"Und das gerade wieder heute!", murmelte Jörg ärgerlich, als er die Küchentür öffnete und sah, was auf ihn wartete. Er war eben aus dem Schulhort gekommen und hatte sich unterwegs mit ein paar Freunden zum Fußballspiel verabredet. Hinter dem Dorfteich, dort, wo die beiden krummen Weiden dicht nebeneinander wuchsen, wollten die Jungen Tore schießen üben.
Böse blickte Jörg die große, runde Emailleschüssel an, die auf dem Tisch thronte. In ihr lehnten Teller, Tassen und Töpfe aneinander, gestützt von Messern, Gabeln und Löffeln. Neben der Schüssel lag ein Zettel. Jörg brauchte ihn gar nicht zu lesen. Er kannte Muttis Wünsche: Trockne bitte ab. Räume das Geschirr in den Schrank. Riegle den Hühnerstall zu. Dein Abendbrot findest Du in der Speisekammer. Bei mir kann es heute spät werden, wir sind...
Jörg zerknüllte den Zettel, den er nun doch gelesen hatte. "Dauernd muss ich mich mit der Wirtschaft abquälen", schimpfte er vor sich hin. Niemand antwortete, er war allein im Haus.
Um vielleicht doch noch die anderen auf der Wiese hinter dem Teich rechtzeitig zu treffen, riss Jörg das blaukarierte Geschirrtuch vom Haken und wedelte damit über die Teller. Plötzlich klopfte es. Jörg erschrak. Dann erinnerte er sich, dass der Hund, der sonst jeden Besucher anmeldete, heute nicht im Zwinger lag. Daher hatte sich jener draußen ungehört durch den Vorgarten nähern können.
Es klopfte ein zweites Mal, ein wenig lauter. Unsere Nachbarn klopfen entweder gar nicht an oder so energisch, dass das Häuschen wackelt, überlegte Jörg weiter. Er rief: "Herein!" Wenigstens glaubte er, es zu rufen, aber es klang ziemlich zaghaft.
Herein trat sein neuer Klassenlehrer, Herr Kieswetter.
"Guten Abend!", sagte Herr Kieswetter freundlich.
"Meine Eltern sind nicht zu Hause", erklärte Jörg eilig, ohne den Gruß zu erwidern. Jörg drehte die Tasse zwischen den Händen, musterte überrascht den jungen Mann und dachte beklommen: Er hat mich also beobachtet, hat gesehen, dass ich es war, und kommt nun angerannt, um sich zu beschweren.
"Ach...!", meinte Herr Kieswetter gedehnt, "und ich wollte mich gern einmal mit deinen Eltern unterhalten." Er zog sich einen Küchenstuhl heran und setzte sich. "Du bist ganz allein hier? Um diese Zeit?"
"Na, wenn Ihre Frau in diesem Augenblick zum Beispiel Milch holen gegangen ist, sind Ihre Kinder doch auch allein", versetzte Jörg angriffslustig. Er glaubte, in der Frage seines Lehrers einen Vorwurf den Eltern gegenüber gehört zu haben.
Herr Kieswetter lächelte. "Wir haben keine Kinder."
"Nein?", sagte Jörg enttäuscht, dann nahm er die nächste Tasse aus der großen Schüssel und begann, sie mit dem Tuch zu bearbeiten, als gelte es, die aufgemalten Rosen vom Porzellan zu reiben. "Sie brauchen gar nicht zu warten, Herr Kieswetter." Wie konnte er den Besucher nur loswerden? "Mein Vater ist zu einer Tagung gefahren und kommt erst Sonnabend zurück, und meine Mutter macht eine Nachsuche. Das kann spät werden."
"Warum beschwindelst du mich, Jörg?", fragte Herr Kieswetter stirnrunzelnd. "Im LPG-Büro war ich schon. Deine Mutti ist nicht mehr dort."
"Das habe ich doch auch nicht gesagt." Ein wenig lauernd sah Jörg seinen Lehrer an. Sie kannten einander erst vierzehn Tage, genau seit dem ersten September, als Herr Kieswetter von einem Institut aus der Stadt gekommen war und der Direktor ihm die Drei a zugeteilt hatte.
"Ich habe doch gesagt, Mutti macht eine Nachsuche. Ihr Kumpel hat einen Bock angebleit, krankgeschossen nennt man das auch. Da hat sie Haro mitgenommen und ist los; helfen, damit sie den Bock schnell finden. Es kann aber Stunden dauern", betonte Jörg und stellte die Tasse, die ihm endlich trocken schien, in den Schrank.
Herr Kieswetter hatte schon von älteren Kollegen gehört, welch merkwürdige Ausreden sich Schüler manchmal ausdachten. Was der Jörg ihm da aber aufbinden wollte...
"Ihr Kumpel?", fragte der Lehrer kopfschüttelnd. "Ich denke, dein Vater ist verreist? Und wer ist eigentlich Haro? Im Klassenbuch las ich, dass du keine Geschwister hast."
Fast nachsichtig, vielleicht sogar mitleidig lächelte Jörg. "Haro ist doch nicht mein Bruder! Haro ist ein Hund." Jörg kicherte. "Mein Vater ist auch nicht Muttis Kumpel. Das ist Herr Mücke, mit dem sie das Hegegebiet in der Steinkiste teilt."
Herr Kieswetter musterte den Jungen und wie Jörg es schien, ganz anders, als wenn er ihn in der Klasse die Hausaufgaben abfragte. "Deine Mutter geht zur Jagd?" Herr Kieswetter erkundigte sich erstaunt.
"Na und?" Für Jörg bedeutete das die selbstverständlichste Sache der Welt, dass seine Mutti Mitglied des Jagdkollektivs war. Sie schoss sogar besser als Herr Mücke, und der war auch kein Schlumpschütze.
"Dein Vater auch?"
"Nein. Der kann nicht mal ansehen, wenn ein Huhn geschlachtet wird. Können Sie das?", wollte Jörg wissen.