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Fluchtkind oder Die langen Schatten der toten Lokomotiven. Roman in Folgen von Reinhard Bernhof
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
18.07.2023
ISBN:
978-3-96521-960-1 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 133 Seiten
Kategorien:
Kinder-und Jugendbuch/Imagination und Spiel
Kinder/Jugendliche: Historische Romane, Kinder/Jugendliche: Kurzgeschichten, Kinder/Jugendliche: Biografische Romane, Kinder/Jugendliche: Familienromane, Kinder/Jugendliche: Persönliche und soziale Themen: Rassismus und Multikulturalismus
Ameisen, Amerikaner, Angst, Bauern, Bauerngehöft, Bauernleben, Bombe, Bombardierung, Brand, Brandbomben, Brotrationen, Breslau, Brot, Bunker, Coupéwagen, Deserteure, Diebstahl, Dorf, Dresden, Eierhandgranate, Eisenbahner, Erinnerungen, Evakuierung, Explosion, Fahrrad, Feuer, Feuerwehrorchester, Flakgeschütze, Fliegeralarm, Flucht, Flüchtlinge, Freunde, Frost, Fuhrwerke, Furcht, Gefahr, Geschütze, Gräber, Güterwaggon, Hass, Heimweh, Heimat, Heimatverlust, Heimweh, Hochstand, Hochzeitskleid, Hund, Inferno, Jagdbomber, Kanarienvogel, Krieg, Landstraße, Lager, Liebe, Liegnitz, Lokomotive, Lokschuppen, Melken, Militär, Milch, Mutter, Mundharmonika, Notquartier, Planwagen, Phosphorbomben, Rauferei, Rehe, Schlafmangel, Schlesien, Schlesier, Sicherheit, Sirenen, Stehlen, Tod, Trompete, Trichtergrammophon, Treck, Uniformknopf, Vater, Veilchenstrauß, Verdunkelungspolizist, Verfolgung, Verhungern, Verlust, Vögel, 2. Weltkrieg, Luftschutzkeller, Feldarbeit, Nachkriegszeit, Hunger, Ausgrenzung, Hilfsbereitschaft, Katzen
12 - 99 Jahre
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Das Festessen

Ich arbeitete schon seit Tagen bei einem Bauern, band Garben und stellte sie zu Puppen zusammen. Endlos das Feld, endlos bis zum Eisenbahndamm. In der Mittagspause, wenn ich die Suppe und das Brot verschlungen hatte, streckte ich mich auf der Stelle lang aus, dämmerte dahin und vernahm nur noch schwach die Stimmen der Dorfbewohner und Flüchtlinge, die ebenfalls für den Bauern arbeiteten, und dass dieser zur Hochzeit seiner Tochter ein Schwein schlachten wolle. Als ich erwachte, leckte ich mir unwillkürlich die Lippen, denn ich war im Traum auf einer Hochzeit gewesen und hatte mich dort satt essen können und zwischendurch mit den vielen Mädchen getanzt, die in Gruppen zusammenstanden und nur darauf warteten, von mir zum Tanz geholt zu werden … Langsam wurde ich missmutig, weil mir alle Einzelheiten und ein bestimmtes Mädchen, in das ich mich verliebt hatte, wieder entfallen waren. Ich wusste weder genau, wo dieser Ort gewesen war noch was ich gegessen hatte. Wenn ich doch nur nicht so schnell aufgewacht wäre. Aber ich war es ja gewohnt als Flüchtlingsjunge, auf alles zu verzichten, und so bemitleidete ich mich nicht lange. Ich drehte mich auf die andere Seite und fuhr plötzlich schmerzgekrümmt auf, denn ich hatte meinen Furunkel am Arm gedrückt.

Das reinste Hundeeuter, hatte der Apotheker gesagt, als ich mit dem Vorwand, ein bestimmtes Mittel gegen Zimmerfliegen zu verlangen, gestern die Apotheke betrat. Der alte Apotheker hatte mir sofort schwarze Zugsalbe auf die Wunde gedrückt und darauf Gaze, über die er Heftpflaster karierte. Dein Organismus ist entkräftet, deine Mutter soll dir mehr zu essen geben, hatte er noch gesagt.

Vorsichtig umstreichelte ich mit dem Finger meine Wunde, bis der Schmerz nachließ.

Ich dachte wieder an den Bauern Wadewitz. Er könnte mich doch zur Hochzeit seiner Tochter einladen. Einmal sich so richtig satt essen können …

An die Arbeit, Leute! rief der Bauer.

Ich rappelte mich auf. Trotz der Graupensuppe mit den gewürfelten Speckschwarten, die ich gegessen hatte, war ich noch hungrig und stieß mit dem Fuß den leeren Behälter um.

Abends, als ich mit den Leuten nach Hause ging, überholte uns der Bauer Wadewitz auf dem Fahrrad und rief: Leute, am Sonnabend kann jeder zur Hochzeit meiner Tochter kommen. Da könnt ihr reinhauen, so viel ihr ins Scheunentor kriegt!

Mir wurde es beinah schwarz vor Augen, als ich hörte, dass mein Traum in Erfüllung gehen sollte. Die anderen jauchzten und brachen in Hochrufe aus. Ich aber schwieg und stand hinter den anderen. Unscheinbar kam ich mir auf einmal vor, weil ich der Jüngste von allen war und nicht beachtet wurde.

Zu Hause beim Abendbrot aß ich Pellkartoffeln mit Quark.

Iss dich richtig satt, bevor du ins Bett gehst, sagte meine Mutter. Bist bestimmt sehr müde.

Werde bis Sonnabend nicht mehr viel essen, sagte ich und erzählte von dem bevorstehenden Hochzeitsfest beim Bauern Wadewitz, dass wir alle eingeladen worden seien, und dass ich mit einem Riesenkohldampf dort hingehen würde, um mir den Bauch so richtig vollzuschlagen.

Das hätte ich dem Bauern Wadewitz nicht zugetraut, sagte meine Mutter. Die Leute im Dorf erzählen doch, dass er ein tüchtiger Geizkragen sei.

Deswegen esse ich bis Sonnabend nichts mehr, sagte ich.

Das hältst du doch nicht aus, sagte meine Mutter.

Bis Sonnabend esse ich keinen Bissen mehr, sagte ich entschlossen.

Das sind ja noch zwei lange Tage! rief meine Mutter.

Bis Sonnabend esse ich keinen Bissen mehr, wiederholte ich energisch.

Die Katze der Wirtsleute, die sich miauend an meine Beine schmiegte, stieß ich beiseite. Sie setzte sich auf den sauber gescheuerten Fußboden und streckte die Hinterpfote wie eine Pistole heraus und beleckte mich mit zusammengekniffenen Augen. Ich hatte plötzlich keinen Sinn für sie, dachte nur noch an die bevorstehende Hochzeit – und dabei war mir sonderbar zumute; es kam mir vor, als wüchse vor mir eine immer größer werdende Aufgabe. Die ganze Nacht konnte ich nicht richtig schlafen. Wieder und wieder wachte ich auf und wälzte mich im Bett herum. Unentwegt dachte ich daran, was mir der Sonnabend bringen würde, und geriet in große Unruhe. Als erstes gibt es Wurstsuppe, dachte ich, davon esse ich einen halben Eimer voll. – Ich überlegte, dass die vielen Reibselsuppen, Holundersuppen, Rübensuppen und all das andere angerührte Zeug, das ich bisher in meinem Leben gegessen hatte, dass all diese Suppen, in eine Wanne gegossen … Ojemine, eine so große Wanne gab es auf der ganzen Welt nicht. Wollte man dagegen alle guten Speisen und Gerichte zusammenschütten, die ich bisher gegessen hatte, so würde vielleicht nicht einmal der Behälter voll, den ich auf dem Feld mit dem Fuß umgestoßen hatte …

Als ich zwei Tage kaum was gegessen hatte und am Sonnabend erwachte, fühlte ich mich mürrisch und dachte: Den Wadewitz werde ich aber heute tüchtig arm fressen. Habe oft genug für ihn geschuftet. Bei diesen Gedanken getraute ich mich nicht, mein Frühstück – Marmeladenbrot und eine Tasse Milch – zu mir zu nehmen, so wie meine Mutter an den zwei Tagen zuvor schon vergeblich den Tisch gedeckt hatte. Auch die Kartoffelsuppe, die es gestern gab, rührte ich nicht an, aus Angst, ich könnte heute nicht genügend Hunger haben. Meine Mutter räumte stillschweigend den Teller ab. Ich biss die Zähne zusammen, starrte vor mich hin und sagte: Heute Abend werde ich mich aber auf alle Speisen stürzen …

Ob sie dir dann auch alle bekommen werden, sagte meine Mutter.

Ich habe doch einen Magen wie eine Blechbüchse, der alles aushalten kann, sagte ich.

Endlich begann es, Abend zu werden. Ich hatte nachmittags noch einige Stunden mit den Schnittern auf dem Feld verbracht. Auf dem Rückweg bin ich gar nicht erst nach Hause gegangen, um mich frisch zu machen, sondern beeilte mich, schnurstracks an die Festtafel zu gelangen. Die Feuerwehrkapelle spielte bereits, und die Resonanz der Blasmusik hatte das ganze Dorf in eine festliche Stimmung versetzt. Als ich ankam, platzierten mich einige Leute an einen der vielen mit Girlanden und Lampions geschmückten langen Tische. Die Bäuerin brachte mir sofort einen schönen Steingutteller, den sie bis an den Rand füllte. Fingerdick stand das gelbe Hühnerfett auf der Suppe, es teilte sich nicht in Augen, sondern bildete eine einzige goldmatte Schicht.

Iss dich satt, mein Junge, sagte die Bäuerin und strich mir übern Kopf.

Ich nahm den frisch geputzten Silberlöffel und machte mich an die Arbeit. Meine Därme zitterten, ich vermochte meine Gier, trotz der Hitze, die noch in der Suppe steckte und die ich wegzupusten versuchte, kaum zu bändigen.

Als der Teller leer war, ließ ich mir noch einen zweiten, einen dritten Teller füllen; dazu frisches Brot. – Bald jedoch hatte ich eine schreckliche Vermutung, die in Bestürzung überging, plötzlich hatte ich das Gefühl, keinen Hunger mehr zu haben.

Blässe überzog mein Gesicht. Blitzartig ging mir der zweifelnde Gedanke durchs Gehirn, ich werde das, was ich mir vorgenommen hatte, wohl nicht schaffen; denn ich sah mich um und entdeckte auf allen Tischen große Schüsseln mit mir unbekannten Salaten und große Berge mit Hühnerkeulen … In diesem Augenblick servierte die Bäuerin eine Riesenplatte voll ockerfarben gebratenen Fleisches. Eine zweite Frau räumte meinen leeren Teller ab, stellte einen Unterteller vor mich hin und fragte: Na, hat dir die Hühnersuppe geschmeckt? Sogleich legte sie mir mehrere Fleischstücke auf den Teller, dazu gabs Kartoffelsalat.

Ich runzelte die Brauen, meine Kiefer schnappten zu, mir war, als verwandelte sich das Essen plötzlich zu einem Gegner, und ich musste ihm zu Leibe rücken. Ich aß die duftenden Fleischscheiben mit dem Salat, schön mit Essiggurken, Zwiebeln und ausgelassenem Speck versetzt, zusammengepappt mit Mayonnaise; dann gabelte ich noch Wiener Würstchen aus einer großen Porzellanschüssel. – Unterdessen hörte ich die Bäuerin von mir sprechen, dass dort, wo ich herkäme, Schlesisches Himmelreich gegessen werde, mit Backpflaumen, Birnen und Klößen, und dass ich herumgezogen sei, auf Pferdefuhrwerken, in Eisenbahnzügen, von Lager zu Lager, von Notquartier zu Notquartier, und ihre Augen glitzerten wie Quecksilberkügelchen.

Ein Lächeln trat auf meine Lippen, weil ich, der ich mir manchmal als unscheinbarer Junge vorkam, beachtet wurde. Ich sah doch aus, wie ein Mensch eben aussieht: mit zwei Augen und einer Nase … Aber an das „Schlesische Himmelreich", von dem die Bäuerin gesprochen hatte, konnte ich mich nicht erinnern, es je gegessen zu haben.

Fluchtkind oder Die langen Schatten der toten Lokomotiven. Roman in Folgen von Reinhard Bernhof: TextAuszug