Am nächsten Abend kam Vater an mein Bett.
„Sieh mal, Pierre, das ist ein ganz spannendes Buch. Es heißt ‚Die Schatzinsel‘. Daraus werde ich dir jetzt jeden Abend etwas vorlesen. Willst du?“
Und ob ich wollte.
Als wir das Buch ausgelesen hatten, wollte ich unbedingt auch einen Schatz suchen gehen. „Gibt es heute noch Schätze, die man ausgraben kann?“, fragte ich meinen Vater.
„Sicher gibt es noch irgendwo Schätze“, sagte er. Mit dieser Antwort war ich zufrieden.
Gleich am nächsten Tag nahm ich meinen Spaten und buddelte überall Löcher im Hof und im Sandkasten auf dem Spielplatz. Ich fand Steine, verrostete Buddelformen und einmal sogar eine bunte Glaskugel.
Aber ich wollte einen großen, wertvollen Schatz finden: Perlen, Diamanten, Juwelen, Gold- und Silbermünzen. Dann würden wir keine Sorgen mehr haben. Für Mama würde ich dann viele hübsche Kleider kaufen. Wir könnten in den Urlaub fahren. Und für meinen Vater wollte ich ein Auto mit vier Türen kaufen; damit könnte er sich am Gare de l’Est – dem Ostbahnhof – hinstellen und als Taxifahrer wieder Geld verdienen.
Aber so sehr ich auch buddelte, einen richtigen großen Schatz fand ich natürlich nicht.
Aber damit war die Geschichte noch nicht zu Ende …
„Stell dir vor, mein alter Schatzgräber, was ich heute gefunden habe, sieh dir das an“, sagte eines Abends mein Vater zu mir.
Er legte eine Papierrolle auf den Tisch. Eine Schatzgräberkarte! Mann, sah die gut aus, wie eine richtige alte Schatzgräberkarte aus dem Buch „Die Schatzinsel“.
Ganz altes, vergilbtes Papier, an den Rändern ausgefranst und verkohlt. Bäume und Wege waren darauf eingezeichnet. Und an einem Baum war ein dickes rotes Tintenkreuz.
Ich schleppte gleich meinen Spaten aus der Kammer an und wollte, dass wir sofort zur Schatzsuche aufbrachen.
„Langsam, langsam, du wilder Schatzgräber. Heute ist es schon zu spät. Aber gleich morgen früh ziehen wir los. Einverstanden?“
Der andere Tag war ein Sonntag.
Nach dem Frühstück fuhren wir zum Bois de Boulogne, dem Wald von Boulogne.
Und da staunte ich erst mal ganz schön.
Nicht etwa, weil ich auf Schritt und Tritt über vergrabene Schätze gestolpert wäre. Nein, das nicht. Aber auf den Parkwegen ritten fein angezogene Leute auf Pferden spazieren.
So etwas hatte ich noch nie gesehen.
„Was sind denn das für Leute?“, fragte ich.
„Das sind welche, die so viel Geld haben, dass sie nicht wissen, wohin damit“, sagte mein Vater, und er schien sich nicht gerade über ihren Anblick zu freuen.
Aber wir waren ja schließlich hier, um einen Schatz zu suchen. Und ich dachte mir, vielleicht finden wir wirklich einen Schatz, dann können wir uns auch ein Pferd kaufen und hier umherreiten. Dann setzten wir uns auf eine Bank und begutachteten die alte Schatzgräberkarte genau. Tatsächlich, hinten am Rande der großen Wiese standen ein paar Bäume, die genauso aussahen wie die, die auf der Karte eingezeichnet waren. Der dickste Baum, eine alte, knorrige Eiche, war genau der Baum, der auf der Karte mit dem dicken roten Tintenkreuz gekennzeichnet war.
Wie ein Blitz jagte ich über die Wiese, so dass mein Vater zu tun hatte, mir zu folgen. Zwischen zwei starken Wurzeln fingen wir an zu graben. Das heißt, ich wühlte mit meinem Spaten wie ein Maulwurf, und mein Vater sah schmunzelnd zu.
Und plötzlich stieß ich auf etwas Hartes! Vor Aufregung konnte ich kein Wort sagen.
Ich hob ein kleines Kästchen aus der Grube.
Es war in Pergamentpapier eingewickelt! Und darin klapperte es. Mein Vater öffnete es, weil ich das Kästchen vor lauter Aufregung nicht aufbekam, und hielt es mir hin.
Ein funkelnagelneues Fünf-Franc-Stück lag da drin und eine kleine, ganz alte Münze.
Also ein richtiger Schatz!
Es kann sich keiner vorstellen, wie ich mich gefreut habe!
Obwohl, es reichte nicht, um für meine Mutter ein neues Kleid zu kaufen, auch nicht für ein Taxi, nicht mal für ein Pferd.
Aber daran dachte ich in diesem Moment wohl gar nicht. Schatz ist Schatz.
Ich hatte einen Schatz gefunden!
Für die fünf Franc kauften wir am Nachmittag drei Eis. Eins für meine Mutter, eins für meinen Vater und eins für mich. Was mit der alten Münze passierte?
Da hatte meine Mutter eine prima Idee.
„Ich lass dir da eine Öse anbringen, und dann kannst du sie an einer Kette um den Hals tragen. Das erinnert dich immer daran, dass du mal einen richtigen Schatz gefunden hast“, schlug sie vor. Seitdem trage ich die Kette immer.
Selbst beim Baden behalte ich sie um. Nur neulich, als ich als Spartakus den Löwen Charles besiegte, riss sie beim Kampf. Aber mein Vater hat sie noch am gleichen Abend repariert. Übrigens: Heute weiß ich natürlich, dass damals mein Vater die Schatzgräberkarte für mich gezeichnet hatte. Und am Abend vor der Suche war er zur alten Eiche gefahren, um das Kästchen für mich zu vergraben.