Jetzt, an einem vorschulfreien Sommer-Vormittag, dringt samstägliches Karawanen-Gebrumm von diesen Verkehrswegen her zur Stadtrand-Insel. Manchmal kreischt eine Bremse wie ein verärgertes Kamel, manchmal heult eine Harley-Davidson-Honda auf wie eine Kreuzung aus Hyäne und Kettensäge - das alles scheinbar weit weg, weil gedämpft durch einen Lärm-Schutzwall und eine Hecke obendrauf, so dass Georg es kaum wahrnimmt. Er hört zudem nicht hin, weil er die Geräuschkulisse kennt und überdies viel zu beschäftigt ist.
Eigentlich hat er ständig zu tun und selten Gelegenheit, sich mal richtig zu langweilen. So muss er sich Märchen erzählen lassen, immer and're, neue, abenteuerliche, muss Pauline beibringen, wie man Schwarzer Peter spielt und sich beim Beschummeln nicht erwischen lässt, muss mit Kai oder Jaqueline und/oder mit dem/der jeweils aktuellen Freund/in aus seiner Kindergarten-Schar irgendwo Geburtstag feiern oder hier auf der Insel ausbaldowern, ob die Zwerghuhn-Küken schon geschlüpft sind, wer der hübschen Liesa Kater-Augen macht, was der Werkstatt-Marder Franz tagsüber treibt ...
Und zu allem steht nun auch noch Besuch bevor - Oma und Opa mit einer nicht näher benannten Überraschung.
Um alles zu bewältigen und nichts zu vernachlässigen, teilen sich mitunter Pauline und Georg geschwisterlich in ein Spiel-Programm. So trainiert an diesem Vormittag Pauline drinnen in der Katzen-Ecke Maximilian, den melancholischen Alt-Kater, in der Kunst des Jojo-Pendel-Pingpong, und Georg baggert derweil, gleichfalls solo, mit dem von Onkel Oswald eigens für ihn und für Pauline zurechtgeschmiedeten Hebel-Bagger hier draußen auf dem Hof, obwohl auch er sich selbstverständlich für das Wohlbefinden und die Kunstfertigkeit von Maximilian zuständig fühlt. Halt: Zweierlei lässt sich schlecht gleichzeitig meistern.
Bei kniffliger Arbeit schon gar nicht. Beim Baggern zum Beispiel. Dem Baggern von Bausand, der eigentlich immer auf der Insel bereitliegt, weil ständig irgendwas gebaut wird. - Den mit einem Hebel-Hand-Bagger greifen, hochheben und vor dem Ausschütten akkurat zur Seite bugsieren, und das auch noch von rechts nach links, was bekanntlich drei- bis viermal komplizierter ist als die gleiche Baggerei von links nach rechts und folglich nur bewältigt werden kann, wenn man Kraft hat und geschickt ist und außerdem sich voll konzentriert.
Georg hat Kraft, ist geschickt, und er konzentriert sich - gar keine Frage - echt-arg-voll. Klar, dass er deshalb nicht, jedenfalls nicht richtig mitkriegt, was sich ringsum tut. Dass er folglich auch Liesa nicht - oder nur aus den Augenwinkeln - bemerkt, bemerken kann.
Oder sollte er, wie er später behaupten wird, tatsächlich gesehen haben, deutlich registriert, wie das Kätzchen das sogenannte Hühner-Refugium verließ, um über den Hof zu tigern? Wie es unterwegs zweimal stehenblieb, das erste Mal, kurz nur, dort, wo der Schatten von „Tausendundein-Schuppen“, dem Stall-Vorratslager- Mehrzweck-Bautenkonglomerat der Insel, an einen hellen, grell beschienenen Kiesflecken neben dem Bausandhaufen grenzt, dann noch mal - und nun länger - am anderen Ende dieses sonnigen Areals, hart an der Grenze zu schattigem, dämmrigem Dunkel?
Dort - so Georg mit etwas anderen Worten und schniefend - habe sie gestanden, verharrt, die rechte Vorderpfote leicht erhoben, den Kopf mit den schönen, spitz aufgestellten Ohren gereckt. „Als ob sie lauschen tät - oder was wittern.“
„Hm ...“
„Und dann, dann ...“
„Ja?“
Dann sei sie weitergegangen, -geschlichen, vorbei an den aufgestapelten Knochensteinen und wahrscheinlich den Hang hoch. - Nein, gesehen habe er, Georg, sie jetzt nicht mehr, weil doch der Steinhaufen im Weg gewesen sei und alles am Hang, im Schatten, ganz dunkel; aber plötzlich - ja, auf einmal habe er's mit der Angst zu tun gekriegt, eine Riesenangst um Liesa, und da sei er hingelaufen, ihr hinterher, vorbei an den Steinen und hoch den Hang und ... und ...
Hier wird Georg schluchzend verstummen, und Papa Done, sein Vater, wird ihm die Hand auf die Schulter legen und noch mal „Hm“ sagen, jetzt nicht so skeptisch wie kurz vorher, nun eher nachdenklich-betroffen.
Bestürzt und stumm - Mama Susi; und selbst Paulinchen scheint zu erfassen, dass was Schlimmes passiert ist. Georg aber, der Augenzeuge war, der unbestreitbar - weshalb auch immer - Liesa hinterhergerannt ist, den Hang hoch, und sich oben auf dem Lärm-Schutzwall durch die Hecke gezwängt hat - er sieht wieder vor sich, was ihm noch des Öfteren vor Augen stehen wird: wie etwas Rot-Getigertes wegfliegt, aufgewirbelt von einem aufheulend beschleunigendem Auto, einem Mercedes, wie dieses rötliche Etwas - nein, Liesa, nein! - aufschlägt am Straßenrand, aufspringt wie hochgescheucht, einknickt nach drei, vier verstörten Schritten, wie es umsinkt auf Split und grauen Staub, sich plötzlich dehnt wie nach dem Aufwachen auf seinem Katzenlager, sich reckt, sich noch einmal unendlich mühsam streckt und schließlich erschlafft - das rötliche Fell vom Fahrwind vorbeipreschender Wagen gefächelt.