Brandenburg-Preußen für jedermann, allerlei Spuk und Sagenhaftes sowie ein Polizist vor der Tür – Sieben E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 21.04. 2017) Hat es bei Ihnen schon mal gespukt? Wenn nicht, dann können Sie es jetzt ausprobieren. Denn in mindestens zwei der insgesamt sieben Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de acht Tage lang (Freitag, 21.04. 17 - Freitag, 28.04. 17) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind, spukt es. Zum Beispiel unterm Riesenrad, aber auch im Harz, der eine im wahrsten Sinne des Wortes sagen-hafte Gegend ist. Außerdem ist eine Einführung in die Geschichte Brandenburg-Preußens für jedermann zu haben sowie die Einladung zur Bekanntschaft mit Karl Stülpner, mit Umberto und mit dem King. Und nicht zuletzt wartet ein Polizist vor der Tür und Patrick ist etwas geschehen. Spannende Lektüre wie immer. Lesen Sie los!
1992 legte Hans Bentzien im Verlag Volk & Welt Berlin eine Geschichte Brandenburg-Preußens für jedermann vor – „Unterm roten und schwarzen Adler“: Unter dem roten Adler Brandenburgs und dem preußischen schwarzen wurde Geschichte gemacht: provinzielle, deutsche, europäische. Heute, da Brandenburg wieder ein deutsches Bundesland geworden ist, muss seine tausendjährige Vergangenheit neu und dringend befragt werden. Hans Bentzien hat die Tatsachen möglichst selbst sprechen lassen: Überschaubar wird die aufsteigende Linie von der Markgrafenschaft über das Kurfürstentum und Königreich bis hin zum Kaiserreich und der Weimarer Republik. Die wichtigsten Gestalten Brandenburg-Preußens gewinnen Profil: der Große Kurfürst, Friedrich II., Gneisenau, Hardenberg oder Bismarck. Dennoch wird nirgends unterstellt, die preußische Geschichte sei die selbstherrliche Leistung einzelner überragender Menschen. Vielmehr erzählt Bentzien von zumeist dramatischen Konflikten: Jahrhundertelang musste sich das Herrscherhaus mit dem Adel und dem Bürgertum arrangieren. Oft floss Blut, manchmal wurden glänzende politische Vergleiche geschlossen. Fast immer hatten die Bauern die Zeche zu zahlen. Zwar fanden sie unter den Reformern der Napoleonischen Zeit, in den Freiherren Hardenberg und Stein zumal, leidenschaftliche und wirkungsvolle Anwälte, aber der Gegensatz zwischen Arm und Reich blieb, ja er verschärfte sich noch durch die Industrialisierung seit dem 19. Jahrhundert. Als Land der europäischen Mitte, zudem ehrgeizig auf Erweiterung bedacht, musste Preußen immer wieder Kriege führen, fast schicksalhafte wie den Dreißigjährigen oder solche um Territorialgewinn wie unter Friedrich II. Schließlich wurde zweimal die Brandfackel über die Welt geschleudert: 1914 und 1939. Obwohl dieser Wahnsinn längst nicht mehr im Namen Preußens geschah, war nicht zuletzt sein Ende der Preis dafür.
Werfen wir einen kurzen Blick in dieses Geschichtsbuch für jedermann und beginnen wir zur Einstimmung mit der Vorgeschichte: „Es kommt darauf an, wann man das Jahr Null Brandenburgs ansetzt. Das Land zwischen Oder und Elbe, Ostsee und Erzgebirge, im Osten des Reiches gelegen und daher eher nebensächlich von der Herrschenden behandelt, war als Ergebnis der neu gestaltenden Völkerwanderung in den ersten Jahrhunderten nach der Zeitrechnung ein Land mit gemischter Bevölkerung, dominiert von slawischen Stämmen, hauptsächlich von den Hevellern und Lutizen. Sie beschäftigten sich mit Jagd und Fischerei, gelegentlich auch mit dem Anbau von Feldfrüchten. An Zahl der Einwohner gering, als Land ausgesprochen dünn besiedelt, galt es als ein Durchgangsland voller natürlicher Hindernisse, Sümpfe und Seen, das leicht zu verteidigen war. Slawen und Germanen, bereits zu Völkerschaften entwickelt, lebten nebeneinander, zumeist friedfertig, aber durchaus nicht immer, denn das Land hatte keinen starken Herrscher, der feste Grenzen gezogen hätte.
So galt das Recht des Ansässigen, das, wie aus der Geschichte aller Völker bekannt ist, am meisten umstrittene Recht. Immer wieder wurden meist örtliche Auseinandersetzungen um das beste Land geführt, um den günstigsten Platz, den sichersten Weg. Allgemein war das Land kulturell wenig erschlossen, es wurde nur von einer bedeutenden Straße durchzogen. Sie reichte von Berlin nach Magdeburg, ging über den interessanten Platz auf der Mitte des Weges mit einer Furt über die Havel, über Brandenburg. Von Berlin aus begannen Straßen an die Odermündung (Stettin), nach Hinterpommern und Pomerellen, dem späteren Westpreußen, nach Posen und Warschau und schließlich nach Breslau. Allerdings verlief die wichtigste Ost-West-Straße von Schlesien aus über Leipzig und Dresden. Berlin wurde also der natürliche Mittelpunkt des Gebietes, was schließlich den Ausschlag für seine Rolle als Hauptstadt gab. Von ähnlicher Bedeutung zeigten sich die Wasserstraßen Oder und Elbe und ihre Querverbindungen Spree und Havel. Mit einem heutigen und daher nicht ganz zutreffenden Begriff könnte man das Gebiet der späteren Mark Brandenburg als natürlich gut erschließungsfähig bezeichnen.
Staatlich gesehen waren die Dinge unklar, wie bei allen Ostgrenzen des Reiches. Vor tausend Jahren musste der deutsche König Heinrich I. (919 - 936) das Reich neu ordnen und „strukturieren“. Mit ihm regierte die Sachsen-Dynastie, unterstützt von den Franken. Zuerst fügte er aus der Erbmasse des sich auflösenden Westfranken Lothringen an Deutschland, dann schloss er mit den im Osten vordringenden Ungarn einen Waffenstillstand, den er dazu nutzte, die Ostgrenze militärisch zu befestigen und eine neue Waffe, den Panzer der damaligen Zeit, das gepanzerte Reiterheer, aufzubauen. Mit ihm errang er an der Unstrut einen Sieg über die erneut nach Sachsen und Thüringen vordringenden Ungarn. Beteiligt waren alle deutschen Stämme, wodurch das Königtum gestärkt und in die Lage versetzt wurde, die Angriffe aus dem Osten 955 abzuwehren, endgültig durch die Schlacht auf dem Lechfeld unter der Leitung Ottos I.“
Ebenfalls Anfang der neunziger Jahre veröffentlichte Günter Saalmann zwei Bücher über zwei sehr unterschiedliche jugendliche Helden, die jedoch eines gemeinsam haben – sie haben eine ungewöhnliche und unverwechselbare Biographie, die in beiden Fällen nicht wenig mit der Wende zu tun hat. So erschien erstmals 1994 beim Erika Klopp Verlag GmbH die Druckausgabe „Fernes Land Pa-isch“: Und dies ist eigentlich der dritte Band zu „Umberto“. Den zweiten hat der Autor aber weggelassen: „Im Kinderheim“, die Wendezeit, welche die junge Leserschaft wohl selten noch interessiert. In „Pa-isch“ ist Umberto schon ein handfester Bursche - mit dem Gemüt eines Vierzehnjährigen. Die neue Einheit Deutschlands macht's möglich: Er zieht mit seiner Mutter gen Westen - nun steht ihm ja die Welt offen. Aber auch unter den neuen Bedingungen kriegt er sein Leben nicht in den Griff - oder erst recht nicht. Und er beschließt erneut die Flucht - diesmal soll es aber wirklich nach Afrika gehen. Und er nimmt wiederum seine kleine Schwester mit. Auf einem geklauten Motorrad. Wo sie schließlich landen? Dieses Buch entstand parallel zu dem Drehbuch für den Kinofilm „Fernes Land Pa-isch“.
Das 1. Kapitel macht uns mit Umbertos derzeitigem Aufenthalt bekannt, erklärt, woher er kommt und wohin er soll. Und seine Vorliebe für ein bestimmtes Gemüse verschafft ihm eine böse Stunde in schwindelnder Höhe, aber ein Signalfeuer erlöst ihn: „Medock, Umberto, zum Heimleiter! Die Stimme der alten Sprechanlage schnarrt durch das langgestreckte Gewölbe des Schlosses. Der Fuß im dreckigen Lederschuh zögert eine Sekunde. „Mal wieder kein Wort zu verstehen“", murmelt Umberto und setzt sich in gemächlichen Trab. Vorüber an der Tür mit der Aufschrift Heimleitung. Am Ende des Ganges überzeugt er sich, dass ihn niemand beobachtet, und verschwindet im Schuhputzraum. Dieser war früher einmal der Vorraum zu einem Scheinbalkon an der Ostseite des alten Gemäuers. Das Geländer davor ist weggerostet, der „Balkon“ selbst kaum mehr als ein verwitterter Porphyrsims. Die Tür, die an die frische Luft führt, ist aus Sicherheitsgründen zugeschraubt und von außen zusätzlich mit Brettern vernagelt.
Umberto reckt den Arm hinauf in ein Lattenregal: Hinter den Lieferkartons mit Schuhcreme ist eine Wandhöhlung. Die Hand ertastet einen Stoffbeutel, seine „Mauke“", seine ganz privaten Schätze. Er zieht den Beutel auf und kontrolliert den Inhalt: Ein Kinderpassbild von Aleksandra Krautwein, eine Packung Zigaretten, Streichhölzer, ein Päckchen Präser, falls es hier im Heim mit der stämmigen Evi mal „dazu“ kommt, ein Taschenmesser mit sieben Werkzeugen, eine halbe Knoblauchknolle. Von dieser polkt er die papierweißen Schalen ab, schmeißt sich die Halbmonde in den Mund und kaut mit Todesverachtung. Ab einer bestimmten Menge, das weiß er aus Erfahrung, kommt ihn das Kotzen an beim Kauen, sofern er auch nur im geringsten die Miene verzieht. Also heißt es: eiserne Maske! Immer dran denken: Die dicke Evi frisst Zwiebeln und hält das schon seit Jahren durch.
Nicht ohne Wohlwollen betrachtet er in der vernagelten Türscheibe seine ins Goldene schimmernden Haare, die nicht zu hohe Stirn, die breite Nasenwurzel, die Augen mit den etwas geknifften unteren Lidern. Irgendein Wichser vom Tiefbau hat mal gesagt, diesem Asphaltschnuffi Medock sieht man das Heim an. Umberto hat ihm bei Gelegenheit eins aufs Auge gedrückt, da war Ruhe. „Medock, Umberto, bitte zum Heimleiter!“, hallt draußen die Lautsprecherstimme, jetzt betont langsam und deutlich.
„Mach 'n Kopp zu“, knurrt der Gerufene. Obwohl erst Oktober ist, kracht die Heizung. Die Hitze verstärkt den Geruch nach Schweißfüßen und Schuhcreme. (Und vermutlich auch nach Knoblauch.) Er fragt sich manchmal, ob er nach Walda zurück möchte. Im ersten Heimjahr ist er zweimal über den Zaun gestiegen. Die wenigen Stunden zu Hause haben aber nichts gebracht. Seine sogenannte Mutter Ilona und ihr sogenannter Verlobter Tscheschiak waren beide Male randvoll. Beim ersten Besuch hat er die beiden angeschrien wegen dem Chaos im Wohnzimmer. Beim zweiten Mal hatten sie die Tür zugenagelt. Umberto ist fluchtartig wieder abgehauen, eine Etage höher, zu seiner Schwester Karla. Karla heißt jetzt Karla Backofen und wohnt mit Mann und Kind in der Mansardenwohnung der verstorbenen Großmutter. Aber alles hatte sich verändert seit Großmutters Tod, nur das Vogelhäuschen am Fenster hat noch an sie erinnert. Karla fand kaum Zeit für ihn. Und zum Bleiben war kein Platz. Da hat er noch bei seiner ehemaligen Lehrerin geläutet. Und als er vor der Klingel stand, hat sein Herz angefangen, schwer zu schlagen. Da wusste er, weshalb er in Wirklichkeit über den Zaun gestiegen war.
Der Gedanke, dass gleich vielleicht nicht die Lehrerin, sondern ihre Tochter vor ihm stehen könnte, die magere, stets etwas blasse Aleksandra aus seiner Erinnerung hat ihm das ruhige Atmen schwergemacht. Aber bei Krautweins war niemand daheim, er hat im Park übernachtet.“
Nur drei Jahre später bekommen wir es mit einem King zu tun: 1997 erschien im Ravensburger Druckverlag (Ravensburger Junge Reihe) „Ich bin der King“: Rex, hochbegabter Spross eines nun arbeitslosen DDR-Ingenieurs und einer Spitzensportlerin, gerät in den Strudel der Nach-Wendezeit. Er nutzt seine überlegene Intelligenz dazu, für die zu erwartende räuberische Gesellschaft zu „trainieren“, indem er eine Gruppe jüngerer „Loser“ um sich schart und ihr Räuberhauptmann wird. Was harmlos beginnt wird, bald lebensgefährlich. Das Ganze erzählt in einer Rahmenhandlung, die vom Leser nicht so schnell durchschaut wird.
Im Moment aber geht es dem King gar nicht so gut: „Täglich zwei Mahlzeiten durch den Türspalt, früh Scheiblettenkäse, Schwarzbrot, Kiwi, Trinkjoghurt. Abends warm. Am Anfang Hungerstreik. Jetzt esse ich. Habe mich im Griff, spare Kräfte, teile den Tag ein. Kurze Schlafphasen, ein bisschen Fitness, Liegestütze, Kniebeugen.
Sport und Wandern. Sechs Schritt hin. Die Eisentür. Kehrtwende, rechte Schuhsohle, sechs Schritt zurück, in Augenhöhe die vergitterte Luke, Kehrtwende, linke Sohle. Eisentür, Luke. Tür, Luke. Was habe ich falsch gemacht? Wo hat meine Logik versagt? Durch die blinde Scheibe Blick auf verstaubte Klinker, auf Handlänge nah. Im Lauf des Tages wandernde Sonnenquadrate. Der Lichtschacht oben, zu ebener Erde, mit einem Rost abgedeckt.
Problem Nummer eins: die Gitterstäbe. Wäre das gelöst, käme Nummer zwei - der Schacht. Jemand mit schmalen Schultern, ein Schlangenmensch, könnte sich durchwinden. Ich nicht. Aussichtslos. Ich muss hier raus! Türwärts nur auf die schwarzen Fliesen treten. Kehrtwende. Lichtwärts nur auf die weißen. Weiße Karos, schwarze Karos. Wenn ich draußen bin, zerschlage ich alle Schachbretter der Welt. Das Bett, der Wasserhahn, die Toilette. Ich bin Rex. Rex, Latein: der König. Ich bin Kamentz. Soll slawisch sein: Stein. Rex Kamentz: König Stein. Königsstein. Festung Königsstein, ha ha, dieses Loch. Ich muss hier raus.
Seit der Nacht zum Dienstag zweiundsiebzig Stunden Einzelhaft. Am Anfang Ineinanderfließen von Ohnmacht und Halbschlaf. Das Schädeldröhnen wie ein endloser, tiefer Gong. Die Haare um die Kopfwunde herum geschoren, als Kompresse eine Zellstoffeinlage mit der berühmten Saugkraft, mit Heftpflaster kreuzweise festgeklebt. Das Pflaster löst sich bereits, ich kratze vom Rand her den Schorf aus den Stoppeln. Dienstag in Abständen meine Wutanfälle, Fäuste gegen die Tür. Pauken und Brüllen, Pauken und Brüllen. Danach totale Erschöpfung, nervöser Schlaf, einmal gestört von einem Schurren und Schieben, Eisen auf Stein. Und ein ekelhafter Traum: Ich reiße Beate den Pulli hoch. Ich dringe in wütender Lust in sie ein, ich bin ein Rammbock, bei jedem Stoß schiebt sie ihre Zunge ein Stück weiter aus ihrem Mund, salamifarben, salamilang. Auf dem Bettrand sitzen. Pläne für den Ausbruch.
Die bisherigen Versuche - zwei Pleiten. Die erste am Mittwochabend. Ein Streifen, von der verschlissenen Wolldecke gerissen, zum Strick gedreht, zum Fesseln der Geisel, unterm Kopfkeil griffbereit. Als Schritte auf der Treppe hörbar werden: Fäuste gegen die Schläfen, Würgelaute, Stirn gegen die Mauer, ein Anfall von Durchdrehen, von Raserei, von Selbstzerfleischung. Aber sie fallen nicht drauf rein, schieben nur das Essen durch den Türspalt.
Gestern Abend, Donnerstag, zweiter Versuch, diesmal mit Power. Ich stehe sprungbereit, lausche. Schlüsselklappern, ich werfe meine ganzen fünfundsiebzig Kilo gegen die Tür. Sie fliegt auf, dong, dröhnt zurück. Ich gebe nicht auf, stoße, schiebe. Umsonst. Das Gegengewicht ist massiv. Der Türspalt reicht maximal zum Durchschieben der Mahlzeiten. Sie waren vorbereitet, draußen steht ein Klotz, der nicht von schlechten Eltern ist. Das war’s in der Richtung.
Ausbruchsversuch Nummer drei steht noch bevor. Diesmal muss es klappen. Wenn ich am Leben bleibe - Rache! Ich ziehe das Ding durch, verlasst euch drauf! Das Bettgestell. Eisen, Uralt-Sperrmüll. Am Kopfteil ist eine Schweißnaht gerissen, ich packe die Querstrebe und kann sie zur Seite biegen. In der Gegenrichtung sperrt sie sich, aber ich nehme beide Hände. Drei, vier Versuche, sie bricht heraus. Die Bruchstelle scharfkantig, das Werkzeug liegt nicht schlecht in der Faust.
Draußen noch Dämmerung, hier unten schon Dunkelheit. Unterhalb der Fensterluke ertaste ich eine Vertiefung in einer Fuge. Mein Ansatzpunkt, schon beim ersten Kratzen rieselt Mörtel. Morgen früh, bei Tagesanbruch, kann ich meine Decke in die Luke hängen, wie zum Auslüften, das Loch tarnen. Sie könnten unverhofft den Kopf durch den Türspalt stecken. Kratzen. In den Verschnaufpausen manchmal ein Rascheln. Vielleicht eine Ratte. Hallo, Ratte! Ist jetzt schon Freitag? Bei der monotonen Arbeit kein Zeitgefühl mehr, noch dazu im Finstern. Die Swatch hat was abgekriegt, die Zifferblattbeleuchtung streikt. Diese Nacht noch muss der erste Ziegel aus der Wand. Hab ich den, komme ich besser an den nächsten. Lachhaft, ein Mann, der ins Sprengstoffgeschäft einsteigen will, kratzt sich mit ‘nem Stück Eisen durch die Mauer. Graf von Monte Christo. Durch die Luke fällt kühle Nachtluft.“
Erstmals 2004 war im Deutschen Taschenbuchverlag München die Druckausgabe von „Pia und die Graffiti-Geister“ von Maria Seidemann zu haben: Pia versteht die Welt nicht mehr. Ihr Bruder Patrick liegt mit gebrochenem Bein im Krankenhaus und schlimmer noch: Patrick soll eine echte Straftat begangen haben! Das behauptet jedenfalls Wachtmeister Kröber. Angeblich hat Patrick die Friedhofsmauer mit Graffiti-Geistern verunziert. Als Pia der Sache nachgehen will, geschieht das Unglaubliche: Die Graffiti-Geister werden lebendig und steigen munter von der Mauer herab. Aber fangen wir der Reihe nach. Und fangen wir mit einem Polizisten an – Wachtmeister Kröber -, der auf einmal vor der Tür steht: „Am Nachmittag brachten wir Mama zum Bahnhof. Als der Zug abgefahren war, sagte Papa: „Das wird bestimmt eine furchtbare Woche!“ Patrick meinte: „Wieso? Wir haben doch alles besprochen. Ich mache jeden Tag ein bisschen sauber. Pia kocht. Und du gehst in deine Schule wie immer! Alles total normal!“ Papa seufzte und schob uns ins Auto. Er setzte Patrick bei seinem Sportverein ab und mich vor unserer Wohnung. Dann musste er in die Schule zur Elternversammlung. Als er gegen neun Uhr zurückkam, war Patrick noch nicht zu Hause. Papa sagte mit seiner strengsten Lehrerstimme, er hätte es ja gleich gewusst, dass hier alles aus dem Ruder laufen würde, und er wollte auf der Stelle Mama anrufen. „Stopp!“, rief ich. „Mamas Lehrgang fängt morgen früh an. Wenn du sie jetzt anrufst, dann setzt sie sich in den nächsten Zug und lässt den Lehrgang sausen!“ „Du hast Recht, Pia!“, sagte Papa. „Und ohne den Lehrgang bekommt sie die neue Arbeitsstelle nicht.“
Da klingelte es. Vor unserer Wohnungstür stand ein Polizist. Papa ahnte sofort, dass der Mann nicht nur nach der Uhrzeit fragen wollte. „Patrick? ... Was ist passiert?!“ „Polizeiobermeister Kröber!“, sagte der Polizist und tippte an seine Mütze. „Sind Sie der Vater von Patrick Petersen? Ihr Sohn wurde bei einer Straftat ertappt.“ „Was - was?“, stammelte Papa. „Was denn für eine Straftat??“ „Ihr Sohn hat die frisch restaurierte Mauer des Alten Friedhofs mit Sprühfarbe verunziert.“ „Wo ist mein Sohn?“, fragte Papa. „Sie können doch ein Kind nicht die ganze Nacht auf der Wache behalten - wegen einer Farbschmiererei?!“ „»Ihr Sohn ist im Krankenhaus!“, sagte Kröber. „Das sagen Sie mir erst jetzt?“ Papa musste sich hinsetzen. „Was haben Sie mit Patrick gemacht?“ „Ich habe gar nichts mit ihm gemacht! Ihr Sohn hat sich der Festnahme widersetzt. Bei seinem Fluchtversuch ist er unglücklich gestürzt.“ „Was heißt denn das: Er hat sich widersetzt?“, hakte ich nach. „Ja - also, es kam zu tätlichen Auseinandersetzungen.“ „Sie haben meinen Sohn geschlagen?“, rief Papa empört. „Na hören Sie mal!“ Kröber war beleidigt. „Ich schlage nicht mal meine eigenen Kinder! Ihr Sohn wollte weglaufen und ist auf der Treppe am Kirchberg gestolpert. Er hat sich ein Bein gebrochen!“ Papa hatte schon den Hörer in der Hand, um das Krankenhaus anzurufen. Ich dachte: Irgendwas stimmt hier nicht. Patrick hat noch nie Farbdosen gehabt. Und das Graffiti hatte ich doch schon in der vorigen Woche an der Friedhofsmauer gesehen. Dieser Kröber log wie gedruckt! Kröber sagte: „Also, Sie wissen ja jetzt Bescheid. Haben Sie noch Fragen zur Straftat Ihres Sohnes?“ Papa sprach mit der Unfallstation und antwortete ihm nicht. Ich schob Kröber zur Tür hinaus.“
Eine ganz andere Geschichte erzählt Karl Sewart in seinem erstmals 1994 im Chemnitzer Verlag unter dem Titel „Mich schießt keiner tot“ erschienenen Buch über Karl Stülpner. Es ist die Geschichte dieses erzgebirgischen Wildschützen. Dem E-Book liegt die 3. erweiterte Auflage von 2004 zugrunde: Kaum eine andere historische Gestalt ist im Bewusstsein der Menschen des Erzgebirges so lebendig geblieben wie der Wildschütz Karl Stülpner. Seine Lebensspuren führen durch halb Europa, aber mit vielen abenteuerlichen Taten in seiner Heimatlandschaft hat er die Zuneigung seiner Zeitgenossen und nachwachsender Generationen gewonnen. Karl Sewart erzählt in seinem Buch die Biografie, und er weitet zugleich Tatsachen und Legenden dieses Lebens. Ein Volksbuch für alle Freunde erzgebirgischer Geschichte. Das spannende, sehr gut recherchierte Buch hat seit seinem ersten Erscheinen 1994 viele interessierte Leser in ganz Deutschland gefunden und dem Autor bisher zahlreiche Lesungen und interessante Bekanntschaften und Gespräche eingebracht. Der Stülpner-Karl ist schon ein Phänomen. Dieser Analphabet zwingt nach wie vor alle möglichen hochgelehrten Leute dazu, sich mit ihm zu befassen. Wissenschaftler wie die Historikerin Britta Günther M.A., wie Kunst-Prof. Dr. Roland Unger oder PD Dr. Jähne haben die Stülpner-Forschung und damit auch das Gesamt-Geschichtsbild inzwischen um weitere interessante Erkenntnisse bereichert. So wissen wir z. B. nun endlich, wer der Stülpner-Biograf Schönberg eigentlich war und wie zu Stülpners Zeiten eine Staroperation verlief.
Weiterhin erfreut sich auch Karl Sewarts Stülpner-Buch der Gunst des Lesers, bringt es ihm doch sowohl die historische Biografie als auch die legendäre Gestalt des erzgebirgischen Wildschützen nahe und regt es ihn dazu an, den Spuren Stülpners in dessen Heimat nachzugehen. Viele Touristen besuchen heute die Erlebnisburg Scharfenstein, nicht zuletzt darum, weil sie von Stülpner einst belagert wurde, weil er hier geboren wurde und aufgewachsen ist und heute seiner mit einer repräsentativen Ausstellung gedacht wird. Aber nähern wir uns jetzt Karl Stülpner selber an. Er soll sich irgendwo versteckt halten: „Der Nachtwächter hat die zwölfte Stunde ausgerufen. In den Hütten des kleinen Fleckens, die sich ängstlich an den Burgberg ducken, ist das letzte Licht längst ausgegangen. Die Leute ruhen von ihrem schweren Tagwerk aus. Es ist still geworden. Nur das Mühlenwehr rauscht dumpf vom Fluss herauf, das Radwerk klappert leise. In immer dichteren Schwaden steigt der Nebel auf. Fast drohend ragt die Silhouette der Burg in den düsteren Herbsthimmel. Nur ab und zu dringt ein Mondstrahl durch die schwere Wolkendecke. Einmal ist es, als ob oben auf der Burgmauer die Gestalt einer weiß verschleierten Frau erscheine ...
Da schimmert, blitzt es metallen auf. Gedämpfte Schritte sind zu hören. Der verstohlene Strahl einer Blendlaterne. Zaumzeug klirrt leise, Hufe scharren. Mit gedämpfter Stimme werden kurze Befehle erteilt. Ein Gewehrlauf schimmert im Mondlicht auf. Im Schutz der Dunkelheit sind Männer in den Ort eingedrungen. Zwei, drei Dutzend mögen es sein. Einige sind beritten, die meisten bewaffnet. Kriegsmäßig besetzen sie die Ausgänge des Dorfes. Die Mehrzahl zieht sich an der überdachten Holzbrücke am unteren Ende zusammen. Das Haus an der Brücke wird dicht umstellt. „Im Namen des Gesetzes! Öffnet die Tür!“ Laut, schrill schallen die Worte gegen das Haus, hallen vom Burgberg wider. Den Worten folgen Schläge mit Fäusten und Gewehrkolben gegen Tür und Fensterläden. Man ist dabei, die Tür aufzubrechen. Endlich öffnet die Tür sich von innen. Ein älterer Mann, abgearbeitet, aus dem Schlaf gerissen, fragt, was denn sei. Er wird von den Laternen geblendet. Unsanft wird er beiseite gestoßen. Soldaten dringen ins Haus ein, stürmen durch den Flur, die Treppe hinauf, reißen Türen auf, durchsuchen die Zimmer. Vom Keller bis zum Spitzboden durchstöbern sie alle Räume, Ecken und Winkel.
„Schießt in die Feueresse!“, befiehlt ein zivil gekleideter untersetzter Mann. Schüsse krachen, die Mauern erbeben, der Putz rieselt herab, Ruß dringt in den Raum. Indessen schnappen Soldaten sich Würste und Schinken aus dem Rauchfang, greifen frische Männerwäsche aus der Truhe, lassen alles unter ihren Uniformröcken verschwinden. Eine Frau schreit. „Krieg!“, schreit sie. „Es ist Krieg!“ Der ältere Mann, der die Tür öffnete, sagt: „Es ist schlimmer als Krieg, Frau. Es sind die eigenen Leute, die sich wie die schlimmsten Feinde aufführen ...“
Den Musketieren in der weißen Montur mit gelben Armaufschlägen und roter Halsbinde sind weitere Zivilisten gefolgt. Sie geben sich als Gerichtsbeamte zu erkennen. Auch zwei Forstbeamte treten bewaffnet herein. Der Gerichtshalter fährt den Hauswirt an: „Wo steckt er, Sein Hausgenosse! Wo steckt schockschwerenot dieser Stülpner!“ Der alte Mann zuckt mit den Schultern. Er wisse nicht, wo dieser sich aufhalte. Er sei Maurer von Beruf und arbeite den ganzen Tag. Er sei spät nach Hause gekommen am vergangenen Abend und habe Stülpner nicht zu sehen bekommen, sei gleich zu Bett gegangen. „Lüge Er nicht!“, ruft der Büttel, tritt hinter dem Gerichtshalter hervor und bedroht den Hauswirt mit dem spanischen Rohr. „Er steckt doch mit dem Delinquenten unter einer Decke, beherbergt ihn unerlaubterweise. Er wird verhaftet, wenn Er uns nicht verrät, wo dieser Schurke sich aufhält! Er leistet einem gesuchten Verbrecher Vorschub! Er ist sein Komplize!“ Aber der Gesuchte scheint tatsächlich nicht da zu sein – jedenfalls nicht dort, wo er vermutet wurde. Merkwürdig.
Sehr merkwürdig geht es auch in dem erstmals 1984 im Kinderbuchverlag Berlin erschienenen „Spuk unterm Riesenrad“ von C.U. Wiesner zu: Auf einem Staubsauger fliegen sie durch die Lüfte vom Alexanderplatz zur Burg Falkenstein im Harz: Hexe Emma, Riese Otto und der böse Zwerg Rumpi, lebendig gewordene Figuren aus einer Berliner Geisterbahn. Die drei Enkelkinder des Schaustellers, Umbo, Tammi und Keks, machen sich auf zu einer atemberaubenden Verfolgungsjagd. Die siebenteilige Abenteuerserie von C. U. Wiesner ( Regie: Günter Meyer), erstmalig im Fernsehen der DDR am 1. Januar 1979 ausgestrahlt, hat es längst zu einem Kultstatus gebracht. Sie wurde zu einem zweiteiligen überaus erfolgreichen Kinofilm, erreichte als Kinderbuch in den achtziger Jahren eine Auflage von über 100.000 Exemplaren und wurde von zahlreichen Fernsehsendern auf vier Kontinenten übernommen ( u. a. Spanien, China, Kanada, Ägypten). Im Sommer 2012 eroberten Hexe, Riese, Rumpelstilzchen auf einen Streich gleich drei Theaterbühnen in Rostock, Berlin und Dresden. Bei Google findet man inzwischen fast 63.000 Einträge. Nach dem „Spuk unterm Riesenrad“ ging es fröhlich und gruselig weiter: „Spuk im Hochhaus“ (1982), „Spuk von draußen“ (1987) und „Spuk aus der Gruft“ (1997). EDITION digital konnte auf die Originalfassung des Kinderbuchverlages von 1984 zurückgreifen. Aber bevor es so richtig spukt, fängt die ganze Spukerei erst mal ziemlich normal an und wir lernen die Familie Kröger kennen, die der Autor immer dann besucht, wenn …
„Wenn es mir in Berlin zu laut und unruhig wird, schließe ich die Wohnung hinter mir ab, lade Papier und Schreibmaschine in den Trabant und fahre ein paar Tage nach Bärenklau. Das ist ein kleines Städtchen etwa nördlich von Berlin. Wer hier nur so durchfährt, könnte es für ein großes Dorf halten. Aber es gibt fünf Straßen, vier Betriebe, drei Gaststätten, zwei Schuhläden und ein Rathaus mit einem richtigen Bürgermeister, und darum ist Bärenklau eben doch eine Stadt und kein Dorf. Dort, wo die letzten Häuser stehen und schon bald der Wald anfängt, döst eine grüngestrichene Laube vor sich hin. Ich habe sie von meinem Onkel Felix geerbt, und mein Nachbar sagt immer, da müsste wenigstens mal neue Dachpappe draufgenagelt werden, und die Bretter seien auch schon ziemlich wurmstichig. Mit meinen Nachbarsleuten, den Krögers, komme ich gut aus. Wenn ich nicht da bin, passt Herr Kröger auf meine Laube auf, und wenn ich da bin, bringt mir Frau Kröger Kartoffelpuffer, selbst gebackenen Kuchen oder frisch gelegte Eier von ihren Hühnern. Am Anfang sagte ich einmal, das sei mir peinlich. Aber da lachte sie nur und meinte: „Bei so 'ner großen Familie fällt immer was ab.“ Krögers gelten als kinderreich. Darum durften sie sich auch das schmucke Einfamilienhaus bauen, auf das sie nun mit Recht sehr stolz sind. Herr Kröger arbeitet im Bärenklauer Margarinewerk. Dort muss er jeden Tag kosten, ob die Margarine, die in die halbe Republik verschickt wird, auch wirklich gut schmeckt. Obwohl er das schon seit vielen Jahren macht, sieht er noch schlanker und sportlicher aus als ich. Daran merkt man, dass Margarine wirklich sehr gesund ist, besonders die aus Bärenklau.
Frau Kröger sitzt den halben Tag an der Kaufhallenkasse. Den anderen halben Tag braucht sie schon, um sich um ihre fünf Kinder zu kümmern. Weil die Kaufhalle „Kosmos“ heißt, hängt über dem Gemüsestand ein großes Bild von dem Fliegerkosmonauten Sigmund Jahn. Daneben hängt ein etwas kleineres. Aber die Dame auf dem Foto ist nicht die Frau Jähn, sondern die Frau Kröger, und darunter steht, dass sie die beste Kassiererin und obendrein dreifache Aktivistin ist. Jetzt brauche ich nur noch Krögers Kinder vorzustellen. Die beiden kleinen heißen Ruggiero und Nicole, aber die gehen noch in den Kindergarten und zählen für unsere Geschichte nicht. Die drei, auf die es hier ankommt, sind zwölf, elf und zehn Jahre alt und werden in ganz Bärenklau nur Umbo, Tammi und Keks gerufen, sogar in der Schule. Ihre richtigen Namen wissen sie selber kaum noch. Wenn man schon amtlich Jan Franz, Jörg Fridolin und Jolanda Franziska heißen muss, ist man froh über jeden einigermaßen brauchbaren Spitznamen.“
Auf andere Weise spukt es auch im Harz, wie Bernd Wolff in seinem erstmals 1997 bei Jüttners Verlagsbuchhandlung Wernigerode erschienenen „Sagenspiegel des Harzes“ zu berichten weiß: Teufelsmauer, Roßtrappe, Hübichenstein, Brocken - so vielfältig wie die Landschaft des Harzgebirges sind seine Sagen, in denen sich Denken und Hoffen, Freude und Schrecken, Leid und Zuversicht widerspiegeln. Dieses Sagenbuch, in dem Bernd Wolff die alten Begebenheiten auf eigene poetische Weise und mit der nötigen Portion hintergründigen Humors nacherzählt, hilft dem Leser über das Vergnügen am Text hinaus, die mündlichen Überlieferungen in ihrem historischen Zusammenhang zu begreifen. Dazu werden auch mitunter schriftliche Quellen herangezogen. Deshalb sind die Sagen nicht wie üblich nach Ortschaften, sondern nach Themenkreisen geordnet. Hüttenkobolde und Zwerge, Götter und Riesen, Hexen und der in diesen Bergen besonders präsente Teufel, Bergleute, Schatzsucher, Reiche, Arme und Geprellte sowie gruselige Nachtgeister bevölkern die Seiten. Jedes der übergeordneten Kapitel wird eingeleitet durch ein Zitat aus Goethes „Faust“, das zeigt, wie dieses Nationalepos unserem Gebirge besonders verbunden ist. So stellt sich unschwer die Verbindung von Volksdichtung und klassischer deutscher Literatur her, die beide aus einem Born geschöpft sind.
Und hier eine kleine, sagenhafte Kostprobe: „Wie Wasser in den Vertiefungen der Wege, so sammelten sich im Harz die Sagen vor allem nach überstandener Unbill - fast hätte man Schaden genommen, woran lag es? Fast wäre einem das Gold über den Weg gerollt - warum nur passierte es nicht, wo man Furcht und Beschwörungen auf sich genommen hatte? Den Nachbarn hatte es getroffen - womit hat er sein Glück verwirkt? Im Harz war das Leben besonders hart, lagen die Siedlungen weitauseinander, Wälder voller Geheimnisse, in denen noch der Königsbann galt. Besonders verwegene Kerle hausten im Schutz der Schluchten: Vogelfreie, denen kein Gesetz heilig war, Räuber und Wegelagerer, Wilddiebe auf der Fährte des königlichen Hirsches, Finkenhanse mit Netz und Leimrute, Erzscharrer mit Schlegel und Kratze, Heiden, die dem alten Glauben anhingen. Wehe dem, der ohne sicheres Geleit die alten Pfade zog, die Heerstraßen, die Königswege durch Wildnis und Furten! Wehe, wenn er an eine Räuberburg kam statt zur einsamen Klause und Zelle, wenn er ins Elend geriet!
Auf der Höhe orgelt der Sturm. Unten zur Harzkante hin lauscht alles atemlos, aneinander gefasst; droben bricht in wilder Wut das Wetter über kahle Kuppen her, faucht durch Wipfel, reißt Äste zu Boden, stürzt Stämme um, poltert Steine steile Hänge hinab. Am nächsten Morgen schimmern alle Berge weiß, als habe sich die Schleppe eines weiten Mantels darüber verfangen. Nach solchen Nächten wusste man zu sagen, der Wilde Jäger sei über den Harz getobt, Wotan, der Wütende, in all dem Fauchen und Donnern habe man Stimmen vernommen, Hetzlaute, Jiffen, Tutursels Ruf. Im weißen Umhang, im roten Umhang, wenn blutend die Sonne aufging, sei er dahergefegt, dem im rasenden Gewölk sich verbergenden Gold-Eber hinternach, auf Sleipnir, dem achtfüßigen Schimmel Schleifer, der alle Kuppen rundschleift.
Frau Holle, auch Harke, in seinem Gefolge, Hüterin des Totenreiches, wehe, wer ihr ins Angesicht schaut! Sie wird ihm zeigen, was eine Harke ist. Zur Wintersonnwend, in zwölf heiligen Nächten, braust die Wilde Jagd daher; wer es wagt, ihr zu trotzen, wird überrannt, mit stinkender Pferdelende beworfen, ein Jahr lang anhaftend, dass man aussätzig ist und gemieden. Furcht vor Naturgewalten, lebendig in dunklen Stuben voller Qualm. Der rauschige Eber der Dezembernächtem, das Pferdeopfer auf hoher Klippe kehren in heimlich weitergeflüsterten Sagen wieder. Blut dampfte in der ovalen Vertiefung der Rosstrappe und taute das Eis an den Rändern, im Osten stieg Ostara, die Strahlende, über Berghänge und übersprang den Abgrund, ihre Lichtkrone erhellte die Tiefe, wo Schmelzwässer kochten und brodelten. Der dunkle Winterschlag schlug als Graupelwetter und Hagelwolke zu Grund und verwandelte sich in den schwarzen Hund. In den Sagen mischten sich Bruchstücke verwehter Mythen mit der neuen Lehre, noch entzündete man Jahr für Jahr Osterfeuer auf den Höhen, noch ging man schweigend Osterwasser, das heilige wiedererweckte wiedererweckende Lebenswasser, zu schöpfen. Wer schweigt, hört auf die Stimmen der Bäche.
Doch der Brocken - wer war schon auf dem Brocken? Ganz Verwegene, die sich bis in die Nähe vorkämpften, fanden Bäume mit verdrehten Ästen und zottigen Flechtenbärten, fanden hingepolterte Granitblöcke, als hätten Riesen damit gewürfelt, gerieten in tückisches Moor oder waren unversehens von Schwaden ziehender Nebelhexen umgeben, die einen kichernd in die Irre führten, und wen es besonders schlimm traf, den glotzte mit gesenkten Hörnern und rotunterlaufenen Lichtern ein Auerochs aus dem Dickicht an, ein Ur, ein Herr Urian. Aber die klaren Granitgrusbäche glitzerten und glimmerten wie Gold, in den Moorlöchern stand rostig schillernd die Lache, die Eisen verhieß; immer wieder galt es die Angst zu überwinden, stets lockte das Abenteuer.
In den Tälern dagegen wuchsen Ortschaften - die Enge der Gassen, in denen man sich kannte und doch nicht kannte, Geflüstertes und Weitergeflüstertes: droben auf den Schlössern, fern vorm Tor, nachts auf dem Markt... Unerklärliches, jemand war mit dickem Kopf gestorben, wer hatte wen umgebracht, dort und dort ging es nachts um. Fremde tauchten auf, verständigten sich mit geheimen Zeichen, wer ihnen nachschlich, kam nach Jahren verändert aus ferner Gegend wieder. Die Reichtümer der Tiefen zerrten an einem, das Dunkel des Bergwerks, in dem die Unschlittfunzel nur ein paar Schritte reichte, was war dahinter? Abends, in den flackernden Räumen beisammen. Sagen. Weitersagen. Sagen.“
Also, worauf warten Sie noch? Sagen. Weitersagen. Sagen.