»Gertrud«, sagte Dora mit tonloser Stimme, »er ist nicht mehr. Sie haben Bernhard umgebracht.«
Für einen Augenblick erstarrte Gertrud. Dann ging sie auf Dora zu, umarmte sie und strich ihr übers Haar.
»Komm, setz dich.«
Dora hatte sich gefasst und kramte aus ihrer kleinen Tasche einen Umschlag hervor.
»Von Brandenburg haben sie ihn zur Prinz-Albrecht-Straße gebracht und dann nach Buchenwald. Dort hat er nur ein paar Tage gelebt. Hier, lies!«
Gertrud entnahm dem Umschlag einen Zettel von der Größe eines halben Briefbogens. Es war ein ausgefüllter Vordruck mit dem Kopf KONZENTRATIONSLAGER BUCHENWALD, KOMMANDANTUR. Gertrud las, Bernhard Israel L. sei am 28. August 1942 an den Folgen einer Schussverletzung bei einem Fluchtversuch im Krankenhaus verstorben. Die Leiche sei eingeäschert worden. Gegen die Ausfolgung der Urne bestünden, wenn eine Bescheinigung der örtlichen Friedhofsverwaltung beigebracht werde, dass für ordnungsgemäße Beisetzung Sorge getragen sei, keine Bedenken.
Gertrud atmete tief.
»Ob er wirklich zu fliehen versucht hat?«
»Sicher nicht. Solche Gelegenheiten sind selten.«
»Man hat keine Bedenken gegen die Ausfolgung der Urne ...«
»Ich habe die Urne nicht überführen lassen. Die Asche soll da sein, wo die Asche seiner Kameraden ist.« Sie wandte sich ab.
»Ach, Dora, wie kann ich dir helfen?«
»Es ist gut bei dir sein.«
Die Freundinnen schwiegen. In Gertruds Gedanken hallte es nach: Keine Bedenken ... Was denn? War Doras Mann ein Verbrecher? Hatte nicht vielmehr ein Mord an ihm stattgefunden? Ein Gefühl unmittelbarer Bedrohung beschlich sie. Die Kralle hatte zugegriffen, die Kralle, die sich ihnen allen näherte. Auch die kleine, sonst immer bewegliche Dora schien wie gelähmt zu sein. Sie hielt die Augen gesenkt. Ihr schmales Gesicht war noch magerer geworden. Um sie aus der Erstarrung zu reißen, erzählte Gertrud von »ihrer« Fabrik. Die Zwangsarbeit habe auch ihr Gutes. Sie habe sogar einen Freund gewonnen. Er gebe ihr Wärme, und die wolle sie weitergeben.
»Komm öfter«, sagte sie. »Du kannst bei uns schlafen. Dieses Sofa hier ist noch frei.«
»Danke, nein«, antwortete Dora aufblickend. »Aber vielleicht sollte ich das nächste Mal meinen Jungen mitbringen. Das wirkt harmloser. Übrigens«, fuhr sie lebhafter werdend fort, »der Papierstern muss dann wieder an eurer Tür sein.«
»Warum?«
»Stell dir vor, ihr werdet denunziert, und die Gestapo kommt ... Das wäre nicht gut.«
Von Gertrud geholt, erschien der Vater in der Tür, aufrecht, mit weißem Haarkranz, angetan mit grauer Strickjacke und abgewetzten Lederpantoffeln. Er sprach Dora förmlich, doch sichtlich betroffen und bewegt sein Beileid aus.