Kardinal Cajetan machte sich sofort, nachdem er den päpstlichen Auftrag zum Verhör erhalten hatte, mit Luthers Schriften vertraut. Auch er hatte sich schon in verschiedenen Aufsätzen zur Ablassfrage geäußert, kannte also die Theorie und auch die Praxis. Er war vorbereitet. In seiner Person stand auch der General des Dominikanerordens vor Luther, sein höchster Vorgesetzter nach dem Papst.
Cajetan ließ Luther einige Tage warten. Er schickte ihm nur einen Mann aus seinem Gefolge, der ihn vorbereiten sollte und ihm riet: Ihr habt die Ablassfrage viel zu ernst genommen. Warum sollte man nicht Unwahres lehren, wenn die Unwahrheit nur tüchtig Geld einbringt? Über die Gewalt des Papstes darf man freilich nicht disputieren. Die ist so groß, dass der Papst heute geltende Glaubenslehren durch einen bloßen Wink außer Kraft setzen könnte. Was kümmert den Papst aber Deutschland? Ihr werdet doch wohl die sechs Buchstaben aussprechen können: Revoco! Ich widerrufe!
Dieser sich schlau dünkende Italiener hatte Luthers Widerstandskraft kräftig gestärkt. Trotzdem schrieb Martin in diesen Tagen verschiedene Briefe, die wie Abschiedsbriefe klingen, so an seinen Mitstreiter Philipp Melanchthon:
Hier geschieht nichts Neues oder Besonderes außer dem Einen, dass die Stadt voll ist vom Lärm über meine Person, und dass alle den Menschen zu sehen begehren, welcher der Herostratus einer so großen Feuersbrunst ist. Du aber handle weiterhin als Mann und lehre die jungen Leute das Richtige. Ich gehe hin, mich für Euch und für sie opfern zu lassen, wenn Gott will. Lieber will ich zugrunde gehen und - das allein fällt mir bitterschwer - den so beglückenden Umgang mit Euch für ewige Zeiten entbehren, als dass ich widerrufe ...
Am 12. Oktober begann das Verhör endlich im Hause des reichen Geldverleihers Fugger. Wie es vorgeschrieben war, warf sich Luther vor Cajetan auf den Boden. Auf den ersten Wink erhob er sich auf die Knie, dann erst, beim zweiten, stand er ganz auf. Nach ein paar freundlichen, allgemeinen Phrasen begann das Verhör. Cajetan forderte dreierlei von Luther, er fügte hinzu, dass er das im Auftrage des Papstes täte. Erstens: Luther solle seine Irrtümer bereuen und widerrufen. Zweitens solle er versprechen, sie nicht mehr zu lehren, und drittens solle er sich aller Umtriebe enthalten, die den Kirchenfrieden stören könnten.
Das bedeutete, Luther sollte mundtot gemacht werden und außerdem noch als Verfasser und Verbreiter von Irrlehren dastehen und gebrochen nach Wittenberg zurückkehren. Damit hätte man alle seine Anhänger, die an ihn glaubten, auf einen Schlag führerlos gemacht. Doch Luther begann zum Erstaunen des Kardinals zu diskutieren. Cajetan war gezwungen, sich auf Luthers Feld zu begeben. Er versuchte, einige Thesen zu widerlegen, die sich damit beschäftigten, dass allein der Glaube rechtfertige. Das sei neu und falsch, meinte er. Luther antwortete darauf, dass er darin nicht nachgeben könne. Darauf wurde Cajetan schärfer und schrie ihn an: Das musst du, ob du willst oder nicht, noch heute widerrufen! Sollte er das nicht tun, würde er nicht nur diesen Punkt, sondern alles, was Luther gesagt habe und noch sagen würde, verdammen.
Martin Luther ließ sich jedoch nicht beirren, er blieb bei seiner Meinung, dass die Bibel über den Anordnungen und Erklärungen des Papstes stünde, so wie er es bei dem alten Mönch in Erfurt verstanden hatte. Er wurde immer wieder unterbrochen von den fordernden Rufen Cajetans: Widerrufe, erkenne deinen Irrtum! Das und nichts anderes ist der Wille des Papstes! So ging es hin und her, und Luther bat um Bedenkzeit, da er sah, dass nichts bei dieser Sache herauskäme.
Am nächsten Tag kamen auch Staupitz und Link, seine Freunde, und Frosch und einige Brüder mit ins Fuggerhaus. Cajetan lächelte ob dieser Verstärkung. Luther begann, er wolle seine Meinungen überall öffentlich vor gelehrten Gremien der verschiedenen Universitäten debattieren oder auch schriftlich auf die Vorhaltungen Cajetans eingehen. Als auch Staupitz für eine schriftliche Erwiderung eintrat, erlaubte Cajetan das, und Luther ging sogleich in sein Quartier und begann mit der Arbeit. Am 14. Oktober erschienen sie zum dritten Mal beim Verhör. Dort nahm ihm der Kardinal die Schrift ab und sagte, er werde sie nach Rom schicken. Alle Versuche Cajetans, Luther zum Widerruf zu bringen, scheiterten.
Staupitz rechnete fest mit der Verhaftung und begann, in Augsburg Geld für Luther zu sammeln, denn er meinte, Luther müsse außer Landes gehen, am besten nach Paris. Als er das Geld nicht zusammenbekam, reiste er angstvoll und heimlich ab.