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EINE MORALISCHE ANSTALT. Roman mit richtigen Requisiten, letzten Vorhängen und Theaterblut von Matthias Biskupek
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
16.07.2021
ISBN:
978-3-96521-491-0 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 143 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Satire, Belletristik/Humorvoll, Belletristik/Politik
Belletristik: Humor
Humor, Satire, DDR, Liebe, Fremdgehen, Theater, Stasi, USA, Chaostheorie, Mathematiker
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Jessica schreibt in Deutsch eine Jahresarbeit, eine Abhandlung über ein frei gewähltes Thema, mit dem die angehende Abiturientin zeigen soll, ob sie zu selbstständiger wissenschaftlicher Arbeit fähig ist. Ihre besten Freundinnen arbeiten über antifaschistische Widerstandskämpfer, Orchideen auf der Buntsandsteinplatte oder die Entwicklung des Folkloretanzensembles. Jessica schreibt über Schillers Konzeption der Schaubühne als moralische Anstalt und die Aufnahme dieser Tradition am hiesigen Theater.

Da haben Sie sich aber was vorgenommen, sagt Deutschlehrer Köbi. Wieso? fragt Jessica und schreibt als Motto über ihre Arbeit: „Ich träume davon, dass eine Abiturklasse von der Neubauer-Penne ins Theater geht. Scheinbar schläfrige Stille, doch plötzlich ruft einer laut: So geht’s doch nicht! Das muss man anders machen!“ Bernt Violliné, Oberspielleiter des Schauspielensembles, in seiner Antrittsrede.

Jessica nennt ihre Arbeit: „Schläfrige Stille, Provinz und Theateraufregung.“ Sie hat die „Räuber“, den „Sommernachtstraum“ und „Unsere kleine Stabilisierung“ gesehen, hat verglichen, die Schauspielerleistungen beschrieben und stellt fest: Schiller, Shakespeare und Rozewicz geben Antwort auf Fragen unserer Zeit. Moral hat nichts mit Verweigerung oder Prüderie zu tun. Das Theater muss im Gegenteil unverklemmt an alle gesellschaftlichen Fragen herangehen, darf sich keinen Dogmen unterwerfen, muss immer wieder die Frage auf die Bühne stellen: Wo bin ich Mensch, wo darf ich hingehn. Ins Heutige übersetzt: Alle Buden müssen sturmfrei sein. Denn ein Schiller hat im Unterschied zum Fürstenfreund Goethe auf seiner Autonomie bestanden.

Deutschlehrer Köbi hat das Wort „Dogmen“ unterstrichen und „Unterwerfen passt in diesem Zusammenhang nicht“ an den Rand geschrieben. „Autonomie“ und „sturmfrei“ hat er mit einem großen A wie „Ausdruck“ gekennzeichnet. Er hat nur die Räuber gesehen und meinte vor der Klasse dazu „Eine durchaus, nun ja, interessante, nun ja, Aufführung …" Unter Jessicas Arbeit schreibt er: „Die ideologischen Unklarheiten des polnischen Polit-Dramatikers Tadeusz Rozewicz, Wroclaw, müssten gesondert behandelt werden. Trotzdem noch 1

Jessica besteht das Abitur mit sehr gut und beginnt Theaterwissenschaft in der Hauptstadt zu studieren. Der noch immer verheiratete Professor für Marxismus-Leninismus und Freund von Jessicas Mutter hat Beziehungen und kann sie für begehrte Studienplätze nutzen. Jessica wohnt bei ihrer Mutter, hat keine sturmfreie Bude mehr und bekommt ein Kind. Von einem Solidaritätsstudenten aus dem arabischen Raum. Sie bricht das Studium ab, und der Freund ihrer Mutter fällt in Ungnade, wie man ideologische Verwicklungen in den Achtzigern umschreibt. Jessica arbeitet als Anlagenfahrerin, während ihr Freund promoviert und schließlich seinen Kampf im arabischen Raum fortführt. Jessica ist über dreißig, als sie für eine Agentur zum ersten Mal Werbetexte spricht. Eine beste Freundin hat sie überredet, es doch mal zu versuchen. Ihre Stimme ist überhaupt nicht öffentlich-rechtlich, sagt der Casting-pro-moter bewundernd, und so erhält sie ein Angebot beim Sender „Berlin ist Eins“. Die deutsche Einheit tobt lustvoll zwischen Kudamm und Kurfürstenstraße. Der Jingle zum Sender wird jeweils gekontert: berlin-united-berlin-one. Jessica hat den american drive in der Stimme und macht die Jessica-and-Jovi-Morgenshow. Sie muss anmoderieren und lässt abfahren. Als sie vierzig wird, ist auch ihre Stimme öffentlich-rechtlich geworden und sie wechselt. In den Kulturnachrichten des Senders Freies Berlin berichtet sie ausführlich über das Theatersterben in der Mitte Europas. Du bringst das glaubhaft rüber, so gut waren wir noch nie on air, sagt der leitende Redakteur. Wo kommst du eigentlich her?

Vom Theaterjugendklub, sagt Jessica. Der leitende Redakteur versteht nicht. Ist lange her, sagt Jessica, da müsste ich ausführlich mit dir drüber quatschen. Würde ich gern, sagt der leitende Redakteur. Ich nicht, sagt Jessica und trollt sich. Ihr Kind geht regelmäßig zum Rock’n’Roll Dancing Club. Jessica träumt, wird dann aber leitende Redakteurin. Sie sieht verdammt gut und exotisch aus und hat einen entfernten Freund. „Und das ist auch gut so“, zitiert sie ihren Bürgermeister. Bei einer Redaktionsbesprechung sagt Jessica: Wir müssten unser Programm einen Gang zurückschalten, versteht ihr?

Nein, sie verstehen nicht. Aber wir – wir tun so, als verstünden wir und flüchten uns wieder drei Dezennien zurück in die Vergangenheit.

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