Kosmisches Silvester, ein toter Mann im Eis, Außerirdische auf der Erde sowie Sehnsucht nach Meer – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 05.07. 2019) Eine Entdeckung ist zu vermelden – eine Wiederentdeckung. Sagt Ihnen vielleicht der Name Günther Krupkat noch was? Nein? Oder doch noch irgendwie? So oder so lohnt sich eine erneute Bekanntschaft mit diesem Autor und seinen Büchern, in denen er vielfältige Themen aufgriff, sich aber vor allem dem phantastischen Roman widmete. Günther Krupkat, der 1905 in Berlin geboren wurde und 1990 ebenfalls in Berlin starb, gehörte vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu den markantesten Science-Fiction-Autoren der DDR, gleichsam zu deren SF-Pionieren. Einen guten Einblick in das vielseitige Schaffen dieses Schriftstellers, der sein in den Jahren der großen Inflation aufgenommenes Ingenieurstudium zunächst aus Geldmangel abbrechen und als Monteur für Hochspannungstechnik arbeiten musste, das Studium erst nach dem zweiten Weltkrieg in der DDR beenden konnte und seit 1955 als freiberuflicher Autor tätig war, geben in diesem Newsletter gleich vier Titel von Krupkat.
Zu seinen besten Büchern gehört auf jeden Fall sein zweites Buch, der Utopische Roman „Die Unsichtbaren“.
In „Die große Grenze“ thematisiert Krupkat den Wettlauf zwischen der Sowjetunion und den USA um den ersten Flug ins All – übrigens noch bevor es in Wirklichkeit soweit war.
„Das Schiff der Verlorenen“ ist ein packender Titanic-Roman.
Grundlage für „Als die Götter starben“ ist die These, dass außerirdische Gäste unseren Heimatplaneten besucht haben, wobei Krupkat diese Idee noch vor einem gewissen Erich von Däniken literarisch umgesetzt hatte. Auf der Internetseite www.sternenradar.de wird dieser Roman als „ein Klassiker mit Tiefgang“ bezeichnet und mit dem Prädikat „sehr empfehlenswert“ versehen.
Diese vier Titel, die für die bereits erwähnte Wiederentdeckung des engagierten Autors werben, der von 1972 bis 1978 im Schriftstellerverband der DDR Vorsitzender des von ihm selbst initiierten Arbeitskreises Utopische Literatur war, erscheinen wie auch eine Reihe weiterer Krupkat-Bücher zwar erst am 15. Juli, sie können aber bereits jetzt im E-Book-Shop www.edition-digital.de eine Woche lang (Freitag, 05.07.19 – Freitag, 12.07.19) zum Sonderpreis bestellt werden.
Ebenfalls zum Sonderpreis zu haben ist im selben Zeitraum das fünfte Angebot dieses Newsletters: „Störtebekers Erben. Die abenteuerlichen Jugendjahre des Vitalienbruders und Likedeelers Johannes Engelbrecht“ von Rudi Czerwenka. Und mit diesem ausführlichen Buchtitel ist auch schon geklärt, worum es in diesem detailfreudigen historischen Roman geht.
Aber auch heute gibt es wieder ein E-Book zum hochaktuellen Fridays for Future – Freitage für die Zukunft. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Allerdings sind diese Angebote im Gegensatz den anderen Offerten nicht preisgesenkt, sondern sie werden zum Normalpreis verkauft. Und damit aus der Vergangenheit in die Zukunft – zu dem aktuellen Fridays-for-Future-Angebot von Edition digital.
Erstmals 1998 veröffentlichte Alexander Kröger in seinem eigenen Verlag, dem KRÖGER-Vertrieb Cottbus, den Science-Fiction-Roman „Das zweite Leben“. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2011 im Projekte-Verlag Cornelius erschien: Sieben Menschen sind zu unterschiedlichen Zeiten in Anabiose versetzt worden und gleichzeitig unter rätselhaften Umständen in einem verrotteten Bergwerk erwacht. Eigene Lebenserfahrungen aus mehreren Jahrhunderten lassen sie eine begrenzte Überlebenschance nutzen; die Ausgänge aber sind verschüttet. Auf der scheinbar aussichtslosen, gefährlichen und entbehrungsreichen Suche nach Rettung entdecken sie unheimliche und unheilvolle Spuren menschlichen Wirkens. Klone unter ihnen - mit welchem Auftrag? Nach Verrat in den eigenen Reihen wird fraglich: Finden sie zurück in eine menschliche Gesellschaft - und wenn: Was erwartet sie in ihr? Im Hintergrund der spannenden Handlung des Science Fiction-Romans aus dem Jahre 1998 skizziert Alexander Kröger ein Zukunftsbild der Menschheit. Hier ein Auszug aus diesem spannenden Buch:
„Als Helen erwachte, fühlte sie sich ruhiger. Sie nahm sich vor, sich zunächst mit den Gegebenheiten zu arrangieren. Zwar empfand sie es als äußerst seltsam, dass allem Anschein nach die Zweitlebensvereinigung aufgehört hatte zu existieren - zumindest in dieser Station -, aber immerhin hatte man Vorräte angelegt, und vielleicht war es kein Zufall, dass gerade sie, Helen, erweckt worden war. Vielleicht war ihre Zeit gekommen, vielleicht läuft ein Programm. Und vielleicht auch klärt sich das Unheimlich-Geheimnisvolle auf.
Nach einem dürftigen Frühstück, bestehend aus Wasser und einer Art Flocken, nahm Helen sich die Überwachungszentrale vor. Aber sie fand nicht die geringsten Aufzeichnungen, lediglich eine intakte, laufende Uhr, die den 25. März des Jahres 07 anzeigte. >Na also<, dachte Helen überrascht und erleichtert, >am 14. Dezember 2036 bin ich eingeschlafen. Gerade 102 Tage! Wusste ich’s doch. Immerhin, ein nennenswerter Zeitraum! < Aber irgendwo in ihrem Kopf nagten Zweifel, angesichts des desolaten Zustands dieses Bergwerkes. >Doch das konnte sich schon vorher in diesem Zustand befunden haben, bevor man mich hierher verbracht hat.
Aber weshalb sollte man mich verbracht haben? Gab es nach solch kurzer Zeit etwa diesen Zweitlebensverein nicht mehr? Unwahrscheinlich. Jene, die vor diesen hundert Tagen den Prozess überwacht, mich umgesiedelt haben, müssten sich doch erinnern ...? Mindestens zwanzig von ihnen waren um mich herum! Abwarten, Helen, die Antworten werden sich finden ... Noch bin ich erst wenige Stunden ...<
Ins Rund der halb eingestürzten Halle mündeten die Zugänge zu annähernd 20 weiteren betonierten Räumen, die, so ließ sich vermuten, ehemals als Wohn- oder Aufenthaltsräume gedient hatten. Das ohnehin dürftige Mobiliar wies Schadspuren auf.
Helen erkundete weiter, ließ dabei alle Vorsicht walten. Von der Riesendiele führte eine breite, weithin verbrochene Strecke zum Füllort. Soweit kannte Helen sich in der Fachterminologie aus. Es war jener Teil des Bergwerkes, in dem die Hauptstrecken in den Schacht münden, von wo aus auch die abgebauten Massen nach Übertage gefördert wurden, die Mannschaften aus- und einfuhren sowie die Materialien nach Untertage verbracht wurden. >Verbracht wurden<, dachte Helen sarkastisch. >Auch ich wurde verbracht.<
Von der Hauptstrecke aus führten Abzweigungen einige Meter links und rechts ins Gebirge, waren aber samt und sonders mit Geröll zugeschüttet, Helen hatte den Eindruck, absichtlich, durch Sprengungen vielleicht, unzugänglich gemacht. >Ehemalige Abbaue?<
Am Füllort konnte Helen mehrere starke Lampen einschalten. Aber auch ohne die wäre ihr bewusst geworden, dass über diesen Schacht eine Erlösung aus ihrem Dilemma nicht zu erwarten war. Aus den weiland den Förderkörben vorbehaltenen Zugängen quollen Gesteinstrümmer, Mauerreste und verrottete Träger. Schon auf den ersten Blick schien es absolut ausgeschlossen, durch diesen Schacht die Tagesoberfläche zu erreichen.
Helen wollte endgültige Gewissheit erlangen. Sie schritt die Strecke ab, in die die Kammern mündeten, in der vagen Hoffnung, sie führe womöglich zu einem zweiten, intakten Schacht. Aber auch diese Hoffnung trog. Wenige Dutzend Meter hinter der letzten Kammer endete auch diese Strecke wüst. Die Firste war regelrecht heruntergebrochen.
Niedergeschlagen war Helen in den Vorratsraum zurückgekehrt. Sie zwang sich, eine grobe Übersicht über das Vorhandene zu verschaffen, um sich einigermaßen ordentliche Mahle zubereiten zu können. Dann richtete sie sich das Arbeitszimmer provisorisch her, es war geräumiger, freundlicher als ihre Kammer, vor allem nicht so profan technisch eingerichtet.
Bei allem, was sie tat, dachte Helen lediglich eine Lebensmittelpackung, ein Möbelstück voraus. Sie zwang sich, nicht tiefer, nicht an das Morgen zu denken, nicht daran, was wäre, wenn selbst diese Menge an Essbarem aufgebraucht sein würde ...
Später, nach einer fast normalen Mahlzeit, die sie als Abendbrot bezeichnete, war Helens Elan verraucht. Verzweiflung ergriff sie derart, dass sie Tränen nicht zurückhalten konnte. >Wäre es nicht ...zigmal besser gewesen, sie hätten mich meinen Tablettenschlaf zu Ende schlafen lassen? Nun, es lässt sich auf andere Weise wiederholen, und niemand ist hier, der es verhindern wird ...<
Wie lange sie gesessen, vor sich hingestarrt und ihr Elend sie gefangen gehalten hatte, hätte sie später nicht zu sagen vermocht. Schlaf hatte sie übermannt. Im Einnicken warf sie ein Glas Fruchtsaft um. Eine rote Lache breitete sich schnell über den Tisch aus. Helen wandte sich jäh ab, um ihr Kleidungsstück nicht zu beflecken.
Aber sie war aufgeschreckt, einen Augenblick aus ihrer Lethargie gerissen. >Bevor ich über mein Leben beschließe, muss ich den anderen ihre Chance geben. Ich werde sie wecken, morgen. Sie alle haben sich, aus welchem Grunde auch immer, auf das Experiment eingelassen in der Hoffnung, dass ein Fünkchen Wahrheit in den Prognosen läge. Darin, Helen, liegt deine Verantwortung. Ein anderer, der sie wahrnehmen könnte, existiert offenbar nicht. Noch eine Nacht darüber schlafen, aber ich werde sie wecken! <
*
Helen blieb bei ihrem Entschluss. Der frühe Morgen - sie richtete sich einfach nach der Anzeige der Uhr, um ihren Tagesablauf zu regeln - fand sie in der Zentrale. Sie studierte die Aufschriften, rief sich die Funktionen der einzelnen Geräte, seinerzeit von den Zweitlebensjüngern in einer Art Technikrausch ausführlich erläutert, ins Gedächtnis, und sie war sich im Klaren darüber, dass ein Fehler, der ihr unterlief, den Schlaf der unbekannten Schläfer da draußen in einen ewigen verwandeln konnte. Einmal dachte sie flüchtig daran, dass es womöglich deren Schade nicht sein müsste. Denn ob man ihr unbedingt Dank entgegenbrächte, wenn das Wiedererwecken gelingt, blieb ohnehin zu bezweifeln. Nichtsdestotrotz - es soll jeder selber entscheiden können.
Für ihr weiteres Handeln blieb Helen eine Überdenkensfrist: Der Prozess des Aufweckens würde zehn Tage dauern, zehn Tage, die sie in konzentriertem Funktionieren würde verbringen müssen, die sie ihr Leben fristen und ihr Umfeld weiter erkunden ließen. Denn außer bei den Lebensmitteln hatte sie längst keinen detaillierten Überblick über das Vorhandene, das vielleicht noch Brauchbare und das, was Schrott war. Und es wäre wohl nicht unvorteilhaft, fänden die anderen eine verlässliche Bilanz vor.
Überhaupt, je mehr sich Helen gedanklich mit ihren noch imaginären Gefährten befasste, desto gespannter wurde sie. Sie hätte gern vorgegriffen, sich gewissermaßen auf das Begegnen vorbereitet, allein, so intensiv sie auch abermals suchte, es fanden sich keinerlei Unterlagen über die Schläfer. Was sie allerdings entdeckte und sie für die nächsten Schritte sicherer machte, waren Angaben zum Weckvorgang, insbesondere mit Hinweisen auf die Zeitfolgen.
Helen gönnte sich zwei Tage intensiven Studiums und des Trockenübens. Sie ging gedanklich immer wieder die einzelnen Vorgänge durch, lernte einige Bedienschritte auswendig, war dann zuversichtlich, den Prozess einigermaßen fehlerfrei steuern zu können. Sie hoffte nur inständig, die desolate Installation möge noch soweit intakt sein, dass die Kammern ausnahmslos anzusteuern wären.
Am Morgen des sechsten Tages ihres zweiten Lebens - Helen konnte über einen solchen Gedankengang amüsiert lächeln, was sie für ihre Gemütsverfassung als einen Fortschritt empfand - leitete sie für zwölf Kammern den Weckvorgang ein.
Aber nur von sieben kam eine Rückmeldung.
Aus den Kammern 3, 4, 9, 21 und 22, die nach der Matrix belegt sein sollten, kam kein Antwortsignal, so oft Helen auch den Ruf wiederholte. Das konnte dreierlei bedeuten: Entweder waren die Kammern entgegen der Anzeige leer, oder die Verbindung war gestört, oder die Schläfer ...
Helen spekulierte nicht und gab alsbald das Probieren auf, in der Gewissheit, ohnehin nichts ausrichten zu können, wollte sie nicht Gefahren für die Schläfer heraufbeschwören. So oder so müsste sich alsbald einiges klären. Natürlich war sie sich bewusst, dass Fachleute Möglichkeiten eines Eingriffs gesehen hätten. Aber ...
Helen kontrollierte auch des Nachts. Sie hatte ihr Lager in der Zentrale aufgeschlagen und nutzte die Signalautomatik, ihren flachen Schlaf alle zwei Stunden unterbrechen zu lassen. Der elektronische Weckruf in die sieben Kammern pulste problemlos.
In der Zwischenzeit sichtete sie Vorräte, noch brauchbare Materialien und registrierte. Dabei bediente sie sich mangels einer anderen Möglichkeit einer uralten Methode. Sie ritzte in die Lackschicht der Schränke die Daten in Fünferkolonnen. Der Computer, der im Arbeitsraum stand, befand sich zwar äußerlich in einem tadellosen Zustand - was Helen zu allerlei Hoffnung Anlass gab -, aber er tat keinen Mucks. Später fand sie ein Bündel Bleistifte, mit denen sie zunächst auf wenig korrodierten Metallplatten aus dem Materiallager vorzüglich schreiben konnte. Das meiste vorgefundene Papier war spröde und zerbröselte schon bei leichter Berührung. Erst später entdeckte sie brauchbare Bögen, die offenbar jüngeren Datums waren.“
Das erste Buch von Günther Krupkat in diesem Newsletter, der Utopische Roman „Die Unsichtbaren“, erschien erstmals 1958 im Verlag Das Neue Berlin: Märchenhafte Städte unter dem künstlichen Klima eines ewigen Frühlings, Atomexpresszüge, elektronisch gesteuerte Autos, gewaltige Erdaußenstationen, vollautomatische Raumschiffe, Mondstationen – eine neue Welt unter entscheidend veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen. Und das bis zur Jahrtausendwende! Dieser utopische Roman entstand 1957, als die Euphorie über den ersten Sputnik und die friedliche Nutzung der Atomkraft die Fantasie der Menschen beflügelte. Das Buch schildert heute schon Erreichtes, in ferner Zukunft liegendes, Begegnungen mit Außerirdischen und lebensgefährliche Sabotage beim Wettbewerb um die erste Mondstation. Hier ein Einblick mit Ausblick:
„EINE SILVESTERNACHT IM WELTRAUM
Niko blickte zur Sonne, die nun bald hinter der Erdkugel verschwinden würde. Ja, da war sie, die gute alte Erde – 2000 Kilometer weit entfernt. Es sah aus, als hätte sie sich auf die Seite gelegt, um auszuruhen. Aber sie ruhte nicht, sie rollte unentwegt weiter. Immerfort veränderte sich ihr Gesicht, Kontinente glitten vorüber und die blitzenden Flächen der Ozeane. Mutter Erde zog gerade ihre letzte Runde im alten Jahr. Es war der Silvesterabend des Jahres 1998.
„Wir sollen hereinkommen, André. Hörst du nicht? Warwara hat sich bestimmt schön gemacht. Für dich natürlich.“
„Lass diese Anspielungen, Niko. Übrigens bin ich gleich fertig. Will nur noch die Naht zu Ende schweißen.“
Niko stand auf einem etwa zwölf Meter langen und fünf Meter dicken Rohr und verfolgte durch das „Fenster“ seines stählernen Helmes die letzten Handgriffe des Kameraden.
Er trug ebenso wie André einen Schutzanzug, der dem eines Tiefseetauchers ähnlich war. Arme und Beine hatten unter den dichtschließenden Gelenkvorrichtungen volle Bewegungsfreiheit. Die Hände bedienten von innen her mehrgliedrige Greifzangen, die es bei einiger Übung ermöglichten, jeden beliebigen Griff sicher und genau durchzuführen. Auf dem Rücken des Mannes befanden sich der Luftregenerator und der Wärmeregler. Im Helm war neben einigen Kontrollinstrumenten eine kleine Funkanlage angebracht, die für eine Verständigung mit der Außenwelt sorgte.
Ja, die Außenwelt! Überall lagen oder vielmehr schwebten große Rohre, Halbkugeln, Scheiben und Stahlträger. Es ging hier zu wie in der Montagehalle einer Werft und da waren auch zwei mächtige, glänzende Rundkörper, an die diese Einzelteile geschweißt, geschraubt oder sonst wie montiert wurden.
Aber eine Halle gab es hier nicht. Niko schaute um sich: unten nichts, oben nichts, rundum nichts! Überall gähnende Tiefe – der endlose Weltraum. Niko stand jedoch seelenruhig auf seiner Riesenröhre und jagte mit ihr in einer Stundengeschwindigkeit von 25 500 Kilometern davon. Er spürte gar nichts, es sei denn völligen Stillstand, genauso wie die Menschen auf dem Erdball, der sogar mit 106 000 Stundenkilometern durch den Raum zu brausen pflegt.
„André, beeile dich! Dort kommen schon die anderen“, drängte Niko.
Endlich war André soweit. Er zog sich an einer Leine zu Niko hinüber. Das ging ganz mühelos vonstatten, denn hier gab es keine Schwere mehr. Ein geringfügiger Anstoß genügte, um sich fortzubewegen. Darauf löste André den Karabinerhaken der Leine und die beiden setzten sich mit Hilfe handlicher Rückstoßapparate schleunigst in Bewegung. Ihre Kameraden hatten auf dieselbe Weise, gleich einem Geschwader moderner Engel, bereits den kosmischen Bauplatz verlassen. In sechs Schichten wurde hier gearbeitet, um zwei Raumschiffe für den interplanetaren Verkehr fertigzustellen.
„Schnell, schnell!“, ertönte eine Stimme in Nikos und Andrés Kopfhörern. „Wir haben nicht mehr viel Zeit und müssen uns noch umziehen.“ Das war Tillin, der Erste Monteur, der noch einmal die verlassene Stätte umkreiste, um zu prüfen, ob alles in Ordnung sei. Es wäre allerdings kaum nötig gewesen, denn die Bauteile konnten ja nicht hinunterfallen oder sich „selbstständig“ machen. Gleich darauf schwebte Tillin den anderen nach.
In einiger Entfernung wurde ein seltsames Gebilde sichtbar, das sich am tiefschwarzen Firmament drehte. Es zeigte gewisse Ähnlichkeit mit einem schräggestellten Kreisel. Das war die Außenstation Kosmos III, der am weitesten vorgeschobene Posten der Erde, der entfernteste künstIiche Trabant.
Die Station bestand aus einem rotierenden Zylinder, um den ein Ring von ungefähr zweihundert Metern im Durchmesser gelegt war. Die Köpfe an den Enden der Achse drehten sich in entgegengesetzter Richtung, was den Anschein erweckte, als ständen sie still. Dort befanden sich die Observatorien. Unterhalb des Zentralkörpers war eine Scheibe sichtbar: die Anlegestelle für Weltraumraketen. An allen Ecken und Enden ragten die korb- oder netzartigen Radar- und Funkantennen hervor. Überhaupt machte das ganze Gebilde in seiner Vielgestaltigkeit einen recht verworrenen, ja geradezu unordentlichen Eindruck. Aber hier kam es nicht auf Formschönheit, sondern einzig und allein auf größte Zweckmäßigkeit an.
Der Trupp Außenarbeiter war mittlerweile am Observatorium 1 angelangt und durch eine Tür in die geräumige Luftschleuse eingetreten. Von dort ging es weiter in einen Raum, wo hilfsbereite Hände die Gestalten aus ihren Schutzanzügen befreiten. Es kamen lauter junge, kräftige Burschen zum Vorschein. Nur Tillin, der Erste Monteur, war schon älter. Er war ein untersetzter, starkknochiger Mensch mit einem breiten, ausgeprägten, etwas grauen Gesicht.
Als alle Schutzanzüge an der Wand standen, wurde die lustig schwatzende Gruppe mit einem Lift zur zentralen Maschinenstation befördert, Dort musste sie in einen zweiten Lift umsteigen, der sie zum „Ring“ brachte, wo sich die Wohnräume befanden.
Schon auf der Fahrt dorthin ging an den Menschen eine Veränderung vor sich. Ihre Bewegungen, zuerst gleitend und behutsam, wurden sicherer, bestimmter, mit einem Wort, irdischer. Dies bewirkte die künstliche Schwere, hervorgerufen durch die Zentrifugalkraft der rotierenden Station, eine Kraft, die nach außen hin immer mehr zunahm, bis sie im Ring den normalen Verhältnissen auf der Erde entsprach. Die Bewohner dieses seltsamen Bauwerkes hatten so ihr „Gewicht“ wieder und wenn sie sich auch sozusagen an der Wand entlang bewegen mussten, störte sie dies nicht im Geringsten, denn es wurde ihnen gar nicht bewusst. Wo sie gingen, war eben der Boden, und die Zentrifugalkraft drückte sie darauf, so dass sie das Empfinden hatten, dass „unten“ wirklich unten sei, und dass sie sich ganz wie „zu Hause“ fühlten.
Auf dem langen Gang zu den Mannschaftsräumen trafen die Außenarbeiter Eva Rogan. „Nun mal ein bisschen Bewegung, Männer! Der Alte hat schon nach euch gefragt. In einer halben Stunde ist’s soweit.“ Mit diesen Worten feuerte sie den Trupp an, der auch sogleich ein etwas schnelleres Tempo einschlug.
Die gute Rogan galt als Respektsperson. Sie war eine mollige Blondine vom grünen Strand der Spree, die die Last ihrer dreißig jungfräulichen Lenze mit humorvoller Würde trug. Als das große Berliner Werk damals den ehrenvollen Auftrag zur Montage der Funkanlagen auf der Erdaußenstation erhalten hatte, war sie mit „hinauf „gegangen und schließlich hier geblieben. Jetzt war sie Funkdienstleiterin auf Kosmos III.
Die Männer schleuderten plaudernd weiter und verschwanden einer nach dem anderen in ihren Wohnräumen zu beiden Seiten des Ganges. Schließlich blieben nur noch Niko und André übrig, deren Zimmer das letzte war.
Vom kleinen Treibhaus her kam gerade, adrett und sauber gekleidet, die junge Gärtnerin der Station.
„Du willst wohl heute bummeln gehen, Warwara?“, neckte André.
„Mit euch beiden gewiss nicht“, gab sie prompt zur Antwort. „Na warte, du Radieschen! Marsch, in deinen Palmengarten!“, schimpfte Niko scherzhaft und gab ihr einen kameradschaftlichen Klaps.
Darauf verschwand sie wieder in ihr blühendes Reich, das, von der Helioanlage mit Licht und Wärme versorgt, nicht nur pflanzenbioIogischen Studien diente, sondern den Bewohnern der Weltrauminsel zugleich täglich das herrlichste Obst und das frischeste Gemüse auf die Tafel lieferte. Die Versorgung des Gewächshauses mit dem auf der Station natürlich kostbaren Nass bereitete keine Sorge, denn das von den Pflanzen ständig verdampfte Wasser wurde, ebenso wie die vom menschlichen Körper abgegebene Luftfeuchtigkeit, in Spezialanlagen gesammelt, mit Sauerstoff und Mineralsalzen frisch aufbereitet und dem Wasserkreislauf wieder zugeführt.“
Zwei Jahre später veröffentlichte Günther Krupkat ebenfalls im Verlag Das Neue Berlin seinen Zukunftsroman „Die große Grenze“: In kühner Voraussicht schildert Günther Krupkat in seinem 1960 erschienenen Roman „Die große Grenze“ bereits vor dem ersten Weltraumflug des sowjetischen Kosmonauten Gagarin, wie ein solches bedeutsames Ereignis vor sich gehen kann. An zwei Stellen der Erde wird intensiv an der Verwirklichung des Raumfluges gearbeitet. Während in der sowjetischen Stadt Utro die Sicherheit des Astronauten und die exakte Durchführung des Versuchs im Vordergrund aller Überlegungen stehen, herrscht auf Cap Caroline fieberhafte Nervosität. Es geht auf Biegen oder Brechen, denn den maßgebenden Leuten ist daran gelegen, den sowjetischen Vorsprung auf dem Gebiete der Raumfahrt aufzuholen. In dieser von Gegensätzen beherrschten Situation nimmt die packende Handlung ihren Lauf. Am Ende aber triumphiert der Geist der Verantwortung und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit, der allen ehrlichen Wissenschaftlern eigen ist. In dieser Passage sind wir zu Gast in Amerika:
„Party im Hause Bosworth
Jenseits des alten Fischereihafens von Maystone, den nur noch gelegentlich eine Privatjacht anlief, lag der Nordstrand. Hier hatte sich die Prominenz angesiedelt. Ihre Villen und Bungalows lugten, weitläufig verstreut, hinter Hügeln und Hecken hervor. Wenn man sich dem Nordstrand vom Hafen her näherte, bemerkte man zunächst ein Landhaus, dessen breite, blendendweiße Fassade von einer Anhöhe herableuchtete. Ein Park mit Golfplatz und seewassergespeistem Swimmingpool umgab das Haus, in dem die Familie Bosworth wohnte.
Der Name Bosworth war unstreitig der angesehenste am Nordstrand, und jeder, der etwas galt oder gelten wollte, legte Wert darauf, im Hause Bosworth als guter Bekannter ein und aus zu gehen.
Sidney Bosworth, Oberst der Air Force und Chef der Luftabwehr im Bereich Ost, war vierzig Jahre alt, ein schlanker, stattlicher Mann, zurückhaltend, jedoch nicht unzugänglich, immer von einer gemessenen Höflichkeit, hinter der sich ein zielklarer Wille verbarg.
Schon sein Vater war hoher Offizier gewesen und es stand für ihn fest, dass auch Carry, sein dreizehnjähriger Sohn aus erster Ehe, an dem er mit großer Liebe hing, auf der gleichen Laufbahn eine glänzende Zukunft finden würde. Man erzählte sich sogar ein wenig boshaft, er trage die Generalssterne bereits in der Tasche, nur wisse man nicht, ob für sich selbst oder für Carry.
Der Oberst hatte vor einiger Zeit zum zweiten Male geheiratet. Ann war zehn Jahre jünger als er. Ob die sehr hübsche, lebensfrohe junge Frau an der Seite des nüchternen Pflichtmenschen Bosworth glücklich war, vermochte niemand zu sagen. Einige behaupteten es, andere hingegen glaubten, dass der Heirat gewisse Spekulationen zugrunde gelegen hätten.
Seitdem der Oberst nach Maystone versetzt war, schien seine Ehe jedenfalls harmonisch zu verlaufen. Sie erfuhr auch durch Carrys Anwesenheit keine Trübung. Mrs. Bosworth hatte sich aus Eitelkeit lediglich ausbedungen, dass der große Junge sie nur Ann, nicht etwa Mama nennen dürfe.
An diesem Freitag kam Oberst Bosworth später als sonst vom Dienst, Ann und Carry erwarteten ihn bereits am Teetisch. Nach kurzem Gruß nahm er Platz. Gedankenverloren rührte er in seiner Tasse.
„Hattest du Ärger, Sid?“, fragte Ann vorsichtig.
Er schob die Tasse beiseite und strich mit den Fingern über die Stirn, an der oberhalb der rechten Schläfe eine etwa zehn Zentimeter lange Narbe brannte. Sie stammte von einem Granatsplitter, der den jungen Captain traf, als seine Maschine im Weltkrieg über der französischen Küste abgeschossen wurde. Mit dieser Verwundung war der Krieg für ihn zu Ende gewesen. Er kehrte in die Heimat zurück, wo er als bewährter Frontoffizier seine rasche Karriere begann. „Ärger? Nein“, sagte er fahrig. „Da war nur eben eine merkwürdige Meldung eingegangen. Erhöhte Alarmbereitschaft. Ich werde heute wohl noch einmal zum Stab fahren müssen.“
„Um Gottes willen! Ist was geschehen?“, fragte Ann.
Der Oberst fegte einen Krümel vom Tisch. „Nichts weiter! Vorsichtsmaßnahmen.“
Carrys dunkle Augen glänzten auf. „Will uns jemand überfallen, Dad?“, erkundigte er sich mit seiner brüchigen Knabenstimme. „Gib’s ihnen ordentlich! Der Dok sagt immer, uns könne keiner, wir seien die Stärksten.“
Lachend packte Bosworth Carrys lockigen Schopf. „Wer ist denn der Dok?“
„Aber, Dad! Das ist doch mein Lieblingslehrer.“
„Richtig! Du erzähltest mir schon von ihm. Nun, der Dok hat recht, wir sind die Stärksten. Und ich werde euch schützen .., wenn es mal nötig sein sollte.“
„Uns brauchst du nicht zu schützen, Dad. Ich habe mir einen Atombunker gebaut. Hinten im Park. Einfach prima! Ann hat auch Platz darin.“
„Fein, Carry! Aber trotzdem könntest du mit sauberen Fingern zu Tisch kommen.“
Der junge Bosworth warf einen kritischen Blick auf seine Hände. „Ist nicht so schlimm. Ich arbeite nämlich gerade an meiner neuen Antenne, weißt du.“
„Na, so was! Willst du mir deine Funkanlage heute Abend zeigen?“
„Gemacht, Dad!“
Ann hatte dem Gespräch lächelnd zugehört. Von Natur aus gutmütig und unkompliziert, anerkannte sie neidlos das enge freundschaftliche Verhältnis zwischen Vater und Sohn, auch als sich erwiesen hatte, dass ihre Ehe mit Sidney Bosworth kinderlos bleiben würde. Nun sagte sie: „Daraus wird nichts. Heute Abend haben wir eine Party. Hast du das vergessen, Sid?“
Der Oberst lehnte sich seufzend zurück, „Auch das noch! Muss ich dabei sein?“
„Freilich! Professor Maxwell hat zugesagt“
„Bei Gott, ich mag den Querkopf nicht“, sagte Bosworth. „Aber er ist nun mal ein hervorragender Raketenspezialist und solche Leute sind heute wichtig. Man muss sie im Auge behalten und darauf achten, dass sie nicht eigene Wege gehen“
„Bitte, fang' nur nicht wieder Streit mit Maxwell an!“, bat Ann.
„Keine Sorge. Ich hoffe, der Professor hat mittlerweile begriffen, dass Cap Caroline ein Versuchsfeld der Air Force ist. – Wen hast du außerdem eingeladen, Ann?“
„Frank Leslie.“
Bosworth junior verzog das Gesicht. „Ach, der!“
„Carry!“, mahnte Ann mit strengem Blick.
Aber der Vater fragte zwinkernd: „Magst du Dr. Leslie nicht?“
„Nein.“
„Warum?“
„Weiß nicht“, brummte Carry und schlug die Augen nieder.
Ann gab ihm einen Wink. „Ich denke, es ist Zeit, dass du auf dein Zimmer gehst.“
Im Hinausgehen wandte er sich um. „Kommst du abends zu mir herauf, Dad? Wegen der Funkanlage?“
„Mal sehen“, antwortete der Vater. „Wenn Ann und die Gäste es erlauben …“
„Okay!“ Damit verschwand Carry.
„Du solltest es nicht dulden, Sid, dass der Junge an Erwachsenen Kritik übt“, sagte Ann.
Bosworth lachte. „Er hat seine Augen und Ohren überall. Ich möchte nur wissen, warum er Leslie nicht leiden kann.“
Ann zuckte leichthin mit den Schultern und fuhr in der Aufzählung der Eingeladenen fort. „Dann werden die Armstrongs kommen, Rowether, Nicholls und – wie üblich – Mrs. Cumberley.“
„Mrs. Cumberley!“ Der Oberst rümpfte die Nase. „Gibt es eigentlich eine Party am Nordstrand, wo diese bigotte, hysterische Person nicht zu treffen ist?“
„Man kann es sich nicht leisten, sie zu übergehen“, meinte Ann. „Du weißt, Richter Cumberley hat einflussreiche Gönner in der Hauptstadt.“
„Eine recht bunte Gesellschaft hast du da wieder zusammengetrommelt, meine Liebe“, sagte Bosworth mit grimmigem Lächeln, „Hoffentlich geht es gut.“
Ann schob die Unterlippe vor. „Man muss froh sein, in diesem Maystone überhaupt eine Handvoll Leute aufzutreiben, mit denen man Umgang pflegen kann. Übrigens habe ich eine Überraschung für unsere Party bereit. Ein neues Gesicht: Miss Dodge.“
Er zog die Augenbrauen hoch. „Wer ist denn das?“
„Du wirst es schon sehen“, antwortete Ann geheimnisvoll lächelnd.
Die Türen der Erdgeschossräume waren weit geöffnet, so dass eine ganze Flucht behaglich ausgestatteter Zimmer den Gästen zur Verfügung stand. Es waren vierzehn Personen anwesend.
Einige Damen und Herren hatten sich mit Ann im Musiksalon zusammengefunden, wo ein stimmbegabter junger Mann den neuesten Schlager vortrug. Die Darbietung war jedoch keineswegs so genussreich, dass die Damen davon abgehalten wurden, die Wunderwerke ihrer Schneiderinnen unter lauten Äußerungen des Entzückens zu begutachten. Man wurde sich schließlich darüber einig, dass Ann wieder einmal die eleganteste Frau und damit Königin der Party sei.
Die Herren nahmen die Gelegenheit wahr, Ann mit Komplimenten zu überschütten. Nur einer von ihnen hielt sich abseits. Er lehnte lässig am Flügel und deutete seine Ovation für die Dame des Hauses durch eine flüchtige Verbeugung an.
Der starre Ausdruck seines schmalen Gesichtes mit den bernsteinfarbenen Vogelaugen löste sich unter einem dünnen Lächeln, und als gleich darauf die ersten Takte eines English Waltz erklangen, bot er Ann den Arm, um mit ihr den Tanz zu eröffnen.“
Wiederum ein paar Jahre später setzte sich Günther Krupkat in seinem Titanic-Roman „Das Schiff der Verlorenen“ mit diesem großen Thema auseinander. Das Buch erschien erstmals 1965 wiederum im Verlag Das Neue Berlin – ein halbes Jahrhundert nach: Wohl keine Schiffskatastrophe hat die Welt derart aufgewühlt wie der Untergang der „Titanic“. Roman und Film haben mehrfach das grauenvolle Ereignis nachgezeichnet und eine Antwort auf die Frage gesucht: Wie konnte es geschehen? Dabei sind manchmal aufschlussreiche Tatsachen mit Schweigen übergangen oder in einen Zusammenhang gerückt worden, der nicht der Wirklichkeit entspricht. Günther Krupkat legt einen „Titanic“-Roman vor, der den verwirrenden Erscheinungen auf den Grund geht und vor keinem Tabu haltmacht. Ausgelassenheit und Wettfieber kennzeichnen die Stimmung der Passagiere in der ersten Klasse, Trotz und Ungewissheit die der Auswanderer im Zwischendeck. Es gibt Intrigen und Liebesaffären, Klatsch und Rauferei. Aber vor dem Eisbauch des Todes verblassen die kleinen Skandale. Die Gewissheit des Untergangs wird zum Prüfstein für menschliche Größe und mancher versagt, der zuvor in hellem Licht gestanden hat. Der letzte Akt der Tragödie spielt vor einer amerikanischen Kommission, die die Überlebenden befragt. Die Verhandlung deckt ein unfassbares Maß von Niedertracht und Menschenverachtung auf. In einer Nachbemerkung unterscheidet der Verfasser zwischen romanhafter Erfindung und nackter Wirklichkeit und bestätigt die heute unvorstellbare Verantwortungslosigkeit, mit der hier mehr als fünfzehnhundert Menschen in den Tod getrieben worden sind. Die Handlung setzt jedoch ein paar Jahrzehnte später ein:
„ERSTES KAPITEL
Am 17. Februar 1957 meldete die Presse: Einen seltsamen Fund machte die Besatzung eines auf der Eisbergroute kreuzenden amerikanischen Wachschiffs …
Der Fund
Eine frische Brise rupft die See. Flach und behäbig rollt die Dünung über die Große Bank vor Neufundland. Von Luv her stäuben kleine, harte Wellen gegen das Schiff.
Der Himmel ist klargefegt, strahlendblau bis zur Kimm, mit ein paar weißen Wolkenfetzen. Ein Wetter wie selten in diesen Breiten des Nordatlantiks.
Der Matrose Pat meint, das sei so, weil heute sein Geburtstag ist. Neunzehn muntere Lenze hat der Bengel hinter sich. „Mach man weiter so. Aus dir wird schon noch ein Seemann“, sagte der Alte am Morgen, jawohl!
Pat rekelt sich in der Koje und genießt die Freiwache. Die Hände unterm Kopf, döst er mit halbgeschlossenen Augen, träumt ein bisschen. Na, wovon schon? Von schlanken Girls natürlich. Landurlaub müsste man haben. Das ausgerechnet diesmal sein Törn dran war!
Er stößt mit dem Fuß gegen den Boden des oberen Bettes. „Dave!“
„Eh?“, grunzt eine Stimme. Bretter knarren. Ein schwerer Körper wälzt sich herum.
Grübelnd fischt Pat nach einer zerknitterten Packung „Old Virginia“, zieht mit spitzen Lippen eine Zigarette heraus. „Wie lange bleiben wir noch draußen? Vier Tage?“
„Exactly.“
„Shit!“
In Pats roter Pranke klickt ein Feuerzeug, zweimal, dreimal. Die schlanken Girls wiegen sich zwischen blauem Dunst.
Das Schiff rollt leicht. Eintönig rumpelt die Maschine mit halber Kraft. In den Wänden knistert es unter dem Druck von See und Wind. Auf der Brücke tönen drei Doppelschläge der Schiffsglocke. Sechs Glas! Noch eine Stunde bis zur Ablösung.
Mit einem Mal ändert sich der Takt der Motoren. Schneller hämmern die Kolben.
Pat hebt den Kopf. Eine Tasse scheppert auf dem Tisch.
„Dave! Hörst du das?“, ruft Pat nach oben.
Ehe der andere antwortet, gellen Signalpfiffe. Alle Mann an Deck!
Zwei Seemannsstiefel baumeln einen Augenblick lang vor Pats Nase. Dann schießt Dave aus seiner Koje abwärts.
Er stemmt die Fäuste auf die Schenkel und zwinkert Pat zu. .“Kriech aus dem Himmelbett, Lord! So eine Freude an deinem Geburtstag. Hat sich der Alte bestimmt eigens für dich ausgedacht.“
„Halt’s Maul!“ Pat sucht fluchend seine Mütze zwischen den Decken.
Zischend prescht das Patrouillenboot durch die sprühenden Brecher. Der kleinen Schar, die bei der Brücke angetreten ist, fliegt Gischt um die Ohren. Der Wind zerrt an Haaren und Hosen.
Pat schaut sich um. Achteraus versinkt Kap Race im Meer. Über Steuerbord wippen scwarze Punkte am Horizont: eine Fangflotte vor den reichen Fischgründen der Neufundlandbank.
Voraus aber erhebt sich ein seltsames Gebilde aus den schäumenden Wogen. Es fesselt den Blick, lässt ihn nicht mehr los, entführt die Gedanken in ein Wunderland.
Wie ein Traumschloss aus grünweißem Marmor ragt es mit seinen Türmen, Zinnen und Bogen aus der See, umgeben vom leuchtenden Band einer starken Brandung. Nebelfähnchen wehen an seinen Spitzen, gut dreißig Meter über dem Meer.
Ein Eisberg! Von Grönlands Gletschern geboren, zieht er majestätisch südwärts.
Der Kapitän nimmt das Fernglas von den Augen und sagt zum Steuermann, der noch immer auf das faszinierende Bild schaut: „Kein Zweifel, das ist er! Wurde vor kurzem erst gemeldet.“ Sein Finger fährt über die Merktafel des internationalen Warndienstes. „Registriert unter Nummer siebenundsiebzig. Mit drei Sternen!“
Der Steuermann schiebt die Mütze ins Genick. „Ein gefährlicher Bursche.“
„Sehen Sie sich die Brandung an, Steuermann. Kilometerlanges Unterwassereis. Möchte diesem Brocken nicht in der Nacht begegnen, womöglich ohne Radar, und dann so eine Schlafmütze im Krähennest.“ Er beugt sich über die Nock. „He, Boys! Endlich haben wir ihn. Werden ihm eins in die Visage brennen, dass ihm das Herumspuken vergeht. Pinasse mit Sprengkommando klar zum Auslaufen!“
Die Matrosen spritzen auseinander. Pfiffe, Kommandos, Klingeln des Maschinentelegrafen. Flinke Fäuste packen zu, jeder Griff sitzt.
Dave grinst, als er hinter Pat ins Boot springt, das knarrend und quietschend zu Wasser geht. „Habe ich’s nicht gewusst? Alles dir zuliebe.“
Die Führungsseile fliegen ab, der Motor knattert los. Durch die anrollenden Seen schiebt sich die Pinasse auf der Leeseite an den weißen Giganten heran. Fünf Männer ducken sich hinter der Windschutzscheibe.
Angeseilt, mit Pickel und Steigeisen beginnt das Kommando den Aufstieg. Gebirgsmarine werden diese Burschen von Ihren Kameraden scherzhaft genannt. Keuchend schleppen sie das Sprenggerät auf dem Rücken mit sich. Die Schläuche der Bohrmaschinen schleifen hinter ihnen her.
Pat bereitet das Eisklettern unbändige Freude, trotz aller Gefahr und Mühe. Endlich eine Abwechslung im Gleichmaß des Alltags auf See, eine Gelegenheit zu harter Bewährungsprobe vor den spiegelglatten Eiswänden!
Als erster erreicht er eine Plattform. Dort bleibt er breitbeinig stehen, schwenkt die Arme und brüllt vor Übermut. Zwanzig Meter tiefer schaukelt das Boot am Fuße des Berges in einer Bucht, unter der azurblaues Eis schimmert. Weiter hinten treibt das Wachschiff zwischen den Wellenkämmen.
Nun sind auch die anderen oben, werfen die Geräte ab und wischen sich den Schweiß von der Stirn. Warrick, der Sprengmeister, sieht sich um, gibt Anweisungen. Die Bohrer beginnen sich ratternd in das Eis zu fressen. Dynamitpatronen gleiten in die Löcher, Kabel rollen ab.
Auf halber Höhe soll die zweite Sprengung erfolgen. Watrick untersucht sorgfältig eine breite Terrasse des Eisschlosses. „Pat, hier bohren! Du dort. Und du an dieser Stelle. So, wir wollen den bleichen Gesellen schon aus der Ruhe bringen. Am Sockel des Obereises gibt’s aber noch ein schönes Stück Arbeit.“
„Okay, werden wir gleich haben.“ Pat setzt den Bohrer an. „Geht ja wie Butter“, ruft er durch den Lärm,
„Wird neues Eis sein. Das ist nicht günstig.“ Der Sprengmeister runzelt die Stirn.
„Von diesem Jahr?“
Warrick lacht. „Nein, aber vielleicht ist das Eis erst zehn, zwanzig oder dreißig Jahre alt. Die oberen Schichten enthalten viel Luft, sind poröser als altes Gletschereis und deshalb ziemlich weich. Vorsicht beim Bohren!“
„Mir soll’s … Pat bleibt der Satz im Munde stecken. Der Bohrer rutscht ihm aus der Hand. Ein Spalt bricht auf. „Achtung!“, brüllt Pat den anderen zu.
Warrick springt zur Seite.
Im selben Augenblick löst sich ein Eisblock. Unter Donnergetöse stürzt er ab, klatscht ein paar Sekunden später ins auf schäumen de Wasser.
„Glück gehabt“, knurrt der Sprengmeister und kratzt sich hinterm Ohr. Als er Pats verdutztes Gesicht sieht, muss er lächeln. „Was ist denn? Hast wohl ’ne Goldader entdeckt.“
Pat steht wie angewurzelt und stiert aufs Eis. Langsam wendet er sich um. Seine Lippen zucken, die Augen flimmern. Er deutet auf die Bruchstelle.
Kopfschüttelnd tritt der Sprengmeister näher, auch Dave kommt heran. Alle drei starren auf ein dunkles Etwas, das unter dem Eis undeutlich sichtbar ist.
Dave fasst sich zuerst. „Ein Stück Holz. Was sonst?“
„Holz soll das sein, du Idiot?“ Pat wechselt mit dem Sprengmeister einen Blick.
„Gib mal den Pickel her!“, murmelt Warrick. „Auf keinen Fall ist das Holz.“ Er kniet nieder und schabt das Eis behutsam weg. Die beiden anderen schauen neugierig zu.
Nun ist ein Stückchen des länglichen Gegenstandes freigelegt. Warrick hält inne. „Kein Holz. Ist Stoff oder so was.“ Wieder fliegen Eissplitter unter den Schlägen des blanken Stahls. Pat und Dave halten den Atem an.
Immer deutlicher tritt die Form des geheimnisvollen Fundes zutage. Zuerst ist es ein Fuß. Dann ein ganzes Bein, von einer schwarzen Hose bekleidet!
Schwer atmend richtet sich der Sprengmeister auf. „Jungs! Sagt, was ihr wollt, in diesem verdammten Eisberg ist ein Mensch eingefroren. Los, die Bohrer her! Vorsichtig ansetzen. Nicht dort!“ Er reißt mit der Hacke ein paar Linien an. „Hier müsst ihr bohren. Ja, so ist’s richtig.“
Eine Viertelstunde später haben sie einen Block freigelegt. Einen gläsernen Sarg, in dem ein Mensch ruht, als schliefe er.
Drei Gesichter drücken sich gegen das Eis. Da liegt wahrhaftig die völlig erhaltene Leiche eines Mannes, der bei seinem Tode sechzig Jahre alt gewesen sein mochte. Er hat volles graues Haar und einen silberweißen Schnurrbart. Das merkwürdigste aber ist, dass der Tote nur Hemd und Hose trägt.
„Mensch, Dave, das ist doch ein Frackhemd. Sogar die weiße Schleife ist noch tadellos gebunden.“
„Seht euch mal die Knöpfe am Hemd an. Wie die schimmern! Ich will den Captain verschlucken, ohne zu beißen, wenn das nicht echte Perlen sind.“
„Komisch sieht die Kleidung aus. Noch nie gesehen. Oder doch! Wartet mal … na klar, im Kino oder im Fernsehen.“
„Ausgerechnet Frackhemd, schwarze Hose und Lackstiefel!“
„Ein Schiffbrüchiger?“
„Müsste schon lange her sein. Kommt ihr damit zurecht? Ich nicht.“
„Schluss mit der Fragerei!“ Warricks Hand fährt durch die Luft. „Wir wissen’s nicht. Jedenfalls nehmen wir ihn mit – so wie er ist. Die Leinen! Wir werden den Block abseilen.“ Das ist leichter gesagt als getan. Nach einer halben Stunde haben sie den Eisblock mit dem Leichnam im Boot.
In aller Eile werden die Vorarbeiten für die Sprengung beendet.
„Und wenn hier noch mehr Tote eingefroren sind?“ Voll Unbehagen lässt Pat den Blick über die gleißenden Klüfte schweifen.
Der Sprengmeister zuckt mit den Schultern. „Sollen wir den ganzen Brocken auseinandernehmen?“
Von der Pinasse aus schließt er den Kontakt der Zündung. Drei Detonationen dröhnen über die See. Das weiße Traumschloss wird in die Luft geschmettert. Ein Hagel von Eistrümmern prasselt nieder.
„Festhalten!“, schreit Warrick. Wie eine Nussschale tanzt das schwere Boot auf der brodelnden Flut, aus der das Unterwassereis emporrauscht.
Noch einmal fahren sie heran, treiben Minen mit Zeitzündern unter das Eis. Das gibt dem Koloss den Rest. Unter ohrenzerreißendem Krachen, das selbst die Detonationen übertönt, bricht er auseinander. Wieder steigen Fontänen, im aufgewühlten Wasser wirbeln zentnerschwere Bruchstücke. „Nummer siebenundsiebzig“ hat auf gehört, eine Gefahr für die Schifffahrt zu sein.
Der Kapitän macht große Augen, als die Pinassc anlegt. „Was, zum Teufel, schleppt ihr da mit?“, ruft er hinunter. „Ein Mensch war im Eis, Captain!“
„Ein … was? Ich drehe euch das Genick um, wenn ihr mir ein Garn vorspinnen wollt!“
Warrick schlägt die Plane zurück, deutet auf den Eisblock. Nun sagt der Kapitän nichts mehr. Eine ganze Weile nicht. Der Steuermann kommt hinzu, die übrigen Matrosen,
Selbst die Maschinisten blinzeln aus verschmierten Gesichtern zum Wasser, wo das Boot mit seiner unheimlichen Fracht in der Dünung auf und nieder schwappt.
Plötzlich stößt der Kapitän einen meterlangen Fluch aus, jagt alles fort, was auf Deck nichts zu suchen hat. Er stürmt zur FT-Kabine, reißt dem Funker das Mikrofon aus der Hand und gibt die sensationelle Meldung durch.
Sofort Hafen anlaufen, lautet die Antwort.“
Erstmals wiederum zwei Jahre später und natürlich wiederum im Verlag Neues Leben Berlin brachte Günther Krupkat den Utopischen Roman „Als die Götter starben“ heraus: Fünf Jahre, bevor der Name von Däniken auf dem Büchermarkt erschien, veröffentlichte Günther Krupkat dieses Buch. Ausgehend von einer Hypothese des sowjetischen Wissenschaftlers Agrest, wonach die große Steinterrasse von Baalbek am Fuß des Antilibanongebirges als Start- und Landeplatz außerirdischer Raumschiffe gedeutet werden könne, bezog er astronomische Fakten und biblische Überlieferung in eine phantastische Handlung ein. Sie beginnt im Dämmerlicht der Frühgeschichte und endet in einer strahlenden Zukunftsvision. Und damit geht es auf eine weite Reise:
„Der Schatten
Von der Erde aus, durch ein Teleskop betrachtet, erscheint die Landschaft Endymion als schwärzlicher Strich von zwei Millimeter Länge. In Wirklichkeit ist sie eine mit Lavablöcken und vulkanischer Schlacke bedeckte Ebene, die sich hundertfünfundzwanzig Kilometer weit erstreckt. Sie wird von steilen Gebirgszügen umschlossen und durchzogen. Außerhalb dieses gewaltigen Kessels, in einer seinen Südosthängen entspringenden offenen Wallebene, liegt die Mondstadt.
Die lebensfeindlichen Verhältnisse auf dem Weltkörper haben das Bild der Stadt einschneidend beeinflusst. Mit keinem Ort auf Erden ist Endymion zu vergleichen. Inmitten ewigen Schweigens, unter lähmender Kälte und sengender Hitze steht sie als Denkmal menschlicher Herrschaft über die Natur.
Wo der Felsenwall um Endymion sich öffnet und die scharfgratigen Wände abfallen, glühen die Signalfeuer des Flughafens. Aber kein Lichtdom wölbt sich zum nächtlichen Himmel, es fehlt die lichtstreuende Luft. Nur dort ist es hell, wohin die Strahlen treffen.
Die Start- und Landeplätze sind spiegelglatte Flächen aus künstlich geschmolzenem Mondgestein. Zwischen Gerüsten und Kränen schimmern die Leiber von Raumschiffen und Raketen des lunaren Verkehrs im Scheine zahlreicher Lampen. Abseits stehen die Kuppelbauten der Flugleitung, der Werkstätten und der Magazine.
Männer in weißen Skaphandern kommen und gehen. Ihre Schritte sind federnd, verhalten, der geringen Schwerkraft angepasst. Jeeps und Raupenschlepper rollen gespenstisch lautlos dahin.
Hermetisch geschlossene Personenwagen eilen über die zwei Kilometer lange Straße aus schwarzglänzendem Obsidian zur Stadt, vorbei an Fabrik- und Förderanlagen, an den Parabolspiegeln des Sonnenkraftwerks, das während der Tagesperiode Energie für die vierzehntägige Nacht speichert.
Am Ende der weiten Ebene ragen Berggipfel wie hohe Türme. Davor wölbt sich eine uhrglasförmige Kuppel von hundert Meter Höhe und mehreren Kilometern im Durchmesser. Sie besteht aus Silunit, dem „gläsernen Stahl“, und ist von milchigem Licht erfüllt.
Die Obsidianstraße führt direkt darauf zu; sie endet in einer tiefen Luftschleuse. Wenn sich das letzte Schott öffnet, bietet sich den Blicken eine märchenhafte Welt dar: die Äußere Stadt. Während die Thermometer draußen eine Temperatur von minus hundertfünfzig Grad Celsius registrieren, herrscht subtropische Wärme unter dem gläsernen Himmel.
Weit dehnen sich Gärten und Plantagen im milden Glanz der selbstleuchtenden Kuppelwände. Die Pflanzen und Bäumchen wurzeln nicht in Erde, sondern in einer Nährsalzlösung, die Karbonate, Stickstoffverbindungen und Phosphate enthält. Am Rande der Äußeren Stadt liegen Betriebe der Landwirtschaft, auch künstliche Fischteiche.
Zwischen dem Grün glitzern die Steinfassaden ferngesteuerter, vollautomatischer Industriewerke. Nahezu alles, was die Bewohner von Endymion zum Leben benötigen, wird hier erzeugt. Sogar die Luft und das Wasser.
Ein radiales Straßennetz durchzieht die Anlagen, zu denen auch die Bäder und das Stadion gehören. Sein Mittelpunkt ist der Sternplatz mit dem Monument. Es stellt drei Menschen in Raumanzügen dar, die ersten auf dem Monde.
Die Basis der durchsichtigen Kuppel ist im Hintergrunde mit den Wallhängen verschmolzen, die in Terrassen ansteigen. Von dort flimmern Lichtreihen durch die künstliche Atmosphäre. Unterhalb der Terrassen führen mehrere Schleusentore in den Berg, zur Inneren Stadt.
Wenn auch die Gefahr einschlagender Meteoriten auf dem Monde längst nicht so groß ist, wie man zu Beginn der Raumfahrt noch glaubte, und die mehrschichtige Silunitkuppel weitgehend Schutz bietet, so hatte man sich doch entschlossen, das Wohnzentrum für die dreihundert Menschen von Endymion und verschiedene zentrale Einrichtungen ins Mondinnere zu verlegen.
Mit Plasmastrahlern in den Fels gebrannte Stollen laufen als breite Straßenzüge durch das ringförmige Gebirge. Sie sind gesäumt von Wohnungen, Versorgungsmagazinen, Restaurants, von Kulturstätten und wissenschaftlichen Instituten. Auch die Hauptklinik, das Sanatorium und das Gästehaus befinden sich hier.
Oberhalb der Innenstadt, mit ihr durch Lifts verbunden, glänzen die Kugeldächer des Observatoriums, wo die Teleskope auf ferne Welten gerichtet sind. Die Leitstelle für Erdbeobachtung mit dem meteorologischen Kontrolldienst hingegen hat ihren Sitz in Letronne.
Die Menschen, die in Endymion leben, führen nicht mehr das harte, entbehrungsreiche Dasein der ersten Pioniere. Sie würden lächeln, wenn man sie bedauerte, und sagen, dass eine größere Ehre als die Versetzung zur Mondstadt nicht denkbar sei.
So ist Endymion die Erfüllung eines alten Menschheitstraumes, doch schon nicht mehr Ziel, sondern nur Meilenstein.
Das Archiv des Selenografischen Instituts in Endymion ist ein großer, fensterloser Raum. Stahlschränke stehen rundum an den Wänden. Sie schützen den kostbaren Fundus des Instituts: Tausende von Filmen, Fotos und Diapositive, auf denen jeder Quadratkilometer der Mondoberfläche in allen Einzelheiten festgehalten ist. Die Aufnahmen stammen von Exkursionen der selenodätischen Abteilung und von den regelmäßigen Flügen unbemannter Aufklärungsraketen. Sie sind die Grundlage für genaue Mondkarten und dienen zur Kontrolle von Veränderungen des Mondreliefs.
Hier arbeitet seit Monaten der Naturwissenschaftler und Archäologe Erik Olden gemeinsam mit der Französin Li Sartou und dem Afrikaner Percy Gombare im Auftrag des Weltforschungsrats an der Lösung einer ungewöhnlichen Aufgabe.
Die Deckenleuchten des Saales sind ausgeschaltet. Der Raum ist erfüllt vom Widerschein des scharfen Lichtkegels, der auf eine Projektionswand gerichtet ist. Am Bildwerfer glimmt ein Lämpchen. Es erhellt ein herbes, verschlossenes Frauenantlitz. Wie kräftige Kohlestriche stehen die Brauen zusammengezogen über den Augen, sie geben dem Blick einen Ausdruck starker Konzentration. Das blauschwarze Haar ist glatt und streng gescheitelt.
Die kleine, zierliche Li legt mit flinken Händen einen Film ein. „Fertig!“, sagt sie. Ihre Stimme hat einen harten, spröden Klang.
Der Apparat läuft an. Li rafft den weißen Kittel und setzt sich neben Gombare, der gespannt zur Bildfläche schaut, Sein Kopf mit dem grau-melierten Kraushaar ist leicht zur Seite geneigt. Das ebenholzfarbene Gesicht glänzt im Lichtspiel des abrollenden Films.
An einem mit Papieren, Büchern und Fotos bedeckten Tisch lehnt Erik Olden. Er ist ein großer, kräftiger Mann, achtunddreißig Jahre alt. Der offene Blick, die festgeschlossenen Lippen, das vorgeschobene Kinn verraten Kühnheit und Energie. Seine Gedanken sind immer von weltweiter Fantasie beflügelt und ganz den großartigen Perspektiven zugewandt, die das eben begonnene einundzwanzigste Jahrhundert der Menschheit bietet. Wer Olden genauer kennt, bewundert die Ausdauer, mit der er ein Ziel zu verfolgen pflegt.
Wenn er geht, fällt auf, dass seine linke Schulter etwas hängt. Ursache dafür ist ein Unfall, den er vor einigen Jahren erlitt. Bei Ausgrabungsarbeiten im Sudan traf ihn ein stürzender Steinblock. Die Ärzte konnten ihm zwar den Arm erhalten, aber eine Deformierung des Schultergelenks blieb zurück. Damals lernte er Gombare kennen, der zu jener Zeit als Professor für Geschichte des Alten Orients an der Universität Khartum wirkte. Seither verbindet die beiden herzliche Freundschaft.
Der Projektor surrt leise. Auf der Bildfläche zieht eine Mondlandschaft nach der anderen vorüber. Von Bord einer ferngelenkten Rakete aufgenommen, zeigt der Film jede Einzelheit: Gebirgszüge, die ihre Spitzen fünf- und sechstausend Meter hoch der Kamera entgegen recken, glitzernde Felshänge, die senkrecht in unergründliche Tiefen stürzen, endlose wüste Ebenen, erkaltete Lavameere, unzählige Krater wie Spuren einer erbitterten Schlacht. Eine Welt der Erstarrung, zertrümmert, zerrissen, zerspalten, erschreckend und faszinierend zugleich.
„Auch in dieser Gegend werden wir nichts finden“, sagt Gombare mit weichem Bass.
Olden schweigt. Er lässt den Blick nicht vom Bild. Seine Lider sind gerötet und zucken. Die Muskeln über den Backenknochen spielen nervös.
Der Film ist abgelaufen. Olden schließt die brennenden Augen. „Genug für heute!“, entscheidet er.
Li Sartou erhebt sich und greift zur nächsten Filmkassette. „Der letzte Streifen aus diesem Planquadrat“, sagt sie.
„Gut, sehen wir uns den noch an.“
Nach ein paar Handgriffen rollt der neue Streifen über die Bildwand. Wieder Berge, Wälle, Schluchten, Spalten ohne Ende.
Es wird nicht gesprochen. Drei Augenpaare verfolgen mit zäher Aufmerksamkeit und geübtem Blick die Landschaft. Bald muss auch dieser Filmstreifen zu Ende sein. Und dann ist wieder ein ergebnisloser Tag verstrichen.
Olden presst die Zähne aufeinander. Sollte sich seine Hypothese als falsch erweisen? Nein, tausendmal nein! Er wird nicht aufgeben. Punkt für Punkt wird er den Auftrag des Weltforschungsrats durchführen, und schließlich wird er Beweise in Händen halten, unanfechtbare Beweise!
„Halt!“ Oldens Stimme zerreißt schneidend die Stille.
Li stoppt den Apparat. „Was ist, Erik?“
Gombare beugt sich vor. „Ich habe nichts Außergewöhnliches bemerkt.“
Olden gibt Li einen Wink. „Rücklauf, bitte! Etwa zehn Meter.“ Langsam rollt der Film zurück. „Genug!“
Das Bild steht. Es zeigt ein wildes Gebirgsmassiv, durchzogen von einem schmalen Tal, das in eine Hochebene mündet. Die Schatten der Bergkämme fallen lang und scharf auf die staubgraue Fläche, die im Schein der Morgensonne liegt.
„Na, und?“, fragt Gombare.
Mit langen Schritten geht Olden zur Projektionswand. Er deutet auf einen Schatten, der im Gegensatz zu den tiefschwarzen Spitzen quer verläuft und einem Bogen gleicht. „Was ist das?“, stellt er betont die Gegenfrage.
Li Sartou und Percy Gombare treten heran.
„Es sieht dem Schatten einer Brücke ähnlich“, sagt Li zögernd. „Meinen Sie nicht auch, Percy?“
Da er nicht sogleich antwortet, wendet sie sich Olden zu. Ihr Blick sucht in seiner Miene, die ihr seltsam maskenhaft erscheint. Vielleicht liegt das nur am Licht. Vielleicht narrt sie auch die Erregung, die sie eben wie eine Lawine überrannt hat. Könnte das dort in der steinernen Öde etwas sein, was nicht natürlichen Ursprungs ist?“
Erstmals im Jahr der Jahrtausendwende veröffentlichte Rudi Czerwenka im Scheunen-Verlag Kückenshagen den Roman „Störtebekers Erben. Die abenteuerlichen Jugendjahre des Vitalienbruders und Likedeelers Johannes Engelbrecht“: Vor wahrem historischem Hintergrund spielt diese Geschichte des Kaufmannsjungen Johannes Engelbrecht aus der Hansestadt Rostock. Als Kind und junger Mann kommt er mit den Helden jener Jahre, den Vitalienbrüdern, zusammen, fährt auf Störtebekers Schiffen, erlebt viele Abenteuer, wird bei einer Seeschlacht verwundet und geht zurück an Land - seine Sehnsucht nach dem Meer bleibt jedoch in ihm wohnen. Er hilft seinen Freunden, wenn sie an Land sind und keiner so gut wie er Verstecke ausfindig machen kann, wo sie sich vor den Soldaten der Hanse verbergen können. Auch als Störtebeker und viele seiner treuesten Gefährten im Jahre 1401 in Hamburg geköpft werden, bleibt er den noch überlebenden Freunden früherer Jahre verbunden. Die Geschichte beginnt in einer großen Stadt an der Ostsee:
„EIN ROSTOCKER JUNG’
„Mama, der Hanning hat sich eingemoddert!“
„Halt die Klappe!“
Doch es war zu spät. Die Absicht das Jungen, sich unbemerkt durch die Hausdiele in seine Kammer zu schleichen, war gescheitert. Nicht nur der kleine Bruder, auch Rieke, die Magd, hatten ihn trotz aller Vorsicht, mit der er ins Haus geschlichen war, entdeckt.
Durch das Geschrei des kleinen Julius angelockt, eilte auch die Mutter herbei. Frau Sophia Engelbrecht schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie ihren triefnassen, mit schwarzem Schlamm bekleckerten Sohn gewahrte.
„Mein Gott, wie siehst du aus? Wo kommst du her? Was ist passiert? Und ausgerechnet an deinem Geburtstag!“ Hanning stand mit herabhängenden Armen und wusste nicht, worauf und was er antworten sollte.
„Rieke! Paula! Nehmt euch den Jungen und richtet ihn wieder her! Beeilt euch, denn wir erwarten Gäste!“
Bis dahin war jetzt, am späten Vormittag, allerdings noch Zeit. Dennoch sputeten sich die beiden Mägde, den Wunsch ihrer Herrin umgehend zu erfüllen. Die eine griff Hanning am linken, die andere am rechten Ärmel. Sekunden später hatten sie ihn trotz Gegenwehr hinausgezerrt, und zurück blieb nur eine trübe Pfütze. In der Badestube ging der aussichtslose Kampf des Jungen gegen die beiden Mädchen weiter, die ihm gackernd das nasse Zeug vom Leib zogen und ihn in einen mit warmem Wasser gefüllten Bottich setzten. Dort gab er seinen Widerstand schließlich auf.
Es war zum Heulen.
Dabei hatte der Tag so schön begonnen. Die Junisonne hatte ihn schon früh aus dem Bett getrieben. Doch nichts im Haus deutete darauf hin, dass dieser Tag sein Tag, sein Geburtstag war. Der Herr Vater, der mit den Hühnern aufzustehen pflegte, war bereits aus dem Haus. Die Frauen wirbelten herum und vergaßen, ihm zu gratulieren oder hielten sich bis zur Heimkehr des Hausherrn zurück, wie es sich gehörte. Allerdings hatten sie tatsächlich zu tun. Denn zum Nachmittag erwartete man die Gäste, nicht etwa gleichaltrige Kinder, sondern die Herren aus dem Patriziat der Hansestadt, die mit der Familie befreundeten Kaufherren und ihre Ehefrauen.
Hanning Engelbrecht jedenfalls fühlte sich seit dem Morgen überflüssig. Das störte ihn an normalen Tagen wenig. Seine Welt war ohnehin nicht die Enge der Stadt mit ihren dicht gedrängten, aber hohen Steinhäusern hafenwärts von der Blotstraße. Lieber tollte er draußen vor den Toren herum und suchte bzw. fand dort seine Gefährten. Der interessanteste Platz war unten am Hafen. Dort aber störten die Kinder in dem Gewühl der schweren Transportwagen, der Stapel der Säcke, Fässer und Ballen sowie der Arbeitsknechte. Hanning war bekannt; so vermied er, sich dort aufzuhalten. Ähnlich war es in den Moorwiesen draußen vor dem Kuhtor, wo die Rinder weideten, denn da wachten die städtischen Hirten nicht nur über das Vieh.
So blieb nur die von Bächen, Teichen, Wiesen und Buschwerk durchzogene Landschaft vor dem Kröpeliner Tor. Hier hatte Hanning sogar einen Freund, den Sohn des Mühlenbetreibers Vöge, der gleichzeitig eine Herberge unterhielt für allerhand Handelsvolk, das hier vorüberzog, Einkehr suchte oder gar über Nacht blieb.
Vöge war der erste, der dem Senatorensohn zum Geburtstag gratulierte. Tapfer schluckte Hanning das Gesöff hinunter, das sich Bier nannte, aber ebenso schwarz gebraut war, wie es aussah. Wenn das der Herr Vater erfahren hätte! Auch die 17-jährige Tochter Vöges gratulierte ihm - mit einem schmatzenden Kuss mitten auf den Mund, und Hanning errötete. Dann liefen die beiden Jungen hinaus in die Wiesen, bis zu jenem Bach, der diesen bisher so glücklich abgelaufenen Vormittag ins Gegenteil verkehren sollte. Schuld daran war Hanning selbst.
„Du traust dich ja doch nicht hinüberzuspringen“, reizte er den Freund.
„Wozu? Dort hinten ist ein Steg.“
„Nimm den Steg, wenn du Angst hast. Ich jedenfalls springe.“ Er sprang, aber zu kurz, und er landete in der aufspritzenden Brühe des städtischen Abwasserkanals.
Jochen Vöge lachte.
Hanning lachte nicht. Er dachte an das Gesicht der Mutter und machte sich betreten und bekleckert auf den Heimweg.
Als am Nachmittag Senator Jakob Engelbrecht nach Haus kam und seinen Sohn zu sich rief, waren alle Spuren des abenteuerlichen Vormittags getilgt.
„Heute ist dein 10. Geburtstag“, bemerkte der Kaufherr mit der ihm eigenen Weitläufigkeit und legte seinem Sohn die Hände auf die Schultern. „Es naht die Zeit, wo du die unbekümmerte Kindheit, die deine Mutter und ich dir bieten konnten, hinter dir lassen und in das durch mich vorgezeichnete Leben treten wirst. Du bist der älteste Sohn eines hanseatischen Kaufmanns. Du sollst mein Erbe übernehmen, nicht nur mein Schiff, mein Haus, mein Geld, sondern vor allem mein Geschäft und den lebendigen Geist, mit dem ich es betrieben habe. Ehrlichkeit, Risikobereitschaft und Wagnis als wahre hanseatische Tugenden bestimmten stets mein Handeln. In diesem Sinne sollst du weiterwirken.“
Mit gesenktem Kopf stand Hanning vor dem Vater, hörte nur wenig und verstand noch weniger von der Predigt, die auf ihn herab rieselte. Der Vater war für ihn wie ein Gott, gegen dessen Wort und Willen es keinen Widerspruch gab. Er wurde aufmerksam, als der Senator innehielt und sich dem hinter ihm stehenden Tischchen zuwandte.
„Und dies ist mein Geschenk, lieber Johannes. Wachstafel und Griffel stammen aus unserem Danziger Kontor, wo man dir künftig kaufmännisches Wissen und anderes mehr vermitteln wird. Sie sind die Symbole unseres Standes. Und dieses samtene Barett kommt aus Brügge, aus der entgegengesetzten Richtung. Es soll dir zeigen, wie weit unsere Handelsverbindungen reichen.“
Jetzt wuchs doch ein wenig Ehrfurcht in Hanning auf, als er die aus ihm noch unbekannter Ferne vom Vater beschafften Geschenke entgegennahm. Die Mutter hielt sich im Hintergrund und wischte sich gerührt eine Träne aus dem Augwinkel.
„Doch ich habe noch ein weiteres Geschenk. Noch in diesem Jahr wirst du mich auf eine unserer Handelsfahrten begleiten, über See.“
Das war tatsächlich eine Überraschung, auch für Sophia Engelbrecht, wie Hanning aufblickend feststellte.
Endlich fand die Zeremonie ihr Ende. Hanning durfte sich höflich bedanken. Die Mutter übernahm ihren Sohn und drückte ihn fest an sich. Dann durfte er sich in seine Kammer zurückziehen, wo er Muße hatte, die Geschenke des Vaters genauer zu betrachten. Am besten gefiel ihm das rote Barett mit dem kleinen glitzernden Stein auf der Stirnwulst. Ob das ein niederländischer Diamant war?
Am frühen Abend kamen die erwarteten Gratulanten, ein Halbdutzend Kaufherren und Ratsherren, sogar einer der Bürgermeister. Es wurde aufgetischt. Gut Speis’ und Trank war hanseatische Art. Vor allem die Männer langten tüchtig zu. Als schließlich nur noch die Becher kreisten, führte Frau Sophia die Damen auf den von der Tagessonne erwärmten Hinterhof. Unter dem Fliederbusch ließ sich's gemütlich plaudern.
Hanning musste bei den Männern bleiben, wo es etwas lauter zuging. Er langweilte sich. Der Vater stieß mit dem alten Dehmel an, dem er im Vorjahr eine Schiffsladung Weizen abgeluchst und mit gutem Gewinn in London verkauft hatte, und die Männer lachten über den gelungenen Streich. Bei anderen Themen ging es weniger fröhlich zu. Da ging es um die dänische Königin, die die Schlappe nach dem Stralsunder Frieden nicht hinnehmen wollte und Piraten mit Kaperbriefen gegen die Hanse losschickte. Die Herrschaft des Städtebundes in der Ostsee war bedroht, zumal diese Regentin auf bestem Wege war, die drei skandinavischen Länder auf ihre Linie einzuschwören. Den schwedischen König, einen Mecklenburger, hatte sie mit Hilfe des schwedischen Adels bereits entthront und ins Verlies werfen lassen. Dies und anderes musste man hinnehmen und konnte sich nur wehren, indem man gleichfalls Piraten anheuerte und sie mit Kaperbriefen gegen die dänische Margarete schickte. Hanning saß in der Männerrunde, hörte brav zu und verstand wenig. Er war froh, als ihn die Mutter schließlich aus der Herrenrunde befreite und zu Bett brachte.
Vor dem Einschlafen überdachte er noch einmal diesen seinen Geburtstag. Er dachte an seine Zukunft, die der Vater für ihn bereithielt. Er kam sich vor wie auf einem Schiff, das steuerlos in eine unbekannte Ferne trieb, auf dem er wehrlos festsaß. Und er dachte an den Geburtstagskuss der Dörte Vöge.
DIE ERSTE SEEREISE
Die Monate zogen übers Land und alles blieb, wie es war.
Jakob Engelbrecht redete zwar, wenn er zu Hause war, wiederholt davon, dass und wie er seinen Johannes alsbald auf den Ernst des Lebens vorbereiten wollte, aber er weilte selten in der Stadt.
Und wenn er sich mal vorübergehend in Rostock aufhielt, dann war sein Schiff unterwegs. Währenddessen tat die Mutter alles, um ihren Sohn noch möglichst lange unter ihren Fittichen zu halten. Im Herbst steuerte die „Arche Baltic“ wieder einmal den heimatlichen Hafen an, wurde entladen - und blieb. Das war merkwürdig, zumal auch die Koggen anderer Kaufleute diesmal lange vor etwaigen winterlichen Eisbarrieren anscheinend ungenutzt im Hafen vor sich hindümpelten.
Jochen Vöge wartete mit einer weiteren Neuigkeit auf: „Piraten haben im Hafen festgemacht.“
Es kam zwar öfters vor, dass die mit hanseatischen Kaperbriefen ausgestatteten Seeräuber ihre Beute in jenen Städten, in deren Auftrag sie fuhren, verhökerten. Hier wurden ihnen sogar Marktrechte eingeräumt. Besonders für die Jungen der Stadt boten derartige Anlandungen jedoch willkommene Abwechslungen. Daran konnten auch elterliche Verbote nichts ändern. Und Hanning machte hierbei keine Ausnahme.
Inzwischen kehrte auch der Vater von den regionalen Hafentagen aus Lübeck zurück. Über das, was sich währenddessen im Hafen abspielte, verlor er zunächst kein Wort. Er schmunzelte nur geheimnisvoll.
„Mach dich allmählich bereit!“, sagte er nur.
So lief auch Hanning hinunter zu den Landestegen.
Ein derartiges Gewimmel hatte er selten erlebt. Die Schiffe der Piraten lagen allerdings etwas abseits. Aber an den Fredekoggen wimmelte es von Trägerknechten, die ihre Lasten über schwankende Planken auf die dickbäuchigen Schiffe schleppten oder rollten und dort verstauten, Getreide- und Mehlsäcke, schwere Herings- und Salzfleischtonnen und Fässer mit Rostocker Bier. Was hatte das zu bedeuten? Jakob Engelbrecht konnte sich den drängenden Fragen seines Sohnes nicht mehr entziehen.
Seit Monaten wurde das hansetreue Stockholm von dänischen Truppen belagert. An eine Erstürmung auf dem Landweg war nicht zu denken, denn die Stadt lag auf einer Insel inmitten der verzweigten Ausflüsse des Mälarsees. So blieb den Dänen nur die Blockade. Lediglich der schmale Zugang zur Ostsee blieb frei von den Soldaten der dänischen Königin. Die fast ausschließlich deutsche Bevölkerung litt schon jetzt Hunger, und der Winter stand noch bevor. So hatten sich Rostock und Wismar entschlossen, den Stockholmern mit Viktualien, mit den erforderlichen Lebensmitteln aus der Not und damit über den Winter zu helfen. Darin waren sich die Städte Rostock und Wismar insgeheim einig geworden, wie meistens, wenn es galt, Bedrohungen gemeinsam abzuwehren. Denn Stockholm war das letzte Bollwerk im Norden der Ostsee, nachdem Königin Margareta nicht nur Dänemark beherrschte, sondern auch Norwegen erobert und mithilfe des schwedischen Adels sogar Schweden an sich gerissen hatte.
Mit diesem Wissen um die Hintergründe ausgestattet, schummelte sich Hanning auf die ,Arche Baltic“, denn hier würde er sein Quartier beziehen müssen. Der bauchige Laderaum in der Schiffsmitte bot kaum noch Platz, war vollgepackt bis zum Unterbord. Im Vorschiff sah es nicht viel anders aus. Er öffnete die Tür zu dem hochgezogenen Steven und erblickte das Quartier der Schiffsleute, einen einzigen Raum für 30 oder mehr Männer. Er wandte sich ab und stakste über die gestaute Ladung hinweg zum Heckkastell. Die Zugänge zu den unteren Etagen waren verschlossen. Die kleinen Kammern darüber sahen etwas wohnlicher aus, waren mit Tisch, Stühlen und Bettpritschen ausgestattet. Doch auch dieser Anblick reichte nicht, um freudige Gefühle auszulösen.
Er verließ die Kogge und schlenderte zu den beiden Orlogschiffen. Zwei der Piraten wuchteten gerade eine schwere Truhe von Bord und luden sie auf einen zweirädrigen Karren, mit dem der eine der Burschen in Richtung Stadt davon schob. Hanning folgte mit gehörigem Abstand.
Auf dem Markt ließ der Kerl die Truhe herab und öffnete sie. Sofort sammelten sich Menschen um den etwa 25-jährigen Mann, der seine Waren wie ein geübter Marktschreier anpries. Breitbeinig stand er da in seiner roten Pluderhose, die schon bessere Zeiten gesehen hatte und deren Beinlinge in hohen, im Gegensatz zu der verschlissenen Hose neuen Schaftstiefeln steckten. Ein schwarzes Kopftuch bändigte seine blonde Mähne.
Die überwiegend jüngeren Schaulustigen kramten in der Kiste, zogen einzelne Stücke hervor, betrachteten sie und feilschten um den Preis.
Dörte Vöge spielte mit einem bunten Seidentüchlein. Der Pirat beobachtete sie.
„Schenk ich dir“, rief er. „Trag's im Gedenken an Jan Köpping, wenn mich die See längst geschluckt hat.“
Hanning, der soeben einen kleinen Dolch besah, den er aus der goldverzierten Lederscheide gezogen hatte, wurde ein bisschen eifersüchtig.
„Zeig mal her!“, sagte ein neben ihm stehender Junge.
Kaum hatte er die Waffe in den Händen, so wollte er damit davonspringen und drängte in den dichten Ring der Gaffer. Doch schon hatte ihn der Pirat an der grobleinernen Hemdbrust und verpasste ihm eine Maulschelle, dass das Kerlchen wie vom Blitz getroffen zu Boden fiel.“
Und an dieser Stelle unterbrechen wir unsere Reise zu Störtebeker und seiner Zeit ebenso wie die Einblicke in die vier Angebote des SF-Pioniers Günther Krupkat, die bei allem Abstand zu ihrer Entstehungszeit eine erneute oder vielleicht auch erste Lektüre wert sind.
Viel Spaß beim Lesen, gute Reise durch die (irdischen wie kosmischen) Zeiten und Weiten und bis demnächst.