06.19) zum Sonderpreis zu haben sind.
In allen diesen Büchern geht es mehr oder weniger um menschliches Glück. Im Besonderen gilt das jedoch im ersten Angebot der Woche: In „Der Hühnergott auf der Fensterbank“ von Karina Brauer kommt, um es zu erlangen, sogar ein sogenannter Glücksbringer zum Einsatz. Ob er das Glück, um das sich die Heldin des Romans so intensiv bemüht, tatsächlich bringen kann, wie es sein Name verspricht?
In seiner Erzählung „Erstarrendes Meer“ geht Albrecht Franke den Hintergründen von Georg Friedrich Händels letztem Aufenthalt in seiner Geburtsstadt Halle nach. Was hat er dort gewollt? Was hat dem berühmten Komponisten diese relativ unbekannte Reise in seine Vergangenheit am Ende gebracht? Und war Händel glücklich oder nicht?
Wie lange reicht „Ein Fingerhut voll Zuversicht“ fragt Christa Grasmeyer in ihrem Buch über eine junge Frau, die durch einen familiären Schicksalsschlag plötzlich vor große Herausforderungen gestellt wird.
In „Einer trage des anderen Last. Roman nach dem Film“ berichtet Wolfgang Held von einer ungewöhnlichen Begegnung zweier junger Menschen in der gerade ein Jahr alten DDR an einem damals gar nicht so ungewöhnlichen Ort.
Um die Träume noch ziemlich junger Leute und um die Wirklichkeit geht es in „Flaschendrehen. Mäxchen und Pauline. Zweites Buch“ von Siegfried Maaß.
Und am Schluss dieser Ausgabe kommt der angekündigte literarische Bonbon – garantiert kalorien- und kostenfrei. Aber mehr dazu wie gesagt erst am Ende. Zuvor wollen wir uns einer Zukunftsgeschichte widmen – einer Zukunftsgeschichte auf der Erde …
Erstmals 1975 erschien im Verlag Neues Leben Berlin in der Reihe „Spannend erzählt“ der Wissenschaftlich-phantastische Roman „Magma am Himmel“ von Carlos Rasch: Bei der dünnsten Stelle des Meeresbodens unter dem Südatlantik gegenüber der afrikanischen Küste rütteln um das Jahr 2450 immer wieder Seebeben am Erdmantel. Sie beunruhigen ein Team junger Leute, die einen automatisch arbeitenden Flotationskomplex unweit ihres Standortes zur Gewinnung seltener Rohstoffe aus dem Meerwasser überwachen. Eine Algenfarm wird von diesem bebenartigen Rütteln ebenfalls beeinträchtigt. Auch die Wissenschaftler an den Universitäten in den afrikanischen Metropolen sind von diesem Novum eines quasi im Gleichschritt auftretenden atlantischen Epizentrums alarmiert. Die Lage wird bedrohlich, als radioaktive Strömungen aus dem Bereich dieses Epizentrums auftreten, die von Rissen des Erdmantels über einer gerade neu entstehenden Magmakammer herrühren könnten. Einige Akademiker glauben unter Sorgenfalten sogar, dass diese Seebeben von einem vor Jahrhunderten verunglückten Atom-U-Boot herrühren oder etwas mit heimlich entsorgten verbrauchten Reaktorbrennstäben zu tun haben. Um Klarheit über solchen Atommüll zu erlangen einigt man sich, eine Zeitverspiegelung vorzunehmen, bei der eine Chrononautin sozusagen als unerkannt lebende Späherin einige Jahrhunderte zurück in die Vergangenheit reisen wird, zu Jochen Märzbach aus „Die Schatten der Tiefsee“. Carlos Rasch, Autor mehrerer utopischer Bücher, lässt diesmal seine Geschichte statt weit draußen im All auf unserer Erde spielen nach dem Motto: Die Zukunft der Menschheit wird auf Erden realisiert und nicht im All! – Auch sind Zukunftsromane keine prophetischen Voraussagen von neunmalklugen Leuten. Hellseher gibt es nicht. Niemand kennt die Zukunft. Utopien sind sozusagen nur eine Spielart der Gegenwartsliteratur, in der jetzt lebende Autoren für heutige Leser gegenwärtigen Erkenntnissen entsprechen. Utopien können nur heutige Hoffnungen und Wünsche oder auch Befürchtungen in literarischen, abenteuerlichen Denkmodellen widerspiegeln. Dazu gehen sie von Wahrscheinlichkeiten nahe gesicherter Erkenntnisse aus. „Magma am Himmel“ erreichte seit seiner Erstveröffentlichung vor nunmehr knapp fünf Jahrzehnten rund 100 000 Exemplare. Und so beginnt der spannende Roman – mit mysteriösen Beobachtungen:
„TEIL I
Das Rätsel im Atlantik
Count down im Zeitlabor
Es kann nur der ein erfolgreicher Wissenschaftler sein, der auch Phantasie und genug Vorstellungskraft besitzt.
Die Nacht der großen Pauke
Schon lange war es Nacht. Aus den Wolken sickerte schwaches Licht. Der warme Wind raubte vom Meer den blanken Glanz der Wellen und streute ihn bis tief ins Land.
Sie standen im Freien vor ihrem Haus und lauschten. Keines der Fenster war erleuchtet. Das große dunkle Gebäude war das einzige auf Meilen entlang der Küste. Nur das leise Rauschen des Wellenschlages drang vom Strand herüber. Es ließ das eintönige Zirpen der Zikaden noch deutlicher werden.
Doch das war es nicht, worauf sie lauschten.
Abermals schwebte dieser eigenartige Summton aus den Hügeln heran. Zuerst kaum hörbar, schwoll das dunkle, melodische Vibrieren rasch an, aber nur so lange, bis es kaum lauter als das Rauschen des Meeres und das Zirpen der Zikaden war, um dann langsam zu verwehen.
Aus einer anderen Richtung drang ein schnarrendes Knirschen herüber, ein Laut, der von keinem Tier stammte. Er gehörte nicht in dieses Land mit seiner afrikanischen Tier- und Pflanzenwelt. Bestenfalls passte er in eine vergangene Zeit, als vor hundert Jahren die Strahlungsfront im Kosmos vorüber zog und Klimaschwankungen mit lang anhaltenden Stürmen auf der Erde auslöste.
Eine kurze Pause entstand, bevor aus der nahen Dschungelinsel eine Kette von Paukenschlägen wie ein unterirdisches Donnergrollen ertönte. Schnell erstarb dieser Wirbel wieder.
Mehrere Minuten vergingen, in denen nichts geschah. Dann nahm fern eine Trommel ohne Regel und Rhythmus ihr hartnäckiges Pochen auf. Dieses Trommeln pflanzte sich fort, kam näher und verrieselte erst dort, wo sie alle den Palmenhain wussten.
Zufällig wandte Ge Nil den Kopf zum Meer. Deshalb sah er, wie eine Segeljacht lautlos durch die Brandung trieb und den Steg erreichte. Während ein Mann das Tuch reffte und das Boot festmachte, kam ein anderer auf das dunkle Haus zu. Sie erhielten aus der Nachbarschaft vom Makrogen der Fischer Besuch.
„Kaik Hans und sein Bruder kommen“, sagte Ge Nil.
Niemand achtete auf seine Ankündigung. Tuo Ibso, Lira Barro, Odetta Morro, Gru Kilmag, Parola Kiss, Rededa Dess, Ari Bomm, Sema Sommer und Sofio Lenn, sie alle standen vor dem Haus in der Nacht und warteten auf das nächste ferne Summen, den nächsten kratzigen Glockenton, auf Paukenschlag und Trommelwirbel.
Kaik Hans stapfte durch den Sand, durchquerte die Dünen und bekam endlich festen, mit Gras bewachsenen Boden unter die Füße.
„Langes Leben“, sagte er zur Begrüßung. „Ihr seid alle draußen?“, fragte er erstaunt. „Was treibt ihr für merkwürdige Dinge? Nacht für Nacht hört man neuerdings aus eurer Gegend Lärm. Ihr weckt mit eurem Trommeln sogar die Leute in Lu-A-Randa und in Mos-A-Dreles auf“, versuchte er zu scherzen.
„Wir trommeln nicht“, sagte Lira Barro.
„Ihr nicht? Wer denn dann?“ Kaik Hans war verblüfft. „Die Delphs sagen doch, ihr macht ein Experiment. Sie haben den Krach bis hinaus aufs Meer gehört.“
„Die Delphs mögen kluge Wesen sein, aber ihr Reich ist das Wasser. Vom Land verstehen sie nicht viel. Wir jedenfalls machen keine Versuche“, sagte Gru Kilmag.
„Na eben, das dachte ich mir auch“, gab Kaik Hans zu. „Wozu solltet ihr trommeln? Ihr habt gewiss genug Arbeit im Tiefbunker bei der Bebenwarte und mit dem Tiefseewerk im Mendele-Graben dort draußen im Atlantik.“
Wieder drang das Summen durch den warmen Wind der Nacht. Und dann sprang ein kurzes Klirren zu den Wolken hinauf.
„Manchmal harft es so beim ersten Morgenrot“, erklärte Odetta Moro leise. „Es hängt mit der Vibration zusammen, die entsteht, wenn abgekühlte windstille Luftmassen über einem weiten flachen Land von den ersten Strahlen der Sonne getroffen werden. Aber diese Geräusche hier haben damit nichts zu tun, denn noch ist es nicht kühl; und bis zum Morgen sind es noch ein paar Stunden.“
Sie horchten auf den Nachhall dieses Harfens, das in dem Singen der Zikaden weiterzuleben schien.
„Es ist geisterhaft“, murmelte Parola Kiss.
„Nun ja, es wirkt unheimlich“, gestand der Besucher. „Aber Geister aus dem uralten Afrika werden es doch wohl nicht sein“, fügte er hinzu und schmunzelte spöttisch.
„Natürlich nicht“, brummte Ari Bomm ärgerlich, weil selbstverständlich niemand an Geister glaubte. Geister gehörten ins Mittelalter, nicht aber in die Epoche des dritten Sternenzeitalters.
„Na also! Dann habt ihr wahrscheinlich schon festgestellt, was da so in der Nacht herumtrommelt“, sagte Kaik Hans und blickte sie neugierig der Reihe nach an.
„Noch nicht.“ Sema Sommer war es, die diesmal geantwortet hatte, aber nur ungern.
Auf dem Gesicht des Besuchers entstand ein verwunderter Ausdruck. Sie merkten alle, wie er über ihre Unschlüssigkeit erstaunt war.
„Ich weiß, was du sagen willst, Kaik Hans, nämlich: Prüft nach, was da vorgeht!“, sagte Rededa Dess. „Wir haben nachgesehen, aber ohne Ergebnis. Wir waren in den beiden letzten Tagen früh am Morgen immer unterwegs, um hinter das Geheimnis der Trommeln zu kommen. In den ersten Nächten haben uns die Trommeln nicht so sehr gestört. Wir schliefen fest. Erst als der eine oder der andere von uns wach wurde, fingen wir an, uns Gedanken zu machen. Und dann haben wir nachgesehen.“
„Na und? Wie sieht das Ergebnis aus?“ Kaik Hans wollte gelassen wirken. Aber die Frage war ihm zu schnell entschlüpft. Sie verriet seine wachsende Spannung an dem rätselhaften Vorgang dort draußen in der Nacht.
„Wir fanden nur Spuren, viele Spuren, kreuz und quer, bis zu zwei Kilometer von unserem Haus entfernt zwischen den Hügeln, an der Dschungelinsel und im Palmenhain. Sogar auf den Dünen vor unserer Terrasse, auf dem Strand bis hin zum Wasser. Dort verschwanden die Spuren“, berichtete Sofio Lenn nüchtern.
„Oder sie führten vielleicht auch aus dem Meer heraus“, sagte Gru Kilmag mit einem versteckten Lächeln.
Unwillkürlich wandte Kaik Hans den Kopf und spähte prüfend zum Steg, um zu sehen, ob die Segeljacht noch wohlvertäut war. Sie bemerkten es und lachten darüber: Parola, Rededa und auch Tuo Ibso. Kaik Hans verübelte es ihnen nicht und stimmte selbst mit ein.
„Töne von Pauken, Trommeln und Gongs haben für gewöhnlich keine Füße, mit denen sie Spuren hinterlassen können“, sagte er.
„Nein, das haben sie nicht“, pflichtete ihm Lira Barro bei.
Plötzlich huschten zwei kleine langarmige schwarze Gestalten geduckt heran und sprangen auf die Arme von Lira Barro und Sofio Lenn. Sie quietschten leise und aufgeregt. Der Gast erschrak und trat unwillkürlich zurück. Es waren aber nur die beiden Gibbons Aka Aki und Aki Ol. Sie waren eines der Affenpärchen aus dem Reservat der nahen Dschungelinsel, mit denen die Gruppe sich angefreundet hatte. Die fremden Geräusche in der Nacht hatten die beiden Tiere ängstlich gemacht und sie von den Schlafbäumen zu ihren großen Beschützern flüchten lassen.
„Sagtest du: Gong?“, fragte Rededa Dess plötzlich. „Wie kommst du auf Gong?“ Ein Verdacht regte sich in ihr.
„Ich meine nicht dieses Harfen, sondern einen anderen Ton, einen Summton. Es klingt, als würde ein riesiger Gong geschlagen, so einer von mindestens zwei Metern Durchmesser“, sagte Kaik Hans.
„Er hat recht“, stimmte ihm Odetta zu. „Auf den Gedanken sind wir noch nicht gekommen. Es hilft uns aber auch nicht, das Rätsel zu lösen.“
„Welcher Mensch macht denn so etwas und schleppt riesige Gongs, Kesselpauken und Trommeln durch die Nacht, nur um sie hier oder dort anzuschlagen“, protestierte Ari Bomm.
„Wieso müssen es Menschen sein?“, fragte Kaik Hans. „Wenn die Spuren bis zum Strand ans Wasser führen, dann kann man den Delphs glauben. Sie haben mir signalisiert: Ein Experiment findet statt, und Technos sind unterwegs!“
Ihr Gespräch verstummte, denn sie hatten undeutlich den schattenhaften Umriss einer Gestalt wahrgenommen, die durch die Dünen stapfte. Gleich danach rollte wieder ein Trommelwirbel durch die Nacht. All dieses Trommeln, Harfen, Summen, Rasseln und Klirren war zu ertragen, nicht aber die dumpfen Paukenschläge, die zwar selten erklangen, dann aber um so mächtiger hallten und mit einem scharfen reißenden Geräusch verbunden waren, das an den Nerven zerrte.
„Technos? Ach, meinst du?“, fragte Parola.
Sofio Lenn schüttelte den Kopf. „Den Spuren im Sand oder im Gras kann man es nur schlecht ansehen, ob sie von Menschen oder von Technos stammen. Von den Gibbons sind sie jedenfalls nicht; die wollen selbst ihre Nachtruhe haben“, sagte er und kraulte Aki Ol das Fell. „Jedenfalls sind wir nicht darin geübt, Spuren zu lesen. Und selbst wenn es Technos wären, müssten doch Menschen damit zu tun haben. Ohne Weisung vollführt kein Techno einen solch seltsamen Lärm in der Nacht.“
„Hört zu!“, sagte Sema Sommer entschlossen. „Jetzt gehe ich nachsehen und nicht erst früh im ersten Tageslicht, wenn die Trommeln schon wieder aufgehört haben.“
„Ich begleite dich“, bot ihr Tuo Ibso an. „Lass uns zu Fuß gehen. Man kann dann besser beobachten.“
Odetta wisperte mit Ari Bomm. „Wir wollen die Sache auch mit auskundschaften“, gab sie dann bekannt. „Aber Ari und ich nehmen einen Schweber. Mit dem stoßen wir sofort bis zur Dschungelinsel durch.“
„Bravo! Gut so“, spornte Kaik Hans ihren Eifer an.
„Nehmt mich mit“, bat Rededa. „Gespenster zu jagen, das würde mir auch Spaß machen. Im Schweber werden uns die vielfüßigen Töne sicherlich nichts anhaben können“, spottete sie.
Während fünf von ihnen zu Fuß oder im Schweber in der Nacht verschwanden, setzten sich alle anderen auf die Stufen, die zum Portal des Hauses hinaufführten.
Aus der Richtung, in die der Schweber geglitten war, zersprang bald etwas mit einem tiefen Glockenton. Die Geräusche erklangen jedoch weiter. Der stetige warme Luftstrom von See her wurde frischer, hörte dann aber ganz auf. Bei der Dschungelinsel stieß das Scheinwerferlicht des Schwebers torkelnd hin und her, als hätten sie dort ein bewegliches Objekt im Strahl, das gejagt wurde.“
Erstmals 2009 und in einer überarbeiteten Fassung veröffentlichte Karina Brauer im Eigenverlag „Der Hühnergott auf der Fensterbank“: Glück schert sich nicht darum, ob es dem Tüchtigen gehört oder durch längst verschlossene Türen kommt oder gar mit Hilfe eines Glücksbringers. Der Roman „Der Hühnergott auf der Fensterbank zeigt genau das. Die Heldin Valeska muss viel tun für ihr Glück, oft genug entrinnt es ihr, aber nie gibt sie sich auf. In ihrem Buch schreibt die Autorin von Freundschaft und Liebe, von Hass und Enttäuschung, von Vertrauen und Verrat. Das Glück, das lernt Valeska, kommt eben nicht von alleine, man muss etwas dafür tun und da ist es gut, wenn man Freunde und Familie hat, die da sind, wenn man sie braucht. Und übrigens: Den Hühnergott gibt es wirklich! Und so geht es los:
„1. Kapitel
Die frühe Abendsonne blinzelte durch das farbige Glas der Fensterscheiben. Bunte Farbenspiele tanzten auf der weißen Tischdecke und verliehen dem ansonsten so sachlich eingerichteten Gastraum eine angenehme Atmosphäre.
Seit einer Stunde saßen die beiden jungen Mädchen bereits im kleineren Gastraum des Lokals. Zunächst hatten sie Kaffee getrunken und nun stand vor jeder ein Glas Club-Cola. Zweimal schon hatte der Wirt durch kräftiges Räuspern darauf aufmerksam gemacht, dass sie zu laut waren, dabei war der Lärmpegel im hinteren Teil, im sogenannten Tanzsaal der Gaststätte „Zur Rebe“ erheblich intensiver. Die Mädchen hatten genickt, ohne sich nach dem Wirt umzusehen. Warum sollten sie es auch tun? Heute war alles anders, das hatten sie bereits beim Eintreten bemerkt. Heute war die eigentliche Chefin, die Frau des Wirtes, wieder einmal erschienen und die duldete eben keine lachenden jungen Mädchen – im Gegensatz zu ihrem Mann. Wie oft hatten die beiden Freundinnen schon darüber gerätselt, was diese Frau, die sie noch niemals freundlich gesehen hatten, einst so begehrenswert für Herbert Schmalbier gemacht hatte. Schmalbier – ein passender Name für den Kellner eines Weinlokals! War sie früher netter oder war es einfach nur das Geld, das ihre Familie besaß? Zu einer Lösung fanden die Mädchen nie. Wenn sie über dieses Rätsel „sinnierten“, wie sie es nannten, wurden beide nur immer lustiger. Aber eigentlich, eigentlich interessierte die Mädchen Frau Schmalbier, diese verbitterte Frau, auch nicht wirklich.
Nun also ein erneutes Räuspern direkt neben ihnen. Das Lachen unterdrückend sah Valeska, das Mädchen mit der aschblonden Kurzhaarfrisur, zu ihrer schwarzhaarigen Freundin Susanna und dann auf die Beine neben ihrem Tisch. Das Herz blieb ihr fast stehen. Sie sah nicht wie erwartet schwarze Kellnerhosenbeine, sondern eine grüne Uniformhose! Schnell blickte das Mädchen auf. Ein Polizist! Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, ohnmächtig zu werden. Der große blonde Mann lachte sie jedoch freundlich an und fragte mit angenehmer Stimme, ob er und sein Kollege sich zu ihnen setzen dürften. Susanna Seifert, die Freundin, hatte sofort, ohne Valeskas Zustimmung abzuwarten, bejahend geantwortet, also eigentlich hauchte sie dieses „Ja“ mehr. Währenddessen strich sie sich sogleich durch ihre langen Haare.
Noch während die beiden Männer Platz nahmen, verschwand Valeska eiligst zur Toilette. Der erstaunte Blick des Blonden entging ihr dabei natürlich. Aber außer ihm hatte sich ohnehin niemand über Valeska gewundert, niemandem sonst war ihre sonderbare Reaktion aufgefallen.
Valeska zog schnell die Tür zur Toilette hinter sich zu. An der Wand lehnend kam sie in dem kleinen Kabüffchen langsam wieder zur Ruhe. Nach einer Weile drehte das junge Mädchen den Wasserhahn auf und ließ das kalte Wasser über ihre Hände fließen. Das tat gut. Dann hielt sie auch ihr Gesicht unter den inzwischen eiskalten Strahl. Endlich betrachtete sie sich im Spiegel, noch immer war ihr Gesicht weiß, so weiß wie die gekalkten Wände um sie herum. Das Angstvolle darin war jedoch inzwischen verschwunden. „Du Dummchen, hast du wirklich gedacht, du sollst verhaftet werden! Reiß dich zusammen und geh wieder zurück! Dir passiert doch nichts!“, sprach sie leise zu sich. Nun straffte sie ihren Körper, lächelte ihr Spiegelbild an und sprach sich laut Mut zu: „Ich habe keine Angst!“
Valeska griff zur Tür, die im nächsten Moment energisch von außen aufgestoßen wurde. Die Schmalbiersche stand ihr gegenüber. „Ich dachte schon, Sie kommen gar nicht mehr raus!“, presste die garstige Frau mehr als vorwurfsvoll durch die fast verschlossenen Lippen. Wortlos ging Valeska an ihr vorbei. Am Tisch wurde sie bereits erwartet. „Du trinkst auch einen Weinbrand mit?“, fragte sie der Nichtuniformierte. Eigentlich hatte Valeska gerade verneinen wollen, da spürte sie einen ziemlich starken Tritt an ihr Schienbein. „Natürlich trinkst du auch einen mit, nicht wahr, Floh! Schließlich sind wir nur einmal so jung!“, antwortete Susanna für Valeska. Der Mann rief dem Wirt die Bestellung zu, ihn interessierte Valeskas Antwort ohnehin nicht. Valeska schwieg, enttäuscht blickte sie die Freundin an. Valeska schien es, als stünde auf Susannas Stirn in Leuchtreklameschrift: Sei jetzt bloß nicht schon wieder so ein Spielverderber!
Wahrscheinlich hätte die schwarzhaarige Susanna noch mehr gegen Valeskas Schienbein getreten, wäre nicht der Kellner mit den Getränken gekommen. Valeska schickte der Freundin einen bösen, einen bitterbösen Blick über den Tisch. Der wurde aber von der Freundin mit einem spitzbübischen Lächeln ignoriert. Valeska mochte Susanna Seifert wirklich gerne, aber sie hasste es, wenn die Freundin immer völlig ausflippte, sobald ein Mann in ihrer Nähe war, der ihr auch nur ein wenig Aufmerksamkeit schenkte. Susanna behauptete gar selbst, sie könne nichts dafür, dass sie so „mannstoll“ sei. Nach ihrer Meinung war es sehr wichtig für eine moderne Frau und so eine wollte sie schließlich sein, wenn sie jede Gelegenheit, die sich bot, auch nutzte. Aber wahrscheinlich war es nur die Angst, alleine zu bleiben. So ein Quatsch natürlich! Mit ihren 19 Jahren und ihrem Aussehen, aber vor allem wegen ihrer ansonsten so liebenswerten Art brauchte sie das nun wirklich nicht anzunehmen.
„Du heißt Floh?“, fragte nun der ältere der beiden Männer, der Zivilist, und er wollte dabei sehr witzig wirken. „Nein“, war die kurze Antwort Valeskas. Was ging diesen Fatzke ihr Name an. Er war ihr unsympathisch, sehr sogar, das konnte er ruhig merken. Der Mann sah sie ein wenig verwirrt an. Bevor die Peinlichkeit dieser Situation sich noch weiter ausdehnen konnte, zog Susanna den Typen auf die Tanzfläche. Der Freundin zeigte die nun Tanzende einen Vogel. Na und, das hatte sie umsonst!
Zurück blieb Valeska mit dem schweigsamen Polizisten. Er betrachtete sie die ganze Zeit schon unaufdringlich und freundlich. Nun nahm er sein Glas Cola und prostete ihr zu. „Ich heiße Jürgen, Jürgen Winterstein. Tut mir leid, dass mein Kollege so …“, er suchte nach Worten. „Ich meine, ähm, also nehmen Sie es ihm bitte nicht übel. Wissen Sie, er ist heute geschieden worden und das will er feiern.“
Das Mädchen sah ihn freundlich an, nickte und sagte dann leise: „Ich bin Valeska. Freunde nennen mich Floh, aber eben nur meine wahren Freunde, wenn Sie verstehen, was ich meine?“ Er verstand …“
Erstmals 1995 präsentierte der Magdeburger Verlag Blaue Äpfel „Erstarrendes Meer.
Eine Erzählung über Georg Friedrich Händels letzten Aufenthalt in Halle“ von Albrecht Franke: Frühherbst 1750. Georg Friedrich Händel, erfolgreicher Komponist und Musiker, mehr Engländer schon als Deutscher, reich, prätentiös, arrogant, einsam, nachdenklich und oft unsicher, ist zu einem Besuch in seine Geburtsstadt Halle gekommen. Die Garnisons- und Universitätsstadt an der Saale freilich hat wenig zu bieten, wenn man aus London kommt. Was will der alternde Komponist, dem in London Herzöge, Sängerinnen, Kastraten und Musikunternehmer zu Füßen liegen, hier? Man erinnert sich seiner kaum noch, Erfolge auf der britischen Insel oder in Dublin interessieren in Halle nicht sehr. Und ein Geschäftsmann wie Händel nahm die Schwierigkeiten einer Reise aufs Festland nur in Kauf, wenn es galt, Sänger oder Musiker einzukaufen, oder wenn es galt, die Arbeitsfähigkeit durch fast gewaltsame Kuren wieder herzustellen. Diese Reise ohne rechten Grund jedoch ist verbürgt und so gut sonst Georg Friedrich Händels Biografie bekannt ist: Über die Tage in Halle 1750 weiß man nur wenig. Albrecht Franke füllt die Lücken mit einer Erzählung, in der der äußere Glanz des erfolgreichen Künstlers mit dessen innerer Not konfrontiert wird. Händel hat begründete Angst zu erblinden. Und wie unter dem Zwang, alles zu sehen und aufzubewahren, wächst die Musik des Oratoriums „Jephta“ in ihm auf der biblischen Geschichte eines Mannes, der dem Erfolg als Feldherr das Liebste opfern will. Und die Jephta-Musik wird in London geschrieben werden, im Kampf gegen die Erblindung. Werfen wir einen Blick in das 4. Kapitel:
„Der erwünschte, selten gewordene Zustand schon während des Aufwachens: frisch, die Schwere des Körpers nicht spürend, in froher Erwartung des beginnenden Tages und seiner Möglichkeiten. Vor dem Fenster Helligkeit, Sonnenschein, Wind, schnell ziehende große Wolken, eine von kurzen Regenschauern gewaschene Straße. Ein Hauch Londoner Atmosphäre, ein Morgen nach seinem Geschmack. Er genoss die Daseinslust, die Übereinstimmung mit sich selbst. Eine Weile stand er am Fenster und sah den Tauben auf den gegenüberliegenden Dächern zu. Der Wirt erwies sich als gewissenhafter Befehlsausführer. Keine der Anordnungen war vergessen worden. Der Hausknecht quälte sich zwei, drei Sätze über den Wetterumschlag ab, als er das warme Wasser hereinbrachte. Barbier und Zimmermädchen erschienen, fragten immer wieder, ob alles zu seiner Zufriedenheit wäre. Kühlende Duftwässer wurden auf ihn gespritzt, die Magd brachte das zerwühlte Bett in Ordnung, putzte und polierte an den Möbeln herum. Sie schlichen hinaus, als sie fertig waren. Das Frühstück, unterdessen im Schankraum serviert, genügte herrschaftlichen Londoner Ansprüchen. Er fand nichts auszusetzen. An diesem Morgen blickte er ausschließlich in lächelnde Gesichter, glaubte, wieder fähig geworden zu sein, die natürliche Freundlichkeit seiner Umwelt bemerken und sich daran freuen zu können. Hingerissen von seiner guten Stimmung, entschloss er sich zu einem Fußmarsch.
Ich werde den Versuch eines Schrittes in die Vergangenheit wagen.
Auf der kleinen Freifläche vor dem Gasthaus setzte er sich dem Wind aus, um den Gesichtsschweiß trocknen zu lassen, der während des Frühstücks ausgebrochen war. Über ihm ein Himmel, der sein Aussehen innerhalb kürzester Zeit änderte. Kalte Regentropfen fielen trotz greller Sonne. Dennoch ging er los.
Welche Richtung einschlagen? Die lächerliche, lästige Frage, auf die ich keine Antwort habe. Mir ist seit eh und je nur das Vorwärtstrampeln geblieben. Wenn nötig, mit gesenktem Kopf, in der Pose des Stiers. Gegen die Wände, gegen jedes Bollwerk Ein Kämpfer, der es sich nicht leisten kann, mehr als einen Abend für Grübeleien und Spintisieren daranzugeben, der sich durch den dicksten Dreck wühlt und dabei harmonische, aufmunternde Klänge produziert
Die nicht umzubringende Frohnatur Händel. Der gutmütige Polterer. Der kuriose Flucher. Goldenes Gemüt unter rauer Schale. Diese Rolle habe ich mir aufzwingen lassen und sie mit Lust und Fleiß gespielt. Bis hin zu den Revolten meines Körpers, bis zum drohenden Versagen des Verstandes. Hinterher haben mir die Quacksalber meine Zustände haarklein erzählt, als hätten sie eine gute Oper oder eine grausige Tragödie gesehen. Die schrecklichen Details haben sie genussvoll ausgemalt. Den blutig gefärbten Schaum vor dem Mund, die unwillkürliche Entleerung von Blase und Darm. Einmal haben sie mich sogar zum Lachen gebracht, als sie mich mit einer im Feuer zum Glühen gebrachten Granate verglichen, die kurz vor der Detonation stand. Es sollte ein besonders eindrucksvolles Exempel sein. Ich lachte darüber. Und Doktor Snowder schrie, dass mich die nächste dieser innerlichen Explosionen ins Vakuum, ins absolute Nichts stürzen könnte. Ich musste so unmäßig lachen, dass der Arzt im Zorn mein Haus verließ.
Über ihm brach das Geläut der Marktkirche los, das zu ohrenbetäubender Stärke anschwoll. Die Luft schien zu flimmern, Vögel flatterten auf wie nach einem Schuss. Ich könnte hingehen. Auf vertrautes Terrain. Mir den kleinen Händel, den Lieblingsschüler des Kantors Zachow, auf dem Wege zum Unterricht vorspielen. Die Noten und die Kompositionsübungen in der ledernen Mappe, um die geliebten Papiere vor Schneebällen, Dreckklumpen und Spucksalven der Gassenjungen zu schützen. Die Banden trieben sich in verlassenen Häusern herum, immer waren sie in der Stimmung, ein wohlgenährtes Bürgersöhnchen erst bis zur Weißglut zu reizen und dann zu demütigen. Die Gänge zu Zachow wurden zu atemlosem Rennen und Zusammenzucken vor jedem Schatten. Die letzte Kraft verbrauchte sich beim Aufdrücken des schweren Hauptportals. Das war die Grenzlinie, weiter wagten sich die Verfolger nie, aus Angst vor der neunschwänzigen Katze des Küsters. Im Inneren eine andere Welt: das flackernde Licht, von der Empore Zachows Stimme, das Orgelmanual, die aufschwellende Musik. Schwäche oder Feigheit waren dann nicht mehr vorstellbar, obwohl ich auf den Heimwegen noch schlimmer gehetzt wurde.
Händel schwang seinen Stock wie einen Degen, als müsse er sich wieder der Strolche erwehren. Er hörte die Stimme seines Vaters, der ihm riet, zuzuschlagen, gleichgültig, wohin er treffe. Solche Erinnerungen hatten nicht einmal die Apoplexien zerschmettern können. Das blieb jederzeit vorstellbare, einfache Vergangenheit. Andererseits existierte in ihm schattenhaft eine andere, komplizierte, in der er sich selbst als Fremder gegenüberstand, wie beim Blick in einen alles verdrehenden und verbiegenden Spiegel, er hatte es am Vorabend im Weinrausch erlebt.
Habe ich zum Beispiel das Läuten ebenfalls als schmerzhaft empfunden, als der Vater gestorben war? Oder war ich, im Gefühl, Freiheit erlangt zu haben, schon in musikalische Projekte versunken? Die Außenwelt kann ich immer an schöner innerer Musik abprallen lassen. Ich sehe mich einem mit schwarzen Tüchern behängten Karren hinterhertrotten. Aber es bleibt ein starres, schlecht gemaltes Bild. Ich weiß nicht mehr, was ich damals fühlte. Da hilft keine Denkanstrengung. Im Gegenteil, ich löse damit eine innere Leere aus, die sich nicht einmal mit Melodien füllen lässt.
Im Selbstgespräch stolperte er dahin, geriet in morastige Löcher, seine Knie knickten ein, er bewegte sich vorwärts, ohne es noch zu merken. Erst nach geraumer Zeit wurde es ihm wieder möglich, seine Umgebung zu registrieren. Gassen. Schräge Dächer. Steile Winkel. Überhängendes. Herabstürzendes. Er wünschte sich weg. Oder wenigstens in eine belebte Straße. Spielende Kinder, denen er ein Geldstück schenken könnte. Londoner Geschäftigkeit. Halle bot ihm dauernd die Vision einer Stadt in der Unterwelt. Er darin wie ein Mann, der dazu verflucht ist, von seinem eigenen Tod nichts zu wissen, herumirrend und nach einem Grund für das allgegenwärtige Schweigen suchend. Misstrauisch sah er sich nach seinem Schatten um. Der folgte ihm jedoch, zwar unförmig gekrümmt und immer wieder verschwindend, wenn die dichter werdenden Wolkenzüge die Sonne bedeckten, aber sofort wieder auftauchend bei stärkerem Licht. Das Spiel mit dem Schatten erinnerte ihn an die Cuzzoni, an ihr Auftauchen im Frühsommer dieses eigenartigen Jahres. Plötzlich war ein aufsässiger Armeleutegeruch in sein Arbeitszimmer geweht, wo er zwischen Cembalo und Schreibtisch hin- und herwanderte und die Ouvertüre eines Interludiums zusammensetzte. Noch in der Erinnerung spürte er etwas von der Fröhlichkeit des Tages, an dem die Arbeit voranging. Der beißende Geruch hatte sich schnell ausgebreitet, den Duft von Parfüm, Rotwein und Putenbraten verdrängend. Nicht einmal Tabak, eine vorzüglich abgelagerte Ware aus Holland, war dagegen angekommen. Das Air seines Hauses, die behagliche, von bürgerlicher Wohlhabenheit geprägte Atmosphäre war verpestet. Ohne dieses Stimulans konnte er nicht mehr komponieren, das hatte sich mit den Jahren ergeben. Aus kalten Zimmern mit kahlen Wänden und einem leeren Magen kam bei ihm keine Musik. Zum Habenichts und Hungerleider war er nicht geschaffen. Ärgerlich hatte er den Raum verlassen, um die Ursache der Störung zu ergründen. Im Souterrain hockte Francesca Cuzzoni und stank. Eine der besten Primadonnen, die er je gehabt hatte. Es dauerte eine Weile, bis er sie erkannte. Sie hatte ihm nicht geholfen, im Gegenteil die Peinlichkeit ausgekostet, die sie verbreitete. Seine Verlegenheit und Überraschung ausnutzend, begann sie mit Gezeter und Gekeif, einer Mischung aus Italienisch und Englisch. Ein Häufchen Elend, die erbarmungswürdige Karikatur einer Despotin, die einmal so berühmt gewesen war, dass sie das Publikum und die Musiker wie Sklaven behandeln konnte. Unsummen waren ihr vor Jahren für ihre Auftritte gezahlt worden. Sie hatte sich wie eine Herzogin gekleidet, Kutsche, Zofen, Lakaien gehalten, Bankette mit Feuerwerk und nächtelangen Besäufnissen veranstaltet. Ihre Raserei hatte erst mit dem letzten Shilling geendet. In einem zerrissenen, befleckten Kleid, ohne Perücke, mit zerzausten, schmutzigen Haaren, das Gesicht aschgrau und verschmiert, die Lippen aufgerissen und schorfig, schrie sie Bierkutscherflüche und Verwünschungen, lamentierte über das kalte, unfreundliche und vor allem undankbare London, wo niemand sie mehr kennen wollte. Gauner hätten sie und ihr Talent schamlos ausgeplündert, sich auf ihre Kosten Fettwänste angemästet, dass einem übel werden könnte. Noch immer sei sie, Francesca Cuzzoni, eine der ganz großen Sängerinnen, wenn nicht gar die erste Dame der Gegenwart. Übergangslos hatte sie um Hilfe, ein warmes Essen, ein Benefizkonzert, ein paar Guineas zu betteln begonnen, sich als Sängerin für Oratorien und Anthems angeboten, die seiner musikalischen Intuition erst den rechten Ausdruck verleihen werde. Von Schlampen wie Giulia Frasi werde Händelsche Intuition nur verhunzt. Jede Waschfrau hätte die Partie der Theodora besser gesungen.
Die alte Vettel wusste ganz genau, dass mich der leere Saal bei diesem Oratorium immer noch schmerzte. Nach diesem Hieb war es ein Genuss für sie, von den alten Zeiten anzufangen. Die alten Zeiten. Es hatte sie gegeben, auch wenn sie furchtbar weit zurückliegen. Wie immer überwältigte mich auch diesmal das Mitleid schnell. Gerührt war ich sogar von der offenbaren Anhänglichkeit der Zankhexe, die mir oft genug das Leben zur Hölle gemacht und mich dutzendfach verraten, blamiert und öffentlich geschmäht hat. Manchmal habe ich sie so gehasst, dass ich ihr den Tod am Galgen wünschte. An jenem Tag jedoch konnte ich nur wieder das Bündel Unglück sehen, dem es immer noch nicht gelang, mit seinem Leben zurechtzukommen. Immer mehr Menschen scheinen diese Aufgabe nicht bewältigen zu können. Eigenartig, dass gleichzeitig allerorts verkündet wird, es gäbe nur ein Leben, danach sei Schluss, und zwar endgültig. Auch wenn ich das nicht glauben kann und will, die umherspukende neue Anschauung ist faszinierend. Manchmal zittere ich bei dem Gedanken an mein kurzes Leben, während ringsum Leben nur ertragen oder sinnlos hingebracht wird. Die Londoner Zuchthäuser sind überfüllt, hier wird es nicht anders sein. Bis in meine Träume verfolgen mich Geschichten von Mord und Totschlag. In den Ginspelunken saufen sich die Gossenaspiranten um den Rest ihrer Würde. Fürchterliche Krankheiten machen die Runde. Alles ist käuflich, nichts, was nicht mit Geld aufzuwiegen wäre. Schon die Ausdünstung solcher Zustände verdirbt mir die Lust am Komponieren. Allerdings nie für lange. Denn ich will der Mensch sein, der über sich und seine Umstände hinauswächst. Aber kann ich es wirklich?
Er hatte zuletzt laut gesprochen, in der engen Gasse erscholl ein hämisches Echo. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Händel stolperte weiter, lenkte seine Gedanken zur Cuzzoni zurück. Keine Stunde hatte es gedauert, dass sie gebadet und im Kleid einer Opernprinzessin, das noch im Hause herumgelegen hatte, Wein schlürfend, unablässig Fleisch- und Brotbrocken schlingend, in seinem Arbeitszimmer residierte. Ohne es zu wollen, erfreute er sich an dem genießerischen Malmen, am sanften Klirren des Glases und an dem Rascheln des pompösen Kleides. Zwischendurch entwickelte die Cuzzoni mit wieder melodiöser Stimme ihre Pläne. Neue Auftritte in Covent Garden. Oder im Theatre Royal. Noch besser ein Pöstlein als Gesangslehrerin für adlige Töchter. Er, Händel, Esquire, habe doch die nötigen Beziehungen. Zumal als Musikerzieher der königlichen Familie. Ihm stehe eine Welt offen. Einer wie Händel brauche nur mit den Fingern zu schnippen oder mit dem Geigenbogen zu klopfen, schon stehe die ganze Bande stramm. Niemand in ganz England wage es, diesem musikalischen Bären etwas abzuschlagen. Sie hatte kreischend aufgelacht Händel verdientermaßen ganz oben, Francesca Cuzzoni ganz unten. So sei das eben mit der Gerechtigkeit in britischen Landen. Er hatte sich ans Cembalo gesetzt. Akkorde. Ein gewittriger Abend mit früher Dunkelheit. Sie hatte den Diener weggeschickt, der die Kerzen anzünden wollte. Sie war durch das Zimmer getänzelt. Nur gesungen hatte sie nicht. Er erinnerte sich jetzt, dass er die gleichen Akkorde noch einmal geschlagen hatte, etwas kräftiger und härter vielleicht. Dazu eine Arie oder ein fröhliches Lied verlangt hatte. Sie sollte zeigen, ob sie der in London ansässigen Konkurrenz noch die Stirn bieten konnte. Die Stille schien daraufhin noch dichter zu werden. Nicht einmal das Rumoren des Hauspersonals, das sonst nie etwas leise tun konnte, war zu hören gewesen. Er hatte sich belauert gefühlt und gedacht, dass es den Literaten ähnlich zumute sein musste. Die erzählten jedem, dass sie von geheimen Agenten und Spezialschnüfflern verfolgt würden, die den Grad ihres Nonkonformismus herauszufinden hätten. Ein schwacher Donner und das Geräusch sanft einsetzenden Regens. Er schaute zum Himmel, als müsse er sich vergewissern, dass er wirklich in Halle war. An dem Abend war er mit seinen Händen über das Manual gefahren, bis ein aggressiver Klang entstand. Im Sessel regungslos die Cuzzoni, ein Hutzelweib im Dämmerlicht. Eine tückische Alte, die sich, um Zeit zu gewinnen, nach dem Ausmaß der Ergebenheit erkundigte, die die Prinzessinnen ihrem Lehrer während des Klavierunterrichts bezeigten. Welche Griffe man übe. Wie viele Stunden pro Woche er noch aushalte. Ihr Gelächter klang jung und übermütig. Derartiges meinte er an warmen Sommerabenden aus den offenen Fenstern von Bordellen gehört zu haben. Die Anspielungen hatten ihn geärgert. Überall Verdächtigungen und Unterstellungen. Wie oft waren solche Gerüchte oder andere ausgestreut worden. Über das in seinem Schädel eingetretene Chaos zum Beispiel. Oder seinen kurz bevorstehenden finanziellen Ruin. Wem man anders nicht beikommen konnte, dem wurde es mit Rufmord besorgt. Das war so in London. Er erlebte auch jetzt, wie die Luft vor seinen Augen zu zittern begann. Er schlug mit der Faust auf die Tastatur und schrie, dass sie zu singen habe, er befehle es als ihr langjähriger Operndirektor. Und wenn ich nicht singe, hörte er sie fragen. Wirfst du mich dann aus dem Fenster? Sie hatte sich wie ein Schatten genähert, hockte vor ihm, begann, an seiner Kleidung herumzuknöpfen. Obwohl er sich innerlich sträubte, lachte er. Er verspürte weder Verlangen nach ihrem Frohsinn noch nach ihren Manipulationen. Vor Jahren waren sie mit grotesken Geschichten durch den Klatsch der Salons gezogen worden, die immer darauf hinausliefen, dass er der Primadonna unter Androhung und Einsatz von Gewalt seinen Willen in Fragen des Gesangs aufzwingen wollte. Als wäre das je nötig gewesen. Zwischen ihnen standen die Dinge anders. Aber darauf waren nicht einmal die bösartigsten Verleumder gekommen. Natürlich hatte es Skandale gegeben, bei denen Geschirr auf den Fußboden flog oder Notenblätter in Fetzen gerissen wurden. Die wildesten Auftritte waren stets die Präludien zu den Liebesvereinigungen gewesen, deren er sich auch nach langer Zeit in aller Deutlichkeit entsann, die nicht im grauen Strom der Erinnerungslosigkeit versunken waren. Von der virtuosen Liebesfähigkeit Francescas hatte er sich ohne Widerspruch führen lassen, weiter als von jeder anderen Frau. Das Maß der Übereinstimmung und Gleichzeitigkeit, das sie dabei erreichten, hatte ihn manchmal zu verschreckten Monologen inspiriert, in denen er sich die Frage vorlegte, ob die Primadonna mit dem unschönen Gesicht vielleicht die ihm bestimmte Frau sei, mit der er sein Leben verbringen müsste. Händel lachte jetzt auf bei dem Gedanken, dass es ihm immer noch gelungen war, solche Überlegungen als Grillen abzutun, bevor sie ihn zu Handlungen veranlassen konnten, die ihn seine Unabhängigkeit gekostet hätten. Und die Einsamkeit, die er zur Arbeit brauchte. Er sah vor sich, wie an jenem Abend die alten, geübten Abläufe gelangen. Den fast dunklen Raum, sein Schlafgemach. Das Wetterleuchten. Wie sie sich gegenseitig in die Ekstase trieben mit kundigen Bewegungen, die nicht die Schwere ihres Alters hatten. Rauschend schien die Zeit rückwärts zu laufen und in Wellen durch seinen Körper zu fluten, als er, von der Atemnot fast zersprengt, in den Lehnstuhl getorkelt war. Die Cuzzoni wie ein schwarzer Pfahl auf dem Bett. Als ihm das Sprechen wieder möglich gewesen war, hatte er gesagt, dass ihre Verbundenheit eigentlich die eines alten Ehepaares wäre und sich nach ihrem Mann, dem Signore Cuzzoni, erkundigt. Jetzt, von der Erinnerung eingeholt, überlegte er, ob er aus Höflichkeit, Bosheit oder Angst gefragt hatte. Er fand keine Antwort. Auch von Francesca hatte er keine bekommen. Sie war eingeschlafen und schnarchte. Endlich war Licht gebracht worden, er wusste nicht mehr, ob er es befohlen hatte oder ob der Dienerschaft die Stille im Hause unheimlich geworden war. Ihn schauderte beim Anblick von Francescas herunterhängendem Unterkiefer. Sich neben sie zu legen, brachte er nicht über sich und nächtigte im Gästezimmer. Am anderen Morgen, er war in dem ungewohnten Bett schon kurz nach Sonnenaufgang erwacht, geschah es ihm, dass er die Erlebnisse des Vortages nicht als eigene akzeptierte. Durch seinen Kopf wirbelte Musik, die Liebesvereinigung mit der Cuzzoni erschien ihm wie eine Opernaufführung. Er hatte laut über das Vorgefallene gelacht, die Haushälterin aus den Federn gejagt und sich Tee, frisches Brot und eine Pfanne Rührei und Schinken vorsetzen lassen. Danach schloss er sich mit einer größeren Quantität Tabak und zwei Bouteillen französischen Weines im Arbeitszimmer ein und verließ es erst wieder, als die Ouvertüre fertig war und seine Därme rebellierten. Wie ein Dieb schlich er durch das eigene Haus. Trotz aller Vorsicht stand die Cuzzoni zwischen Cembalo und Schreibpult, als er zurückkam. Das Erscheinen eines Gespenstes hätte ihn nicht mehr erschrecken können. Die Cuzzoni war betrunken und wollte singen. Früher hatte es bei ihr auch nach fünf, sechs Gläsern keinen Patzer gegeben. Jetzt war ihr Gesang katastrophal. Nicht die einfachste Arie hielt sie noch durch. Sie flüchtete in Weinkrämpfe. Sein Mitleid war so groß gewesen, dass er Tobsuchtsanfälle improvisierte, um ihr zu signalisieren, dass er ihre Bemühungen goutierte. Dabei hatte er bemüht klingenden Gesang seit jeher verabscheut. Natürlich dahinfließen musste alles, ein Bach, ein Strom, ein Meer. Er hatte die Melodien geändert, gespielt, als habe er ein Kind vor sich. Mehr als Gekrächze, das ihm Schweißausbrüche verursachte, war nicht herausgekommen. Über die folgenden Tage musste er sich mit seiner Arbeit retten. Er komponierte wie wild, stellte sich selbst dringende Termine, brachte es fertig, der Cuzzoni kaum noch zu begegnen. Sie sahen sich allenfalls bei Tisch und gingen ohne Gier miteinander um. Das Geld und die Empfehlungsschreiben an Theaterunternehmer und Lehranstalten in der tiefsten Provinz hatte er ihr vom Diener überbringen lassen.
Erleichtert war ich, als sie eines Tages ohne Abschied verschwand. Unter ihrem Bett fand man leere Flaschen, aus denen es immer noch nach Wacholderschnaps roch. Kurz danach tauchten die Gerüchte auf. Die abgewirtschaftete Primadonna werde von der Polizei observiert. Sie stehe im Verdacht, Giftanschläge vorbereitet und ausgeführt zu haben. Ich hätte zu arbeiten, antwortete ich den eifrigsten Zuträgern und Flüsterern. Man möge mich mit Ablenkungen jeglicher Art verschonen. Keiner ahnte, wie dünn die Haut meiner äußeren Gelassenheit geworden war. Das Wiedersehen hatte mich erschreckt und aufgewühlt, Furcht bemächtigte sich meiner. Die nackte Cuzzoni, das war wie das Überschreiten einer fürchterlichen Grenze gewesen. Ihre Lebensgier wirkte auf mich wie eine Botschaft von Krankheit, Vergänglichkeit und Tod. Der Geruch der Armut und die Ginwolken vermischten sich in ihrer Nähe zum Dunst der Unabänderlichkeit. Warum sonst trieb es mich, unbedingt alles zu ordnen, die Finanzen und sonstigen Besitztümer zu sichten, ihre Verteilung zu erwägen und ein Testament abzufassen? Eine mühevolle Arbeit. Aber sie beruhigte mich, gab mir die Zuversicht, gegen die Cuzzoni gewappnet zu sein, falls sie zurückkäme. Trotzdem blickte ich mithilfe eines Spiegels durch ein Seitenfenster auf die Straße, bevor ich hinausging. Das wie eine Krankheit ausbrechende Reisefieber hatte auch damit zu tun. Tagsüber Unruhe und Umgetriebensein, nachts in den Träumen Halle, Halle und noch einmal Halle. Plötzlich packte mich die Angst, ich könnte zu spät kommen, in Blindheit versinken, erstarren wie die Bilder der Vergangenheit
Ihm fiel ein, dass der Entschluss, die Fahrt ins Ungewisse auch mit fünfundsechzig zu wagen, ihm zusätzlich erleichtert worden war durch mehrere unangenehme Vorfälle und Skandale, die sich in seiner Nähe ereignet und mit ihm zu tun hatten. Die Überfalle auf Besucher seiner Oratorienaufführungen in Covent Garden nahmen immer mehr zu. Im Gewirr der Kutschen und Fußgänger wurde dreist gestohlen, Geldtaschen wurden aufgeschlitzt oder abgeschnitten. Ringe, Ketten und Broschen verschwanden, adlige Damen wurden belästigt, von Vergewaltigungen wurde gemunkelt. In dem Gemenge schlugen Knüppel und Kavaliersdegen lustig auf vermeintliche Banditen los, während Straßenjungen das Publikum mit Pferdeäpfeln bewarfen. Unweit der Brook Street wurde aus dem Fenster eines unbewohnten Hauses eine Flinte abgefeuert, unter den Passanten brach eine Panik aus. Ein ihm fest zugesagtes Gemälde wurde vom Makler, der stets unaufgefordert seine freundschaftlichen Gefühle für den deutschen Maestro betonte, an einen frischgebackenen Herzog mit guten Beziehungen zu Geschäftsleuten und Politikern verschachert. Der Zustand seiner Augen verschlechterte sich. Nach zwei, drei Stunden Arbeit begann die Umwelt hinter einem Vorhang aus blaugrauem Rauch zu verschwimmen, sein Gang wurde dann unsicher, er prallte gegen Möbel und Musikinstrumente, wenn er aus seinem Zimmer kam.
Der Cuzzoni habe ich den Gesunden vorgespielt. Ich fürchtete die Offenheit der alten Hexe wie die Pest. Die hat sich die letzte Zurückhaltung abgewöhnt, gnadenlos nennt sie die Dinge beim Namen, wenn sie nicht mit ihrer Stimme zu tun haben. Es wäre eine Lust für sie gewesen, Merkmale des Verfalls an mir konstatieren zu können. Für mich ist es besser, zu schweigen und nach Halle zu fahren. Vielleicht treten die Symptome hier weniger deutlich auf, vielleicht stellt es sich heraus, dass es sich um Hypochondrie handelt.
Er kam auf einmal leichter voran, die Straße war gepflastert. Große Regentropfen trafen ihn. Er duckte sich nicht, der Regen in Halle schien nicht so kalt wie der Londoner zu sein. Wieder das Geläut der Marktkirche. Vor sich hatte er sein Gasthaus. Er war im Kreise gegangen. Das war ihm gleichgültig. Plötzlich aber war ihm eingefallen, dass dieser Tag ein Sonntag war. Das war wichtig. Dieser banale Umstand erklärte die unheimlichen, leeren Straßen. Die braven halleschen Kirchgänger saßen in den Gottesdiensten.
Ich hätte zu einem gehen, mich als Organist anbieten können. Vielleicht hätten sich meine Gedanken in eine ganz andere Richtung bewegt. Die Cuzzoni, immer wieder die Cuzzoni. Die alte Vogelscheuche. Außerdem bin ich auf Reisen, um meine Tage auf andere Art und Weise hinzubringen als in London. Ich kann dort noch genug grübeln. Später. In der Dunkelheit. Wenn ich nichts anderes mehr tun kann. Die Pflicht des Wirtes wäre es gewesen, einen Fremden auf Landesübliches hinzuweisen. Ich bin hier ein Fremder. Ob der Kerl überhaupt weiß, dass auf der britischen Insel ein anderer Kalender gilt? Und wenn er es weiß, wird er denken, dass man sich in Preußen gefälligst den einheimischen Kalendern, Sitten und Gebräuchen anzupassen hat, man komme, woher man wolle.
Händel schüttelte sich, nieste, schnäuzte die Nase nach Art der Themseschiffer und betrat den Schankraum. Der Wirt stürzte wieder auf ihn los, um ihm Kleidungsstücke und Stock abzunehmen. Dann befahl er, den Sonntagsschmaus für die Exzellenz aufzutragen.“
Erstmals 1980 veröffentlichte Christa Grasmeyer im Verlag Neues Leben Berlin „Ein Fingerhut voll Zuversicht“: Durch den plötzlichen Tod der Mutter wird die sechzehnjährige Fanny Schill vor die Aufgabe gestellt, deren Platz in der Familie zu übernehmen. Der Vater ist völlig hilflos. Er will die drei jüngeren Geschwister trennen – zwei sollen in ein Heim und der jüngste zu seiner Schwägerin. Fanny möchte die Familie erhalten, sie will für Volker, Rüdiger und Rainer sorgen, obwohl sie selbst durch den nicht erfüllten Berufswunsch, Fotografin zu werden, erhebliche Konflikte hat. Die Lehre an der Nähmaschine, die Arbeit im Haushalt, alles droht dem Mädchen über den Kopf zu wachsen, und der Fingerhut voll Zuversicht leert sich täglich mehr und mehr, auch wenn Sascha ihr hilft. Aber liebt er Fanny wirklich? Und so lernen wir Fanny kennen:
„1.Kapitel
Ein Spatz kam geflogen und setzte sich auf die Regenrinne. Leute stiegen in Busse ein, Kinder liefen zur Schule.
Seufzend wandte Fanny sich vom Fenster ab. An den Wänden ihrer Mansarde hingen Fotografien, die besten, die sie bisher gemacht hatte. Da war der Baum am Ufer, eine Gegenlichtaufnahme, hängende Zweige vor flimmernder Wasserfläche. Da waren ihre Eltern an einem Sommertag auf sandigem Weg, Hand in Hand gehend, über ihnen ein hoher Himmel mit Wolken. Als der Fotozirkel der Schule seine besten Arbeiten ausstellte, war diese Aufnahme dabei gewesen.
Heute war der erste September, heute sollte Fanny die Lehre beginnen, nicht als Fotografin, sondern als Kleidungsfacharbeiter. Alle hatten ihr zugeredet, die Eltern, die Lehrer, sogar Herr Kühn, der den Fotozirkel leitete und sie so oft gelobt hatte. Auf einmal hieß es: „Fanny, nimm Vernunft an. Fanny, versteife dich nicht. Das Fotografieren bleibt dir ja, auch wenn es nicht dein Beruf wird. Begreife endlich, die wenigen Lehrstellen sind vergeben!“
Fanny wollte es nicht begreifen. Vielleicht trat einer zurück, vielleicht gab es im letzten Augenblick doch eine Chance. Sie füllte die Bewerbungskarte nicht aus. Erst als gar keine Hoffnung mehr war, als alle Schüler schon Lehrstellen hatten, erst da gab sie auf und nahm, was sich bot. Der VEB Mädchenmode suchte Lehrlinge. Fanny schickte die Bewerbungskarte hin. Sie hatte eigentlich den Abschluss der zehnten Klasse mit „gut“ machen wollen. Daran hatte sie kein Interesse mehr. Fanny schloss mit „befriedigend“ ab.
Sie setzte sich aufs Bett und neigte den Kopf. Ein Pechvogel war sie. Besser, sie dachte nicht darüber nach. Besser, sie nahm es leicht wie ihre Freundin Bettina. Die ging heute zum ersten Mal als Lehrling in die große Kaufhalle West, auch nicht freudig. Gestern hatte sie zu Fanny gesagt: „Du bist viel zu grüblerisch. Du erwartest immer wer weiß was! Von den Jungs, vom Beruf, vom Leben überhaupt, und wirst natürlich dauernd enttäuscht. Nimm’s doch, wie’s kommt!“
Hatte Fanny kein Recht, was zu erwarten? Sie warf das Haar zurück und stand auf. Wehleidigkeit nützte gar nichts. Man musste den Rücken steif machen. Es gab Dinge, die ließen sich nicht umgehen. Jetzt war’s die Nähmaschine. Aber ein Recht, mehr zu erwarten als die Nähmaschine, hatte Fanny trotzdem, und bis ans Ende ihrer Tage würde sie bestimmt nicht an der Nähmaschine sitzen. Achtzehn Monate Lehrzeit bedeuteten schließlich keine Ewigkeit.
Sie schloss die Mansarde ab und ging die Treppen hinunter zur Wohnung ihrer Eltern in der ersten Etage. Als sie den Vater in der Küche sah, lächelte sie. Er hatte Spätschicht gehabt. Normalerweise müsste er um diese Zeit noch schlafen. Heute war aber kein normaler Tag. Nicht nur, dass ein neues Schuljahr begann, für Volker das achte, für Rüdiger das siebte. Rainer, der Jüngste, erlebte heute seinen ersten Schultag, und Fanny, die Älteste, gehörte ab heute zu den Werktätigen. Grund genug für die Eltern, normale Gewohnheiten zu durchbrechen.
Der größte Frühstückstrubel war schon vorbei. Den hatte natürlich die Mutter bewältigt, bevor sie selber zur Arbeit gegangen war. Sich um Fanny zu kümmern, war nun Sache des Vaters. Er tat es, indem er auf seine rührend unbeholfene Weise Brot röstete und Eier kochte. Er wischte mit einem Lappen auf dem Tisch herum. Wieder war ihm irgendein Malheur passiert. Entweder verschüttete er sprudelndes Wasser beim Teeaufgießen, oder er zerbrach die zartschaligen Eier, wenn er sie vor dem Kochen mit dem Eierpick anstach, oder er riss ein Loch in die Milchtüte.
Fanny, die wusste, dass ihm Pannen in der Küche peinlich waren, übersah sein Missgeschick. Sie rief ihm einen Morgengruß zu und ging ins Bad. Als sie zurückkehrte, hatte er den Frühstückstisch leidlich hergerichtet. Es roch nach verbranntem Toast.
Mit betonter Munterkeit sang der Vater: „Spinn, spinn, meine liebe Tochter, ich kauf dir ein Kleid …“
„Ach ja, lieber, lieber Vater, nicht zu eng und nicht zu weit …“, sang Fanny und hoffte, er würde diesen Ton beibehalten.
Aber da sagte er: „Wenn wir heute noch spinnen würden oder die Zeitungen im Handsatz herstellen …“
„Du hast recht, Vati.“
„Überall geht’s heutzutage nach der Norm, oder es wird am Band gearbeitet. Wenn das keiner machen wollte …“
„Du machst es, und ich werd’s auch machen.“
Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar, das zu ergrauen begann. „Vielleicht hätte ich mal mit Leuten sprechen sollen, die Einfluss haben.“
„Kennst du denn solche Leute?“
„Nicht direkt. Aber es sind doch immer Redakteure in der Setzerei, und die kennen solche Leute. Durch Beziehungen wären wir vielleicht an eine Fotografenlehrstelle rangekommen.“
„Wär dir das nicht peinlich gewesen?“
„Was heißt ,peinlich‘, wenn‘s um die Kinder geht. Viele Eltern rennen umher, bloß um die Kinder an die richtigen Stellen zu bringen. Der Start ist so verdammt wichtig. Rainer ist vorhin losgezogen … Hurra, ich bin ein Schulkind! Der lacht und singt. Und du bist geknickt.“
Fanny schüttelte den Kopf. Bestimmt hatte die Mutter ihm eingeschärft, Fanny an diesem Morgen aufzuheitern, ihren ersten Tag etwas leichter zu machen, und das hatte er auch redlich versucht mit seinem Lied von der spinnenden Tochter. Aber nun war er es wieder, der getröstet werden musste.
„Ich bin nicht geknickt“, beteuerte sie, „ich hab mich mit der Nähmaschine abgefunden.“
„Abgefunden: Das ist nicht gut. Mein Vater, dein Opa, wollte mich als Nachfolger für seine Gaststätte, und ich mochte nicht. Ich bin geworden, was ich mir vorgenommen hatte: Schriftsetzer. Hinter dem Bierhahn hätte ich nie was getaugt. Und jetzt sollst du hinter die Nähmaschine und magst nicht.“
„Ach, Vati, wenn sie bei den Fotografen nun mal so wenig Nachwuchs brauchen? Später kann ich immer noch Fotografin werden.“
„Später … und jetzt?“
„Du bringst mich fast zum Heulen, Vati.“
„Weißt du was?“, fragte er schnell, „wir bummeln durch die Stadt. Wir gucken ein bisschen in die Geschäfte, und dann gehe ich zur Schicht, und du gehst auch zur Schicht, wir zwei Schichtarbeiter.“
Fanny bummelte gern durch die Stadt, und sie ging lieber mit dem Vater als mit der Mutter, weil er dazu neigte, seiner Tochter diesen oder jenen Wunsch zu erfüllen, während die Mutter jede Ausgabe genau berechnete.
„Hast du denn Zeit?“, fragte sie, „Hat Mutti gar nichts aufgeschrieben zum Einholen?“
„Nein, nein. Heute bin ich nur für dich da.“
Fanny blickte auf die Uhr und entschied: „Dann setzen wir uns zusammen auf den Balkon. Ein Stadtbummel lohnt sich nicht mehr. Wir müssen früh Mittag essen.“
Der Balkon ging vom Zimmer der Jungen nach hinten hinaus. Man sah auf Höfe und Spielplätze und kleine Gärten. Die Blumen in den Balkonkästen blühten, auf den Höfen hing Wäsche, eine Katze strich vorbei, und der Verkehr vom Wendenring war nur gedämpft zu hören.“
Erstmals 2002 erschien im quartus-Verlag Bucha „Einer trage des anderen Last. Roman nach dem Film“ von Wolfgang Held: Dieses Buch erzählt von der ungewöhnlichen Begegnung zweier junger Menschen in der gerade ein Jahr alten DDR, zu unbedeutend für die historischen Annalen und doch eng verflochten mit dem Geschehen jener bewegten Jahre. Die bittere Einsicht von Schuld, der Mangel am Notwendigsten in dem zerschundenen Land, das alles löschte damals den Willen zum Leben nicht aus. Ein Volkspolizist und ein evangelischer Vikar müssen, todkrank und mit völlig verschiedener Weltanschauung, über mehrere Monate ein Zimmer in einem Tbc-Heim teilen. Humorvoll und mit großer Dramatik schildert Wolfgang Held, wie beide schließlich zu gegenseitiger Achtung und Toleranz finden. Als der später auf der Berlinale ausgezeichnete Film „Einer trage des anderen Last“ Anfang 1988 in die Kinos kam, fand er in der DDR ein Millionenpublikum. Er wurde in Ost und West als ein Plädoyer für Toleranz verstanden. Nach seinem Drehbuch schrieb Wolfgang Held 1995 den gleichnamigen Roman. Werfen wir einen langen Blick in das 5. Kapitel:
„Die ruhige, mahnende Stimme des Chefarztes lässt Josef Heiliger nicht los. Sein Koffer liegt noch verschlossen auf dem Tisch. Angekleidet wirft er sich auf eines der beiden Betten und starrt gegen die weiße Decke. Was auch geschieht, es geht Sie nichts an – wie denkt sich das dieser Herr Doktor? Es geht mich nichts an – wie soll das gehen, Herr Doktor? Es geht mich nichts an – von wegen!
Der offene Fensterflügel knarrt leise. Josef Heiliger spürt die hereinwehende, nasskalte Luft nicht. Bilder steigen auf. Erinnerungen, gerade erst ein Jahr alt. Ein Bauer pflügt. Das von zwei trägen Ochsen gezogene Scharmesser bricht eine Schälfurche in den Stoppelacker. Nahe des Feldraines ist ein meterhoher Pfahl in den Boden getrieben. Schwarzrotgold gestreift. Staatsgrenze seit ein paar Tagen. Zwei Grenzer patrouillieren entlang der unsichtbaren Barriere, die bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland im 49er Mai Zonengrenze oder Demarkationslinie hieß und seit Oktober dieses Jahres zwei deutsche Staaten trennt. Einer der beiden jungen Männer in den dunkelblauen Uniformen der Volkspolizei ist Josef Heiliger. Sie winken dem Mann hinter dem Pflug einen Gruß zu. Über ihren Auftrag denken sie nicht nach. Unerlaubtes Überschreiten der Grenze verhindern, ob von Osten nach Westen oder umgekehrt. Nicht anders als Grenzwächter zwischen Frankreich und Spanien, Mexiko und den USA oder anderswo an der Trennlinie von Staaten. Jetzt beschäftigt die beiden Streifenposten vielmehr der Film, den sie am Abend zuvor gesehen haben. „Wiener Mädel“ mit Willi Forst, Lizzi Holzschuh und Hans Moser. Darf ein Schauspieler nuscheln oder darf er nicht…
Ein Schuss kracht!
Sie werfen sich zu Boden. So etwas passiert in diesem Abschnitt nicht zum ersten Mal. Vermutlich ein Fanatiker, der voller Zorn ist. Vielleicht einer, dem man hier im Osten ein Unternehmen enteignet hat, der seinen Gutsbesitz für die Bodenreform hergeben musste, dem ein Angehöriger eingesperrt oder nach Sibirien transportiert worden ist. Die zwei jungen Männer im Gras wissen, dass es eine Menge Hass gibt in dieser Zeit und zu beiden Seiten dieser Grenze. Josef Heiliger denkt dabei an die Villa des Besitzers einer großen Brauerei. Seine Mutter hatte dort als Putzfrau ein paar Groschen verdient. Manchmal hat sie ihn dorthin mitgenommen. Es gab da einen Korridor, größer als die Mansardenwohnung der Heiligers. Er durfte da seine Schularbeiten machen. Hin und wieder, wenn der gleichaltrige Unternehmersohn seine Eisenbahn aufgebaut hatte, ließ er den Armeleutejungen mitspielen. Reinhold hieß der Junge. Sie hatten sich gut verstanden und wären vielleicht sogar richtige Freunde geworden, wenn Reinholds Eltern nicht dagegen gewesen wären. Die Brauerei war jetzt ein volkseigener Betrieb und die Villa ein Internat für Studenten. Womöglich ist das Reinhold dort drüben mit einer Knarre, geht es Josef Heiliger für einen Moment durch den Kopf. Ich würde es bestimmt auch nicht wie einen verlorenen Pfennig hinnehmen, wenn mir meine Brauerei und das Zuhause weggenommen würden …
Ein zweiter Schuss!
Der Schütze steckt jenseits im Dickicht. Josef Heiliger bringt seinen Karabiner in Anschlag, obwohl er genau weiß, dass er selbst in Notwehr nicht hinüberschießen darf. Drüben bleibt es still. Er wendet den Blick, will seinem Gefährten etwas sagen und erschrickt. Das Blut weicht aus seinem Gesicht. Leblose Augen starren an ihm vorbei ins Leere … Und immer denken, es geht mich nichts an? Josef Heiliger richtet sich auf. Er reibt die fieberwarme, schmerzende Stirn. Sein Blick wandert durch das Zimmer. Die Einrichtung stammt wahrscheinlich aus den Tagen der Eröffnung dieses Hauses. Zwei weiß lackierte Stahlrohrbetten, zwei einander gegenüberliegende Waschtoiletten samt Spiegeln, ein großer, wohl für beide Zimmerbewohner hingestellter Kleiderschrank, zwei Nachttische, ein großer Tisch mit zwei Stühlen. Blümchentapete und Plüschvorhang. Sehr, sehr hübsch das alles hier, würde Oma sagen. Zum ersten Mal seit seinem Aufenthalt hier in Hohenfels bringt Josef Heiliger ein Schmunzeln auf die Lippen.
Nach kurzem Überlegen wählt Josef Heiliger das linke Bett. Er öffnet den Koffer und beginnt mit dem Auspacken. Als erstes hängt er ein Bild an die Wand über dem Nachttisch, wo es schon einen kleinen Nagel für diesen Zweck gibt. Das Foto zeigt den Generalissimus Stalin beim Anzünden seiner Krummpfeife. Nun baut er Lektüre auf den Nachttisch. Lenins „Staat und Revolution“, das „Kommunistische Manifest“, „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrowski. Wie immer beim Umgang mit Büchern, so kann er auch jetzt nicht umhin, wenigstens in eines hineinzuschauen. Er ist dabei, sich festzulesen, als ihn ein kurzes, energisches Klopfen an der Tür in die Gegenwart holt.
Oberschwester Walburga wartet keine Aufforderung ab und tritt sofort ein. Sie bringt ein Fieberthermometer mit, ein Krankenblatt und eine braune, faustgroße Flasche. Kontrollierend schaut sie sich im Zimmer um.
„Fiebermessen morgens und abends unter der Zunge, bitte. Das Krankenblatt führen Sie selbst …“ Der Blick verharrt etwas länger bei dem Stalinbild. Ihre Reaktion bleibt auf ein kaum wahrnehmbares Naserümpfen beschränkt. Sie achtet nicht darauf, dass der Patient mit einer schnellen, anscheinend flüchtigen Bewegung den Kofferdeckel schließt. Kühl reicht sie ihm das Fläschchen. „Diese Sputumflasche tragen Sie bitte immer bei sich, ja?!“
Josef Heiliger betrachtet das kleine Gefäß neugierig, aber zugleich auch mit einigem Missbehagen.
„Wozu?“
Die Oberschwester ist an den Tisch getreten. Sie legt ihre Hände auf den Kofferdeckel, wohl in der Absicht, beim Auspacken behilflich zu sein. In ihrer Stimme schwingt rügender Unterton mit.
„Ihr Auswurf! Sie sind ansteckend … Aber bitte dezent, ja?“
„Dezent? Was?“
„Man benutzt es unauffällig, Herr Heiliger …“ Sie öffnet dabei den Koffer, hebt Wäsche heraus und – stutzt. Für ein paar Sekunden verschlägt es ihr die Sprache, was höchst selten passiert. Josef Heiliger, der weiterhin das ihm höchst unsympathische Fläschchen betrachtet, merkt nichts von diesem Verhalten. „Ich muss nie spucken, Oberschwester. Ehrlich! … Oder ist das hier Pflicht?“
Die Oberschwester starrt immer noch in den Koffer. Sie kann nicht fassen, was sie da mühselig durch den Wald geschleppt hat.
„Herr Heiliger!!!“
Sie legt die Wäsche zur Seite und stellt sechs volle Bierflaschen auf den Tisch.
„Ich wollte ihn ja selbst tragen, Schwester … Die Bücher, das Bier …“
„Gegen Bücher haben wir hier, weiß Gott, gewiss nichts, Herr Heiliger.“
Traurig schaut er zu, wie Oberschwester Walburga die Flaschen mit beiden Armen aufnimmt, damit zur Tür geht und dort verharrt. Sie hat kerne Hand für die Klinke frei. Es dauert einen Augenblick, bis ihm klar wird, was die Höflichkeit gebietet. Mit zwei schnellen Schritten ist er bei ihr und öffnet. Auf der Schwelle wendet sie sich noch einmal zu ihm um. Ihr Blick ist eisig wie ihre Stimme. „Wenn ich zurückkomme, liegen Sie im Bett!“
„Jetzt? Vor dem Mittagessen?“
„Zuerst drei Tage Bettruhe, das ist hier bei uns so üblich!“
Josef Heiliger glaubt, in ihren Augen einen Funken Boshaftigkeit blitzen zu sehen.
„Drei Tage?“
In ihrem feinen Schmunzeln wird die Schadenfreude jetzt deutlich.
„Sie werden Abwechslung haben, Herr Heiliger, keine Sorge!“ Am nächsten Morgen begreift er, worauf die Oberschwester angespielt hat. Draußen ist es noch dunkel, als eine Schwester, die er bisher noch nicht gesehen hat, einen klappernden, klirrenden Laborwagen ins Zimmer schiebt. Ihr sanfter, freundlicher Gruß erinnert an den Zahnarzt, der ihn beim Hantieren mit der Ziehzange noch anlächelte, als sein Schmerzgebrüll schon die Passanten draußen auf der Straße stehen bleiben und an Mord denken ließ, bevor ihnen durch das Arztschild am Hauseingang ein Licht aufging. Die Schwester kommt mit dem Wagen an sein Bett. Argwöhnisch beobachtet er, wie sie eine wässrige Flüssigkeit in eine Injektionsspritze zieht. Ein feiner Strahl spritzt aus der in seinen Augen bleistiftdicken, einem Folterinstrument gleichenden Nadel. Ein Schlauch wird um seinen Oberarm gespannt, dann senkt die Schwester den Metallstachel behutsam in die Armbeuge des Patienten. Der Stich dringt in die Vene. Er sieht, wie sich sein dunkles Blut im Glaszylinder mischt. Vom Magen her steigt Übelkeit hoch. Ihm wird schwindelig. Er kann nicht länger hinschauen, dreht den Kopf zur Seite, bis es endlich vorbei ist. Bevor die Schwester mit ihrem lärmenden Gefährt das Zimmer verlässt, sagt sie noch etwas, aber er hört nicht zu. Erschöpft wie nach einer Bergbesteigung liegt er in den Kissen. Es dauert reichlich eine Stunde, bevor ihm der Sinn wieder nach Beschäftigung steht. Die dumpf-dunkel bis in alle Winkel des Hauses vernehmbaren drei Gongschläge verkünden den Beginn der Mittagszeit. Wenig später bringt Oberschwester Walburga das Essen. Sie stellt das Tablett auf den Tisch. Für die Mahlzeit darf Josef Heiliger das Bett verlassen. Ein Teller mit vier bereits geschälten Pellkartoffeln, ein halber, marinierter Hering, eine kleine Schale mit – in der Küche genau abgezählt! – drei Pflaumen, dazu ein Glas Milch.
Nachdem sie ihrem Patienten „Guten Appetit und alles aufessen!“ gewünscht hat, will die Oberschwester gehen, doch Josef Heiliger hält sie auf. Er nimmt das Besteck in die Hände, isst aber noch nicht, sondern deutet auf das zweite Bett.
„Kommt da noch einer?“
„Natürlich … Wir haben mehr als hundertfünfzigtausend Tbc-Kranke im Land, wissen Sie das nicht?“
„Doch, doch … Was is‘n das für einer?“
„Sie werden schon miteinander auskommen … Er heißt Koschenz, Hubertus Koschenz …“
Erstaunt legt Josef Heiliger Messer und Gabel aus der Hand. „Hubertus? … Das gibt‘s doch nicht! So richtig Hubertus, wie bei den alten Rittern?“
Die Oberschwester runzelt die Stirn.
„Hören Sie mal, Herr Heiliger: Wer hierher kommt, der will gesund werden. Nur das zählt, kein Name, keine Stellung, kein Alter, nichts dergleichen. Gesund werden, nichts anderes ist wichtig! … Und morgen früh bleiben Sie bitte nüchtern, Sie bekommen den Schlauch!“
Es fällt Josef Heiliger nicht schwer, die Anweisung zu befolgen. Das Frühstück am nächsten Morgen bleibt aus. Er vertreibt sich die Zeit und liest Lenin auf nüchternem Magen. Er verträgt das. Der Text macht ihm längst nicht mehr so viel Mühe wie zwei Jahre zuvor. Damals, als Anwärter in der Polizeischule, hatte er einen Abendzirkel besucht, fasziniert von einem Mann Mitte Dreißig, der anders war als die meisten ihm bekannten Leute dieser Generation. Auch einer, der nicht feige hingenommen hatte, dass ein jüdischer Nachbar und dessen Familie entrechtet, erniedrigt und schließlich fortgeschleppt und umgebracht wurde. Einer, der nach Spanien gegangen war, um gemeinsam mit mutigen Frauen und Männern aus vielen Ländern gegen die Franco-Diktatur zu kämpfen. Einer, den später im Konzentrationslager Buchenwald auch die Knüppelschläge der SS nicht zu brechen vermochten. Für Josef Heiliger endlich auch einer, der glaubwürdig blieb, wenn von Gerechtigkeit die Rede war, von einer Zukunft, in der jeder Mensch ein Dach über dem Kopf, Schuhe an den Füßen und genug zu essen haben soll. Von ihm hatte er damals die erste Lenin-Broschüre bekommen und jede Seite zwei, dreimal gelesen, aber trotzdem das meiste nicht begriffen. Wichtiger war ihm das gesprochene Wort gewesen, die Ratschläge von einem, der nicht mit den Wölfen das „Deutschland, Deutschland über alles …“ geheult hatte.
Das nahende Scheppern des Laborwagens draußen auf dem Korridor lässt Lenins Lehren für Josef Heiliger vorerst einmal nebensächlich werden. Der Schlauch – was ist das? Er setzt sich auf, hebt die Bettdecke wie ein Schutzschild bis ans Kinn und schaut gespannt zur Tür.
Es ist die gleiche Schwester wie bei der Blutabnahme. Auch der gleiche Wagen. Diesmal liegen neben den Glasbehältern ein paar daumendicke Gummischläuche. Die Schwester lächelt wieder freundlich. Sie kommt mit einem der Schläuche zum Bett und hat Samt in der Stimme.
„Den Mund bitte ganz weit auf, Herr Heiliger … Ganz weit! Weiter! Noch weiter!“
Josef Heiliger starrt das herannahende Schlauchende an, als sei es eine zischelnde, schwarze Mamba. Gehorsam reißt er den Mund auf. Die Schwester nickt zufrieden.
„Sehr schön! Und nun die Zunge heraus … Jaaaa, und jetzt schlucken! Schlucken, nicht kauen! Schlucken! Schlucken!“ Das Schlauchende ist in Josef Heiligers Schlund verschwunden, dringt tiefer, erreicht den Magen. Halt, zum Teufel, oder soll mir das Ding hinten wieder raus kommen!? Er würgt und würgt und hat das Gefühl, leer gepumpt zu werden. Anstrengung treibt ihm Tränen aus den Augen. Ein paar Minuten später ist alles vorüber. Sein Schlund glüht noch, wie damals nach dem Selbstgebrannten, den sein Freund auf dem schwarzen Markt gekauft hatte. Zweihundert Mark die Flasche, auf eigene Verantwortung, ohne jedes Risiko für den heimlichen Hersteller, weit abseits von Arzt oder Apotheker. Für eine Abschiedsfeier. Nach der Gesellenprüfung waren sie, beide achtzehnjährig, beim Arbeitsamt vor die gleiche Wahl gestellt worden: Uranbergbau im Erzgebirge oder Volkspolizei, Abteilung Grenze und Bereitschaften. Sein Freund hatte sich für den Bergbau entschieden. Keine Uniform, besserer Verdienst, Wodka, Weiber, wilder Osten, was man so aus Aue und Umgebung hörte. Er selbst hatte, wenn anfangs auch kaum sonderlich begeistert, den Rat seines Vaters befolgt. Besser, ich weiß in der neuen Polizei einen wie dich, mein Junge, als meinen Sohn dort, wo für Atombomben geschindelt wird, hatte er gesagt, und auf die blaue Uniform sogar etwas von seiner Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit gesetzt.
Bis zu den drei Gongschlägen zum Mittagessen fehlt noch eine halbe Stunde. Josef Heiliger liegt in seinem Bett und gibt sich ganz jenem Genuss absoluter Untätigkeit hin, den allein nachzuempfinden weiß, wer harte Arbeit oder quälendes Leiden kennt. Keine Bewegung, kein Denken, nichts hören, nichts sehen, nichts sagen – gedankenloses Dösen, nichts weiter. Er merkt gar nicht, wie die Tür lautlos geöffnet wird. Ein Mann tritt herein. Erst, als der unerwartete Besucher vor dem Bett steht, schreckt Josef Heiliger aus dem Dahindämmern.
„Ich bin Jochen!“ Der Mann, Anfang Dreißig, trägt einen Trainingsanzug und eine Baskenmütze. Er grinst wie der Clown in einer Ulknummer. Josef Heiliger erlebt zum ersten Mal einprägsam, was gemeint ist, wenn man jemandem nachsagt, ihm niste der Schalk im Blick. Der Unbekannte schaut kurz auf das Stalinbild. „Dein Opa, ja? … Also, wenn du was brauchst hier in der Mottenburg, ich besorg‘s. Alles, außer Weiber und Waffen …“
Josef Heiliger zögert nur eine Sekunde. Unten in Südthüringen, bei Razzien auf schwarz handelnde Geschäftsleute, hatten sie immer einen Bäcker verschont, bei dem sie heimlich ihre schmale Verpflegung aufbessern konnten. Damals. Im Winter 1948. Zehn Mark für ein Pfund Brot.
„Auch ‚ne Pulle Bier?“
„Alles! … Nicht ganz billig allerdings. Gefahrenzuschlag!“
Mit den Fingern zeigt Josef Heiliger seine Bestellung an.
„Ich nehme zwei!“
„ Okay!“ Jochen kneift ein Auge zu, geht zur Tür und hat dort doch noch eine Frage. „Zwei Flaschen oder zwei Kästen? En gros wird ‚s billiger …!“ Er wartet die Antwort nicht ab und verschwindet so geräuschlos, wie er gekommen ist.“
Erstmals 2016 erschien als Eigenproduktion der EDITION digital „Flaschendrehen.
Mäxchen und Pauline. Zweites Buch“ von Siegfried Maaß: Max Stange ist ein Träumer. Einer, der sich in Wunschwelten denken kann, in denen er als Weltenfahrer neue Pfade entdeckt. In der Wirklichkeit muss er sich jedoch mit Blicken auf sein Aquarium begnügen und den Welsen und Neons zusehen, statt die ‚Zunge Gottes’ im Regenwald zu finden. Auch musste er Pauline nicht im Amazonas vor fresswütigen Krokodilen schützen, sondern vor angriffslustigen Jungen in einem Schwimmbad. So muss er lernen, dass sich in der Wirklichkeit nicht alle Träume erfüllen. Inzwischen ist er Schüler eines Gymnasiums. Ebenso wie Pauline, mit der er wie Bruder und Schwester in der neuen Familie lebt. In Frieden und Eintracht. Solange sich nicht Corinna zwischen sie zu drängen versucht und ‚Mäxchen’ für sich gewinnen will. Eines Tages führt Pauline ein neues Spiel ein: Flaschen drehen. Immer, wenn es darum geht, sich zwischen mehreren Möglichkeiten zu entscheiden. ‚Dran’ ist der, auf den der Flaschenhals wie ein Zeiger weist. Das ist gut für sie, denn meistens wird Mäxchen vom ‚Zeiger’ ausgesucht. Nur zur Bewerbung für das Landessportgymnasium hat sie sich selbst entschieden. Ohne dass Harry, ihr Vater, etwas davon weiß. Danach wartet sie ungeduldig auf Antwort. Muss sie ihren Zukunftsplan, Profifußballerin zu werden, aufgeben? Mit Irene und Harry, dem neuen Elternpaar, erleben beide eine schöne Zeit voller Abwechslungen. Entweder beim gemeinsamen Angeln oder auf dem Reiterhof und im Heuhotel. Dorthin werden sie von ihrer alten Bekannten Birkhuhn eingeladen und treffen auf Isa, dieses auffällige Mädchen, mit dem Pauline einige Zeit im Krankenhaus verbrachte. Aber Isa hat sich verändert. Zu ihrem Vorteil, befinden Max Stange und Pauline und werden zu Isas Freunden. Und es verändert sich noch manches im Leben der beiden … Hier das Kapitel, das denselben Titel trägt wie das Buch:
„Flaschen drehen
Der Grauschleier vor dem Fenster ist löchrig geworden. Ein schmaler Streifen Sonnenlicht tänzelt durch den Spalt des Vorhangs. Wie ein greller Spot leuchtet er ein Stück der Wand neben Max Stanges Bett aus. Wo sich die Poster ausbreiten und jene Ziele abbilden, zu denen Max Stange später aufbrechen wird. Als Weltenfahrer, wie es Irene früher bezeichnet hatte.
Ganz zufällig fällt das Licht auf jenen Teil der Welt, mit dem sich der zukünftige Forscher Max Stange seit einiger Zeit beschäftigt. Es ist der Pazifik, wo Silvester und Neujahr zusammenfallen.
Nachträglich muss er lächeln, als er sich Paulines Gesicht vorstellt, nachdem er mit dem Finger auf die winzigen, kaum erkennbaren Punkte in der Weite des Pazifischen Ozeans gewiesen hatte. Ungläubig blickte sie ihn an und schüttelte den Kopf.
„Hier ist die Datumsgrenze. In Samoa ist noch Silvester und gleich daneben, auf Tonga, feiert man schon Neujahr.“
Er weiß, dass er sich in diesem Augenblick mit seinen Kenntnissen schmückt wie ein Hahn mit seinem Kamm.
„Ich sehe keine Grenze“, sagte Pauline und er bemerkte, wie sie auf die Karte starrte und schließlich die Schulter zuckte. „Auch was du genannt hast, kann ich nicht erkennen. Flunkerst du mir was vor?“
„Das ist eine geografische Grenze. Die kannst du nicht sehen.“ Max Stange lachte. „Oder suchst du vielleicht nach einem Schlagbaum? Mitten im tiefen Meer? Oder eine Mauer? Wie früher in Berlin?“
„Ich suche gar nichts!“ Pauline wandte sich um. „Jedenfalls nicht diese dumme Datumsgrenze. Bei uns feiert man sowieso von Silvester bis Neujahr. Wozu dann eine Grenze?“ Sie blieb vor der Tür stehen und fragte: „Spielt man dort auch Fußball?“
„Bestimmt!“
„Vielleicht komme ich mal zu einem Länderspiel dorthin. Dann werde ich über diese merkwürdige Datumsgrenze fahren und mich daran erinnern, was du mir erklärt hast. Wenn es denn stimmt und du nicht geflunkert hast.“ –
Der Spot hellen Lichts erinnert ihn aber auch, dass er auf diese Art früher seine Taschenlampe benutzte, wenn er nachts heimlich in die Küche gelaufen war, um Milch aus dem Kühlschrank zu trinken. Was Irene, seine Mutter, untersagt hatte, weil sie meinte, dies wäre ungesund. So etwas weiß sie ganz genau, denn sie ist Krankenschwester. Er konnte ihr darum niemals erfolgreich widersprechen.
Später, als sie bereits zusammengehörten, war ihm Pauline einmal gefolgt, lautlos wie eine Katze. Dabei glich sie in ihrem mit bunten Bildern bedruckten Schlafanzug vielmehr einer lustigen Figur aus einem Kinderbuch. Dieser Vergleich drängte sich Mäxchen sofort auf, als er sie bemerkte.
Wie Verdurstende in der Wüste tranken sie abwechselnd, bis die Flasche leer war. Danach hockte sich Pauline hin, legte die Flasche auf den Fußboden und drehte sie so schwungvoll, dass sie sich zitternd wie eine Kompassnadel ihren Ruhepunkt suchte.
So jedenfalls hatte er es beobachtet, wenn er seinen Kompass ‚spielen’ ließ. Dieser hatte zu seinem Erbe von Herrn Berger gehört und seitdem nahm er ihn gern zur Hand, als müsste er sich damit für seine alltäglichen Wege orientieren. Es erschien ihm wie ein Training für seine späteren Erkundungen und gern nutzte er die sich bietenden Möglichkeiten dafür.
Zuerst glaubte Mäxchen, Pauline würde lediglich Spaß daran haben zu sehen, wie die Flasche kreiselte. Er hatte nicht vergessen, wie sie das Flaschendrehen auf dem Rummel gespannt beobachtete. Wo sie vor dem mit bunten Luftballons und Papierschlangen geschmückten Schaustellergeschäft stehen geblieben war, als könnte sie etwas verpassen, wenn sie stracks weiter liefe. „Das hätte ich gewonnen!“, rief sie dann lachend und streckte den Finger auf den schmalen Ring oder den Brotkorb aus. Je nachdem, wohin der Flaschenhals wies. „Aber ich hab’ ja nicht gespielt.“ Weil Mäxchen ihr geraten hatte, ihr Geld für andere Dinge zu sparen.
In jener Nacht nach ihrer gemeinsamen ‚Milchparty’ hatte Pauline ihren ‚Spaß’ mehrmals wiederholt und gemeinsam warteten sie jedes Mal gespannt darauf, auf wen diese ungewöhnliche Kompassnadel endlich zeigen würde.
Meistens auf ihn. Als wäre er der magnetische Nordpol.
Wie bringt sie es fertig? Fragte er sich. Besitzt sie ein besonderes Geschick dafür? Denn nach ihrem Willen bestimmte der ‚Zeiger’, wer am nächsten Morgen Irene die nächtliche ‚Milchparty’ gestehen musste. Darauf, dass Irene fragte, wollten es beide nicht ankommen lassen. Aber so ist Irene nun einmal. Sie muss allem, was geschieht, gewissermaßen auf den Grund gehen.
In den Tagen darauf fand Pauline Gefallen daran, jede beliebige Flasche zu drehen, wenn sie sich nicht einig werden konnten, wer ‚dran’ war. Mit dem Schuheputzen. Oder dem Abwasch. Später schließlich, wer die kleine Schwester Dagmar aus der Kita abholte, wenn Irene in der Mittagschicht war. Harry kam immer spät nach Hause, deswegen schied er dafür aus. Meistens zog Mäxchen wie magnetisch den ‚Zeiger’ auf sich und geduldig fand er sich damit ab.
Weil sie wusste, wie ‚vergesslich’ ihre Kinder waren, hatte Irene zur Sicherheit eine Liste an die Pinnwand geheftet, die ihre Einteilung enthielt: Mäxchen dies, Pauline jenes. Dazu die genaue Tagesplanung.
„Ganz gerecht“, meinte sie. „Keiner kommt zu kurz, keiner hat zu viel!“
Sie lachte und teilte ebenfalls ganz gerecht freundschaftliche Klapse auf die Arme aus. Als Hinweis darauf, dass sie keinen Unterschied machte.
Manchmal kam es jedoch vor, dass Irenes Wochenplan nicht an seinem Platz war. Koch- und Backrezepte sowie Zettel mit wichtigen Terminen bedeckten die Pinnwand, aber das Blatt, das die Arbeitsteilung enthielt, war verschwunden.
Wir können uns nicht festlegen, wer von beiden es entfernt hat. Sollte es Mäxchen gewesen sein in der Hoffnung, Pauline hätte sich Irenes Festlegung nicht gemerkt und würde Dagmar an seiner Stelle von der Kita abholen?
Oder doch Pauline, um einen freien Nachmittag für ihr Training herauszuschlagen?
Darauf nahm Irene nämlich keine Rücksicht. Weil sie es nicht gut fand, dass Pauline ihre Freizeit nur fürs Fußballtraining nutzte.
Bestimmt hatte sie auch still für sich ausgerechnet, wie viel Geld sie sparen würden, wenn nicht die teuren Fußballschuhe gekauft werden müssten. Was könnte sie sonst dafür anschaffen! Denn ihr fehlte so manches im Haushalt, wie sie oft betonte und begann jedes Mal sofort mit der Auflistung …
Jedenfalls hätte sie es lieber gesehen, wenn ‚das Mädchen’ zum Turnen gegangen wäre. Das sah sich Irene im Fernsehen am liebsten an, wenn es schon unbedingt Sport sein musste. Den sie sich nur Harry zuliebe zumutete, wie sie es nannte. Oder vielleicht auch Leichtathletik. „Weitsprung“, sagte sie und forderte damit Harrys Lachen heraus.
„Mit dieser Figur? Und den strammen Beinen?“ Er schlug seine Hände aneinander, sodass es klatschte. „Wo soll sie dann landen? Gleich hinter dem Absprungbalken? Damit alle Welt Beifall klatscht, weil sie eine spaßige Einlage hingelegt hat?“
Eines Tages hatte Pauline also das Flaschendrehen eingeführt und tatsächlich war es ihr auf diese Weise gelungen, manche Trainingsstunde zu gewinnen.“
Vor wenigen Wochen erschien ebenfalls als Eigenproduktion der EDITION digital „Die Kutsche als Liebesnest und andere Frivolitäten“ von Alphonse Allais, Herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Klaus Möckel – und zwar ebenfalls sowohl als gedruckte Ausgabe wie als E-Book: Apotheker wie sein Vater ist er nicht geworden, der 1854 in Honfleur am Ärmelkanal geborene Schriftsteller Alphonse Allais, dafür aber ein gewitzter Journalist, Kabarettist und Verfasser zahlreicher spritziger Kurzgeschichten. In Deutschland kaum bekannt, gehört er in Frankreich zum bleibenden Bestand der Humoristen, auf deren Texte immer gern zurückgegriffen wird. Allais’ großes Thema war die Liebe. In ereignisreicher Zeit aufgewachsen, die vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, der Kommune und späteren revanchistischen Bestrebungen der Politik geprägt war, verspottete er gern die Militärs, besonders den Kriegsminister Boulanger. Vorwiegend aber widmete er sich dem Milieu, in dem er seit seiner Übersiedlung nach Paris zu Hause war: der Bohème von Quartier Latin und Montmartre. Leichte Mädchen, geizige Schankwirte, gehörnte Ehemänner, trinkfeste Künstler, aber auch vertrocknete Beamte, heruntergekommene Adlige, wunderliche Seeleute und Zöllner sind die Helden seiner griffig geschriebenen pointierten Texte. Wenn der Maler in etwa sein Modell in Stimmung bringt, der sparsame Schwager den Leichnam des Kohlenhändlers zum Fotografen schleppt, eine sexverrückte Gräfin den Musikus am liebsten mitsamt seinen Geräten ins Bett holen will, verspürt man selber den Kitzel und die Freude, die dieser arglistig-freundliche Franzose beim Ausdenken seiner Geschichten ganz bestimmt hatte. Als amüsantes Anschauungsbeispiel für seine Art zu schreiben hier eine seiner Kurzgeschichten:
„Eine unverhoffte Reise
Der junge Jean des Etourneaux hatte einen Fehler, einen einzigen nur, der übrigens von seinen adligen Vorfahren ererbt war – eine maßlose Leidenschaft für Damen. Nicht für alle wohlgemerkt, er war sogar ziemlich wählerisch. Stach ihm allerdings eine Frau ins Auge, wie er sich ausdrückte, dann musste er sein Ziel erreichen, was auch immer geschah. Und wenn er gezwungen wäre, dafür bis ans Ende der Welt zu gehen.
Genau das aber stieß ihm zu.
An jenem Tag war herrliches Wetter. Jean hatte gut zu Mittag gegessen, die Zigarre schmeckte vorzüglich, alles schien ihm in Blau und Rosa zugleich.
Unser Freund Jean spazierte die Avenue de l’Opéra hinunter. Er hatte es keineswegs eilig, wollte lediglich seiner trefflichen Tante, Frédégonde de la Hautebeigne, in der Rue de Verneuil einen Besuch abstatten.
Allerhand schmucke Frauen kamen vorbei, solche, die dahinschlenderten, weil sie Zeit hatten, andere schnelleren Schritts, mit einer beschäftigten Miene, die ihnen durchaus stand. Jean schaute sich mit flinkem Kennerblick alle an, ohne auch nur eine auszulassen.
Insgesamt gefielen sie ihm nicht schlecht, aber er sagte sich, dass der letzte Tupfer fehlte, und ließ sie passieren.
Plötzlich gab es ihm einen Ruck.
Donnerwetter, die war’s!
Und in der Tat, sie sah großartig aus, die Dame, die da aus einem Geschäft trat. Eine schöne Frau mit blütenweißer Haut, ohne die geringste Spur Puder und mit vollem rötlich-blondem Haar.
Besonders bewunderte er ihre Augen. Zwei große, schwarze, sehr schwarze Augen mit ebenso schwarzen Brauen legten den fremdartigen und sieghaften Charme frei, den Blondinen mit solchen Augen haben.
Jeans Herz entflammte in wilder Glut.
Die Dame, von ihrem Dienstmädchen begleitet, stieg in eine Kutsche, die gewartet hatte, legte einige Päckchen ab, und los ging’s.
Jean, als ein Mann, dem solche Abenteuer vertraut waren, zögerte nicht eine Sekunde. Er winkte eine Droschke herbei und sprang hinein.
„Sehn Sie die Kutsche dort vorn“, rief er dem Mann auf dem Bock zu, „hundert Sous, wenn sie Ihnen nicht entwischt!“
Und als der verschreckte Kutscher sich nicht gleich entschließen konnte: „Geben Sie mir die Zügel. Ich fahre selbst.“
Jean kletterte auf den Kutschbock und machte sich mit der gleichen Meisterschaft daran, das magere Pferd der Fuhrgesellschaft zu lenken, mit der er sein Ross im Bois de Boulogne dirigierte.
Es war höchste Zeit. Die Kutsche, die jene goldblonde Schönheit entführte, war schon weit voraus.
Wenige Minuten später hatte Jean die Dame eingeholt. Von der Höhe seines Sitzes aus warf er ihr feurige Blicke zu. Die Frau schien die Sache etwas peinlich zu finden, die kleine Zofe dagegen amüsierte sich sehr.
So trabte man dahin, eine Viertelstunde lang, bis zur Rue de Munich. Die Dame stieg mit ihrer Bediensteten aus, und die Kutsche blieb vor der Tür stehen. Jean, der ein einschlägiges Buch über berühmte Spitzel gelesen hatte, sagte sich: Der Wagen wartet, der Kutscher ist nicht bezahlt, daraus leite ich ab, dass die Dame ihr endgültiges Ziel noch nicht erreicht hat. Schlussfolgerung: Sie ist nur auf einen Sprung dort. Bleiben wir also in der Nähe.
Die Terrasse einer Bar nebenan bot ihm den passenden Beobachtungsposten.
„Einen Kartäuserlikör!“
Man servierte ihm eine Flüssigkeit, in der Farbe so trüb und undefinierbar, wie sie nur einige sehr ausdrucksstarke Impressionisten wiedergeben könnten. Nachdem Jean gekostet hatte, fragte er den Kellner höflich (was ja den wahren Gentleman auszeichnet): „Verzeihung, mein Freund, handelt es sich bei diesem Likör nicht vielleicht um eine Art Haaröl? Die Verwechslung wäre leicht zu beheben.“
Der Kellner erklärte, dass der Likör weit besser sei als der Kartäuser und „Zum guten Patrioten“ heiße.
Jean, der für die Befreiung unserer Territorien nur eine bescheidene Sympathie hegte (Allais spielt hier auf die im Krieg von 1870/71 an Deutschland verlorenen Gebiete (Elsass-Lothringen) an und auf die Bestrebungen revanchistischer Kreise, sie zurückzuerobern), leerte sein Glas aus purem Anstand.
Schließlich kam die Dame wieder, allein, mit Koffern und Paketen beladen. Die beiden Droschken nahmen ihre verrückte Fahrt wieder auf und hielten erst am Bahnhof Saint-Lazare.
Dieses Mal, geben wir es zu, war Jean einen Augenblick lang entmutigt. Bah, sagte er sich dann, es wird nicht weiter gehen als nach Maisons-Laffitte … Armer Jean!
„Dieppe, einmal erster Klasse“, verlangte die Dame.
„Dieppe, einmal erster Klasse“, wiederholte Jean.
Die Stimme der Schönen trieb Jean vollends zum Wahnsinn.
„Seltsam, voll Musik die Stimme, war es eine Fee, ein Engel,“ sagt der Dichter Charles Cros.
Anfangs verlief die Reise einigermaßen frostig.
Sie waren zu dritt im Abteil: Er, sie und ein alter Geistlicher, den Jean trotz seiner guten Erziehung zu allen Teufeln wünschte. Jean hatte sich der Dame gegenüber in eine Ecke gesetzt.
Berichten wir ohne Umschweife, dass die Sache in Gang kam und die Tunnel dafür recht günstig waren.
Aber als sie in Dieppe ausstiegen, sagte sie hastig mit leiser Stimme: „Von diesem Augenblick an kennen wir uns nicht mehr, abgemacht?“
Jean versprach es, den Tod im Herzen.
Um diese Zeit war es in Dieppe noch menschenleer.
Am Tag nach seiner Ankunft spazierte unser verzweifelter Freund melancholisch über die Kais, schreckte aber plötzlich auf.
Da war sie, zum Donnerwetter, ganz allein auf einer wunderhübschen kleinen Yacht. Ein Matrose schlief am Bug auf einem Haufen Tauwerk.
Jean vergaß seinen Schwur und sprang, ohne über seine Regung nachzudenken, mit einem Satz an Bord.
Die Dame warf ihm einen vernichtenden Blick zu, machte eine Anspielung auf seine offensichtliche geistige Zerrüttung und wies auf einen großen Kasten in der Kajüte.
„Dort hinein, und kommen Sie nicht vor Anbruch der Nacht heraus“, sagte sie. „Wenn mein Geliebter Sie an Bord findet, bringt er Sie um wie einen Hund.“
Der Deckel hatte sich kaum über seinem Kopf geschlossen, als der besagte Geliebte auftauchte.
Es handelte sich um einen Protz reinsten Wassers, einen ehemaligen Dreiviertelstunden-Präsidenten einer kleinen Äquatorrepublik; von diesem hohen Amt rührten auch seine autoritären, ganz und gar furchteinflößenden Manieren her.
Er umarmte die Dame mit unendlicher Zärtlichkeit und zugleich tropischer Glut.
„Prächtiges Wetter“, sagte er, „eine schöne Brise. Wir werden die Segel setzen, bei Flut auslaufen und mitten im Ärmelkanal soupieren. Ist dir das recht, meine Kleine?“
Wäre es „der Kleinen“ nicht recht gewesen, hätte das auch nichts geändert, deshalb verzichtete sie auf jeden Einwand.
Armer Jean!
Ein leichtes Schlingern und das Schlagen der Wellen zeigten ihm an, dass sie auf dem Meer waren.
Auf Deck wurde nun vergnügt zu Abend gespeist, die Champagnerkorken knallten fröhlich ein ums andere Mal, und ihr Echo hallte schmerzhaft in Jeans Herzen wider. Auch in seinem Magen.
Die Party war auf ihrem Höhepunkt angelangt, wie es in gewissen Klatschspalten heißen würde, als sie jäh von einer unförmigen schwarzen Masse unterbrochen wurde, die sich durch die Nacht vorwärts schob.
Dann ein furchtbares Krachen, Schreckensschreie.
Die Yacht wurde höchst simpel in zwei Teile zerschnitten, und zwar durch den spitzen Bug von „Uncle Sam“, dem stolzesten Dreimaster, den die amerikanische Marine besaß.
Durch den Aufprall wurde Jean weit aus seinem Kasten ins Meer geschleudert.
Im Nu waren alle Schiffbrüchigen gerettet, von den Amerikanern an Bord genommen und trocken gerubbelt.
Als man sich etwas von diesem Dilemma erholt hatte, fragte der Protz den Kapitän, wo er das nächste Mal anzulegen gedenke.
„Auf den Fidschi-Inseln“, erwiderte ungerührt der Seemann.
Ein Schrei des Entsetzens und der Empörung!
Aber der Yankee machte sehr entschieden klar, dass er nicht um einen Deut von seiner Route abweichen würde.
„Ich bin schließlich nicht hierher gekommen, um mit euch zusammenzustoßen. Wenn ihr bei mir an Bord seid, dann nur, weil ihr, statt aufzupassen, ein Gelage veranstaltet habt. Es war schon viel, dass wir euch aufgefischt haben. Wenn ihr mir eine Million Dollar gebt, bin ich bereit, euch unverzüglich an Land zu bringen. Wo immer ihr wollt! Aber so … Ich habe gewettet, vierzehn Tage früher auf den Fidschi-Inseln einzutreffen als jeder beliebige europäische Segler. Mein Gegner ist die ‚von Bismarck’ aus Lübeck. Die Ehre der Vereinigten Staaten steht auf dem Spiel.“
Das war so deutlich gesagt, dass keiner sich widersetzte. Also fuhr man nach den Fidschi-Inseln. Begreift ihr aber, wie heikel die Lage für Jean war?
Der Protz, der ihn im Durcheinander des Zusammenpralls nicht auf seinem Boot bemerkt hatte, glaubte, er gehöre zu den Amerikanern. Die Amerikaner dagegen wussten genau, dass man ihn zusammen mit den anderen aufgefischt hatte. Daher fiel ihm die schwierigste Rolle in diesem ganzen modernen Theater zu.
Übrigens hat ihn die Reise ans andere Ende der Welt nicht gebessert. Höchstens, dass er misstrauisch wird, wenn er eine Dame einen Bahnhof ansteuern sieht oder eine Yacht.“
Sie haben sicher sehr gut amüsiert. Und das war ja auch der Zweck dieser Geschichte und der von Klaus Möckel angeregten und in die Tat umgesetzten Neuentdeckung dieses hierzulande zu Unrecht noch immer relativ unbekannten französischen Schreibers. Also, gehen Sie auf Entdeckungsreise! Allez, Alphonse Allais!
Aber auch die anderen Angebote dieses Newsletters sind das Anschauen, Probieren (und Bestellen) wert. Das gilt sowohl für die spannende Zukunftsgeschichte auf der Erde in der unserer neuen Rubrik „Fridays für Future“ als natürlich auch für die Geschichten um Valeska und ihre Suche nach dem Glück, um den berühmten Komponisten Händel, um Fanny sowie um die beiden Tbc-Patienten und um Mäxchen und Pauline, die beide große Träume haben. Ob sie wohl in Erfüllung gehen?
Viel Spaß beim Leben und Entdecken, weiter einen schönen Sommer und bis demnächst – bis Freitag: Friday for Future …
Ach, und waren Sie eigentlich schon mal auf den Fidschi-Inseln?