Stunden später schleppte sich Pitt die Bergflanke von Altenroda hinauf. Jeder Schritt fiel ihm schwer; am liebsten hätte er sich überhaupt nicht mehr bewegt.
Er war allein und auf dem Weg nach Hause, doch wenn er an daheim dachte, an die Großeltern, an die Mutter, an Kurti, musste er sich zwingen, weiter zu gehen und nicht umzukehren.
Womöglich noch schlimmer - Gedanken an Bernd und an Tine, an sie hauptsächlich. Weniger auch an den Gangels-Siegfried und an die Schule, in die er übermorgen früh wieder würde gehen müssen.
Jetzt war Sonnabendnachmittag, kurz nach fünf - eigentlich eine der schönsten Stunden der Woche. Zu dieser Zeit herrschte daheim meist Feiertagsstimmung - mehr noch: Vorfreude auf den Sonntag, den Feiertag. Die Mutter und die Großmutter hatten saubergemacht und eingekauft, und nun duftete es in der Küche nach Bohnenwachs und manchmal nach Kuchen. Dazu las der Großvater aus seiner „Dorfzeitung“ vor oder aus einem Buch, falls er nicht in der Werkstatt saß und von der Hobelbank aus das Haus mit Zitherklängen erfüllte.
Erinnerungen, die Pitt die Kehle zuschnürten. Er schniefte. Und ging dann noch langsamer.
Es half nichts. Egal, wann er heimkommen würde, halb sechs, um sechs oder erst halb sieben, er würde sich stellen müssen, hintreten vor die Großmutter, die Mutter, den Großvater, vor Kurti, es ihnen sagen.
Sich ihre Gesichter vorzustellen, die Enttäuschung, den Kummer ...
Pitt schluchzte. Die Augen blieben trocken. Zu viel hatte er schon geweint, geheult, seit er losgelaufen war, losgehetzt im Wolkenbruch, zunächst zu jenem dschungelartigen Wuchs, wo sich, wie er hoffte, Lissy verkrochen, vielleicht verirrt hatte, als sie, wie er annahm, geflohen war, geflüchtet vor dem Fauchen der Lüfte, dem Donnern und Krachen.
Fichtenwuchs, noch unberührt von Äxten und Sägen, noch ungelichtet; Zweige, die zuschlugen, zerkratzten, Wasser wie ein umgekippter Schirm schwallartig herabgossen; Durchgänge wie Tunnel neben dem Hauptdurchlass, der Fortsetzung jenes Weges, hier nicht nur überwachsen und nun in ein Bachbett verwandelt, sondern vermutlich unter der trüben, gurgelnden, talwärts schießenden Flut seit langem ein kaum begangener, alle Spuren verschlingender Streifen Morast.
Pitt kehrte um, schlug sich nach rechts, nach links ins Dickicht, durchquerte den Wuchs, suchte unten weiter, im Harzscharrersgrund.
Den Bach, der reißend geworden war, durchwatete er mehrfach, aber einen Aufstieg zum Höhenrücken über dem Pochwerksgrund und die Erkundung des oberen Berglochs unterließ er.
Lissy finden, sie wiederfinden!
Zu allem anderen war ihm die Lust vergangen.
Irgendwann hörte das Donnern, das Krachen auf, und dann hatten sich wohl die Wolken entleert. Die Düsternis wich dem üblichen Dämmer, der hier selbst bei Sonnenschein herrschte.
Unter den Bäumen troff und tropfte es noch lange, und nun bemerkte Pitt auch, wie nass er war.
Die Joppe im Rucksack, gewiss.
Als käme es jetzt noch darauf an!
Wahrscheinlich hätte Pitt schon zu diesem Zeitpunkt, halb drei etwa, aufgegeben. Da aber glaubte er, in der tropfenden, dampfenden Stille des Waldes Bläken zu hören, den angstvollen Schrei eines Kalbes.
Es wurde das Startsignal für weitere verzweifelte Vorstöße.
Auch sie lagen mittlerweile Stunden zurück.
Drei Viertel sechs hatte Pitt die Anhöhe des Dorfes erreicht, war er eingebogen auf den Feldweg, der zwischen abgeblühten, von den Wassermassen malträtierten Kartoffeläckern zum Gehöft der Großeltern führte.
Leute da vorn. Aber das waren doch die Mutter und die Großmutter! Und Kurti natürlich.