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Berlin, hier bin ich von Rudi Benzien
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
27.09.2019
ISBN:
978-3-96521-165-0 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 400 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Liebesroman/Erwachsenwerden, Belletristik/Familienleben
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Heranwachsen, Moderne und zeitgenössische Belletristik, Zeitgenössische Liebesromane, Familienleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen, Berlin, Deutschland: Kalter Krieg (1945 bis 1990 n. Chr.)
Berlin, Wurzen, Trasse, Liebe, DDR, FDJ, Bauarbeiter, Schlosser, Kulturarbeit
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Durch die Scheibe sah ich, dass Jasmin sich ein paarmal vorbeugte, um nach mir zu sehen. Das konnte natürlich auch ein Irrtum meinerseits sein. Ich fing an, die Telefonmasten zu zählen, die draußen vorbeiflogen. Dabei dachte ich: Sie muss rauskommen, sie kommt raus, sie muss rauskommen, sie kommt raus. Inzwischen hatte ich schon hundert Masten gezählt, aber Jasmin rührte sich nicht vom Fleck.

Noch mal hundert, beschloss ich, wenn sie dann nicht kommt, pfeifst du ab.

Neunundsiebzig …, achtzig …, einundachtzig …

„Du kannst dich eine Weile auf meinen Platz setzen“, sagte plötzlich eine Stimme neben mir.

Es war Jasmins Stimme. Dreh jetzt nicht durch, Junge, sagte ich mir und wagte nicht zur Seite zu sehen, weil ich fürchtete, dass da keine Jasmin zu sehen war.

„Eh, bist du schwerhörig?“

Eine Hand berührte meine Schulter. Das konnte keine Fata Morgana sein. Mir wurde sofort klar, dass es die von mir ausgestrahlte hypnotische Wirkung war, die sie hergelockt hatte.

„Was ist, willst du dich nicht hinsetzen?“, fragte sie wieder.

„Ich stehe gern am Fenster“, sagte ich.

„Deine Kumpels sind ganz schöne Aufdreher“, stellte sie sachlich fest, „besonders dieser Piepe. Behauptet, er würde Geschichten schreiben. Eine soll sogar schon im Jugendmagazin gestanden haben. Stimmt das?“

„Bei dem ist das möglich, in dem kann man sich ganz schön täuschen“, äußerte ich vorsichtig.

„Sag mal, ABC-Deckenlinie, was heißt das eigentlich?“, wollte sie dann wissen.

„Nicht ABC-Deckenlinie, AC-Deckenlinie heißt das“, erklärte ich sachlich, „das ist eine Fließstrecke. Wir gießen Deckenplatten aus Beton für die neuen Häuser in Marzahn. AC, das ist nur eine technische Bezeichnung der Herstellerfirma für diese Anlage.“

„Macht das Spaß?“

Was sollte ich darauf antworten? Meine verzwickte Lage konnte ich ihr jetzt kaum erklären. Also sagte ich einfach: „Meistens schon.“

„Und was macht ihr. Was machst du?“, fragte ich sie.

„Wir sind Kinderkrankenschwestern, noch nicht ganz, im dritten Studienjahr.“

Da hatte ich plötzlich eine Idee. „Was hältst du davon, wenn wir uns in den Speisewagen setzen?“

„Ich denke, du stehst so gern am Fenster“, spottete sie.

Fünf Minuten später saßen wir im Speisewagen, und als der Zug Punkt zwanzig Uhr neunundfünfzig in Bernau hielt, wusste ich schon allerhand von ihr. Zum Beispiel, dass sie FDJ-Sekretär ihrer Seminargruppe war. Ich erzählte ihr von meinem Kulturplan. Wenn uns einer zugehört hätte, der hätte denken müssen, wir hielten einen Erfahrungsaustausch ab. Und das stimmte sogar fast.

„Bei dir ist es einfacher, was zu machen“, sagte sie, „ihr seid den ganzen Tag über zusammen. Bei uns ist das ein Problem, weil wir uns nur noch einmal im Monat in der Fachschule sehen, sonst arbeiten wir alle in verschiedenen Krankenhäusern und noch dazu in verschiedenen Schichten. Da mach was.“

Als ich auf die Uhr sah, wurde mir angst und bange. Mir blieben noch genau siebenundzwanzig Minuten, dann würde der Zug in Berlin-Lichtenberg ankommen, alles aussteigen, der Zug endet hier, sie würde tschüs sagen oder sonst was, und ich würde sie nie wiedersehen. Bei dem Gedanken, dass es so kommen könnte, wurde mir mulmig.

Jasmin sagte: „Wir müssen langsam ins Abteil zurück, wir sind gleich da.“ Sie sah mich dabei an, als würde sie auf was warten.

Jetzt oder nie, dachte ich mir, entweder du bringst eine Verabredung zustande, oder der Rest deines Lebens wird traurig dahinplätschern. Als sie aufstand, fasste ich sie am Arm. „Setz dich noch mal hin. Ich fände es gut“, fing ich umständlich an, „wenn wir uns bald wiedersehen würden.“ Sie schwieg und sah mich nur an. Und ich, der Hellseher, konnte aus ihren Augen nicht herauslesen, wie sie zu meinem Vorschlag stand. Aber ich hielt ihrem Blick stand und sagte in Gedanken immerzu: Du musst ja sagen, du musst ja sagen …

„Ich denke, wir sollten uns wirklich …“, sagte sie. „Morgen, morgen Nachmittag?“, fragte ich.

„Warum nicht, und wo?“

„Am Alex vielleicht“, schlug ich vor, und mein Herz schlug wie ein Presslufthammer.

„Was wollen wir in der Stadt bei dem Wetter. Treffen wir uns lieber in Köpenick auf der Schlossinsel, um zwei an der Holzbrücke.“

Ich war einverstanden. Die kannte ich.

Wir gingen zurück in unsere Abteile. Die Mädchen zerrten ihre Taschen aus den Gepäcknetzen, Eule und Günter griffen wie echte Kavaliere zu. In unserem Abteil spielten Eddi, Bernhard und Sigmund noch immer Skat.

„Mann, ist dieser Sigmund ein Schlitzohr. Der spricht nicht nur polnisch, der spielt dir Skat wie ein Weltmeister“, sagte anerkennend Eddi und sammelte die Karten ein.

Sigmund strahlte.

Auch Günter und Eule schienen zufrieden zu sein.

„Die Sache mit Szczecin, das war keine schlechte Idee von dir, Detlef, wirklich, das muss ich zugeben“, sagte Eule und klopfte mir anerkennend auf die Schulter.

„Was heißt, seine Idee? Ich habe das mit Szczecin vorgeschlagen“, protestierte Günter.

Auf dem Bahnsteig sah ich Eule die Gitarre tragen und mit dieser Petra abschwirren, Günter trug die Tasche eines Mädchens, das sich bei ihm untergehakt hatte.

Bernhard sagte: „Eddi, ich fahre dich noch schnell zu deiner Fete. Und du, Sigmund, du kannst auch mitkommen, ich setze dich zu Hause ab.“

Ich hatte zwar eine feste Verabredung, aber irgendwie kam ich mir auf einmal verlassen vor. Jasmin war schon die Treppen hinunter. Erst vor dem Bahnhof sah ich sie noch einmal, und ich sah, wie sie in einen Wartburg stieg. Das hätte ich noch verkraften können, aber dass sie dem Mann am Steuer einen Kuss gab, und es war ein junger Kerl, das war ein Messerstich ins Herz. Der Motor heulte auf, und weg waren sie. Für mich stand fest, dass sie nicht zur Verabredung kommen würde.

Erst wollte ich mir ein Taxi nehmen, um ins Wohnheim zu fahren, ich ging dann aber zu Fuß, den Kopf voller trüber Gedanken. Mir schien, dass ich in Berlin kein Glück bei Mädchen hatte. Erst die Sache mit Silke, dann eine Weile gar nichts, und nun Jasmin. Warum war sie auf eine Verabredung eingegangen, wenn sie einen Freund hatte? Versteh einer die Weiber!

Zu Hause fand ich einen Zettel von Matthias. „Auf mich musst Du heute nicht warten. Ich treffe mich mit Thea (dem Mädchen aus dem Theater). Es wird spät werden. M.“

Als ich das las, fiel mir gleich wieder Jasmin ein. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie sie in der Abteiltür gestanden und mit Eule diskutiert hatte, sogar ihre Stimme glaubte ich zu hören. Ich versuchte, mir einzureden, dass der Mensch im Wartburg vielleicht ihr Bruder war. Aber küssen Mädchen in diesem Alter ihre Brüder?

Mir fiel Vera ein, aber da passierte, was immer geschah, wenn ich an sie dachte: Nicht an die Tage mit ihr erinnerte ich mich, sondern an die Nächte. Trotzdem, wäre eine Fee durchs Fenster geflogen gekommen und hätte gesagt, mein armer, trauriger Detlef, ich zaubere dich, wenn du willst, innerhalb von viereinhalb Sekunden nach Wurzelstedt in das Zimmer in der Bahnhofstraße Nummer zehn, da wäre ich nicht dagegen gewesen. Aber es kam keine Fee.

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