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Wo liegt eigentlich Werchojansk? - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 28. 07. 2017) Kennen Sie eigentlich Werchojansk? Oder waren Sie vielleicht sogar schon mal da? Wahrscheinlich nicht. Denn erstens ist es öde. Und zweitens liegt es sowohl räumlich als auch zeitlich in der Zukunft, auch wenn das Buch „Die Marsfrau“ von Alexander Kröger das erste Mal 1980 erschien. Ein gewisser Matthias Reim bekommt überraschend einen unerwarteten Auftrag und wird später sogar zum Mars fliegen. „Die Marsfrau“ ist einer der fünf Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de eine Woche lang (Freitag, 28.07.17 – Freitag, 04.08.17) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind.

 

Die anderen vier Angebote spielen nicht so weit in der Zukunft, sondern in einer mehr oder weiter zurückliegenden Vergangenheit. Am weitesten von unserer Gegenwart entfernt handelt der Roman „Der Tanz von Avignon“ von Renate Krüger, in dem sich die Autorin mit Leben und Werk des berühmten Malers Hans Holbein dem Jüngeren auseinandersetzt. Schon etwas näher an Heute heran rückt Jurij Koch mit „Bagola“, in dem er vom Schicksal eines lange Zeit erfolglos gejagten Wilddiebes erzählt. Den realen Hintergrund für „Das Steingesicht von Oedeleck“ bildet das Grubenunglück von Lengede, das sich am 24. Oktober 1963 auf dem Gemeindegebiet von Lengede im der Ilseder Hütte gehörenden Eisenerzbergwerk Lengede-Broistedt in der Bundesrepublik ereignete. An diesem Tage brach dort der Klärteich 12 ein, rund eine halbe Million Kubikmeter Schlammwasser drang in die Grube ein und überflutete die Stollen zwischen den 100- und 60- Meter-Sohlen. Zu jener Zeit befanden sich 128 Bergleute und ein Monteur der Mittagsschicht unter Tage. In den ersten Stunden nach dem Unglück konnten sich 79 von ihnen über Wetterbohrlöcher und Schächte in Sicherheit bringen. Für die übrigen 50 schien es keine Hoffnung mehr zu geben, bis 23 Stunden nach dem Unglück dann doch noch sieben Bergleute geborgen werden konnten. In einer der größten und spektakulärsten Rettungsaktionen in der Geschichte des Bergbaus weltweit wurde daraufhin weiter fieberhaft nach Überlebenden gesucht. Drei von ihnen konnten dann am ersten November aus einer Lufttasche geborgen werden. Weitere zwei Tage später gelang es Bergungsteams, Kontakt mit elf Eingeschlossenen aufzunehmen. Das zum Teil bereits abtransportiere Bergungsgerät wurde umgehend zurückgeordert, und es wurde mit neuen Bohrungen begonnen. Am 7. November schließlich konnten die elf Bergleute aus dem dunklen Grab befreit werden, in das sie 336 Stunden eingeschlossen waren. Für 29 ihrer Kumpels gab es keine Rettung. Die kaum noch für möglich gehaltene Rettung elf eingeschlossener Bergleute nach 14 Tagen ging als „Wunder von Lengede“ in die Geschichte ein. „Das Steingesicht von Oedeleck“ von Wolfgang Held ist gewissermaßen die „ostdeutsche Antwort auf Lengede“, wie es jemand in einem Internet-Forum der „Grubenarchäologischen Gesellschaft“ (GAG) bezeichnete. Nur ein paar Jahre nach diesem Grubenunglück spielt der letzte der heutigen Deals. Diesmal geht es auf eine weite Reise und zwar nach Kuba. Die Fahrt dorthin hält allerdings zumindest für den Ich-Erzähler, der wohl mit dem Autor Heinz Kruschel identisch sein dürfte, ein paar ziemlich unangenehme Hindernisse bereit. Er ist eben kein Seemann … und auch kein, das sei hier der Vollständigkeit hinzugefügt, auch kein Bordhund.

 

Erstmals 1966 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Das Steingesicht von Oedeleck“ von Wolfgang Held: Den 12-jährigen Rolf, Sohn des Bergarbeiters Erich Freitag, und den gleichaltrigen Jürgen, Sohn des Zechendirektors Brecher, verbindet seit der 1. Klasse eine tiefe Freundschaft. Diese steht vor einer harten Bewährungsprobe, als der alte Schlämmteich im Schacht verschwindet und 49 Kumpel nach dem Wassereinbruch nicht mehr nach oben kommen. Nach der Rettung einiger weniger Eingeschlossener werden Stimmen laut, die die Grubenleitung anklagen, von dem drohenden Wassereinbruch gewusst und nichts unternommen zu haben. Viel zu schnell wird die Suche nach weiteren Eingeschlossenen aufgegeben. Rolf kann und will nicht glauben, dass sein Vater tot ist. Tumultartig löst sich die eilig anberaumte Trauerfeier auf, als Klopfsignale aus dem „Alten Mann“, einem vor längerer Zeit stillgelegten Schacht, vernommen werden. Können die Bergleute gerettet werden, wird Rolf seinen Vater wiedersehen? Das vor nunmehr einem halben Jahrhundert erstmals veröffentlichte Buch fesselt in seiner atemberaubenden Spannung Kinder ab 12 Jahre, aber auch Erwachsene. Einen ersten Eindruck davon vermittelt der folgende Ausschnitt aus dem „Steingesicht von Oedeleck“.

 

„Angestrengt schauten die beiden Freunde zu der seltsamen Erscheinung hinüber. Jürgen nagte wieder an seiner Unterlippe, und in seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Hatte Steingesicht die Hand im Spiel? Unsinn, Geister gehören in Märchen und Spukgeschichten. Das Drehloch dort aber war Wirklichkeit. Und wie kam so etwas zustande? Also zuerst einmal musste dazu eine Strömung vorhanden sein. Aber der Teich besaß weder einen Abfluss noch einen Zufluss. Trotzdem hatte Jürgen selbst den Sog gespürt. Ein Rätsel? Jürgen zog die Stirn kraus. Für jedes Rätsel gibt es eine Lösung, man muss sie nur finden! Also beispielsweise könnte der Teich ...

 

„Mensch, Jürgen, er versinkt!“, stieß Rolf hervor. Beinahe gleichzeitig fanden die beiden Freunde die einzig mögliche Erklärung. Was Jürgen durch Überlegung erkannte, wurde Rolf durch scharfes Beobachten bewusst. Soeben hatte der Bergarbeitersohn die entscheidende Entdeckung gemacht: „Sieh mal die Uferkante an. Das Wasser fällt ... Dort drüben unter dem Drehloch muss der Teich in die Erde fließen!“ „Genau!“, bestätigte Jürgen, doch er hatte das Wort kaum ausgesprochen, da trieb ihm der Schreck auch schon das Blut aus dem Gesicht. Leise war seine Stimme und voller Angst, als er stockend weitersprach: „Du, das Wasser ... der ganze Teich ... Bestimmt fließt es hinunter in die Stollen ...“ Die Vorstellung dieses Geschehens schnürte ihm die Kehle zu. Vati! durchzuckte es Rolf. Ihm war, als berühre ihn eine eiskalte Hand. In seinen Ohren klangen Worte des Vaters. Rolf hatte sie vor Monaten schon aus einem Gespräch seiner Eltern aufgefangen. Damals hatte er sie nicht verstanden und bald wieder vergessen. Jetzt begriff er den schrecklichen Sinn dieser Sätze: Im Einsturzstollen tropft es aus dem Gebirge wie zehn undichte Wasserhähne. Wenn nicht bald etwas geschieht, bricht der Teich mal durch, und wir ersaufen dort unten wie die Ratten! In diesem Augenblick erzitterte die Luft vom Aufheulen der Grubensirene. Weithin gellte es in die Landschaft: Alarm ... Alarm ... Alarm!

Die drei Männer im Querschlagvortrieb der Hundertmetersohle arbeiteten mit zusammengebissenen Zähnen. Ihre nackten Oberkörper schimmerten im Licht der starken Grubenlampe wie Bronze. Es war heiß hier unten, drückend heiß. Die Frischluft, die von mächtigen Pumpen durch ein verzweigtes Leitungsnetz bis in den letzten Winkel des Schachtes gepresst wurde, schaffte nur wenig Linderung. Das allein aber hätte den drei Männern kaum die Lippen für jedes Wort geschlossen. Zimperlinge wählen nicht den Bergmannsberuf. Zu der Hitze kam der Lärm. Die Felswände warfen das Rattern des Pressluftbohrers dutzendfach zurück, jeden anderen Laut erstickend. Und zu dem Lärm kam der graue Steinstaub. Wie eine zweite Haut klebte er an den Männern, die zu einer neuen Erzschicht vordrangen.

Erich Freitag, dessen Fäuste den zuckenden und schüttelnden Bohrer fest umklammerten, der Oberschlesier Otto Kaminsky und der Junghauer Hans Luck aus dem Ruhrgebiet, die das bereits abgesprengte Gestein in eine Kipplore füllten - sie waren nur drei von einhundertneunundzwanzig Bergleuten, die um diese Stunde tief unter dem Tageslicht Eisenerz aus dem unterirdischen Gebirge brachen, tunnelartige Stollen mit hölzernen Stempeln gegen Einsturz sicherten oder die Loren zwischen Förderschacht und Abbaustellen hin und her dirigierten. Noch ahnte keiner von ihnen, dass diese Schicht nicht wie all die anderen enden würde.

Plötzlich verebbte das Geratter des Pressluftbohrers. Vorsichtig zog Erich Freitag den Bohrstahl aus dem Loch. Es war jetzt tief genug, um die nächste Sprengladung aufzunehmen. Rolfs Vater dehnte die kräftigen Schultern. „Vesperzeit!“ Sie gingen ein Stück zurück, dorthin, wo sie ihre Beutel hängen hatten, und hockten sich nebeneinander auf ein paar an der Seite liegende Stempelhölzer. Der untersetzte, bärenhaft wirkende Oberschlesier wickelte bedächtig seine Schnitten aus, bog die erste auseinander und schnupperte am Aufstrich. Landleberwurst. Kaminsky nickte zufrieden. Dabei konnten sich Erich Freitag und Hans Luck nicht erinnern, dass ihr Kumpel je etwas anderes auf seinem Vesperbrot gehabt hatte. Wie alle Menschen, die schwer arbeiten, aßen sie ohne Hast. Erich Freitag und Hans Luck sprachen über ein Fußballspiel, das am kommenden Wochenende auf dem Oedelecker Sportplatz stattfinden sollte. Sie hatten unterschiedliche Meinungen über die Aussichten der heimischen Mannschaft. Hans Luck hielt nicht viel von der Elf aus Oedeleck. Erich Freitag hingegen ereiferte sich. „Das kommt, weil du nicht hier aufgewachsen bist“, sagte er verärgert. Nach einem langen Schluck aus der Kaffeeflasche wischte er sich über den Mund und sah herausfordernd zu Kaminsky hin. „Nun sag du mal als Unparteiischer: Sind unsere Jungen nicht gut für ein 2:0?“ Kaminsky brummte etwas, das ebenso gut Zustimmung wie Einspruch sein konnte. „Na bitte!“, triumphierte Erich Freitag. „Meine Rede!“, behauptete Hans Luck. Die beiden starrten sich einen Augenblick lang verdutzt an, dann wanderten ihre Blicke zu Kaminsky, der gerade andächtig seine zweite Klappschnitte einer Geruchsprobe unterzog. Verwirrt schaute er auf, als ihn Hans Luck anfuhr: „Was nun, gut oder nicht gut?“ Der Oberschlesier begriff nicht gleich. Ratlos musterte er erst Erich Freitag, dann den Junghauer und schließlich seine Vesperschnitte. Plötzlich zog ein breites Grinsen in sein Gesicht. „Gut, natürlich!“, sagte er heiter und sehr entschieden. „Solche hat's nur beim Hausschlächter!“ Der junge Kumpel schnappte nach Luft. Es waren gewiss keine freundlichen Worte, zu denen er ansetzte, aber Erich Freitags Lachen kam schneller. „Ich glaube ...“, begann er vergnügt, doch er brachte den Satz nicht zu Ende.

Auch den beiden anderen stockte der Atem. Steif saßen sie jetzt, stumm und lauschend. Da war ein Geräusch, das nicht in den Schacht gehörte, ein dumpfes Brausen, das deutlich anschwoll. Kaminsky achtete nicht darauf, dass ihm die Vesperbrote vom Schoß glitten. Jeder Muskel in seinem Gesicht war gespannt. „Wasser?!“ „Der Teich!“ Erich Freitag sprang auf. „Los, wir müssen raus!“ Jetzt begriff der Oberschlesier sofort. Er griff nach seinem Beutel, riss die Jacke vom Haken und rannte los. Der Junghauer stand wie versteinert. Seine Augen waren groß und voller Angst. Er hatte es nie glauben wollen, wenn die anderen davon sprachen. Wenn es diese Gefahr wirklich gab, dann hätte doch die Leitung der Grube längst etwas dagegen getan, hatte er gedacht. Hunderttausende von Kubikmetern Wasser und Schlamm – das kann nicht wahr sein! Das wäre ja ein Verbrechen! Bestimmt sind sie irgendwo beim Bohren auf eine unterirdische Wasserader gestoßen. Wozu gab es Pumpen? Man wird das Loch verstopfen und fertig ...

„Willst du verrecken, verdammt noch mal?“ Erich Freitag kam noch einmal zurück und packte den Junghauer unsanft am Arm. „Mach jetzt nicht schlapp!“

 

1988 brachte Jurij Koch beim Altberliner Verlag „Bagola. Die Geschichte eines Wilddiebs“ heraus: Am Ende des 19.Jahrhunderts macht ein Wilddieb die Wälder der Niederlausitz unsicher. Es ist Bagola, der von der Polizei seit Jahren gesuchte Bauer aus Drachhausen, der seine arme Familie heimlich mit Wildfleisch aus gräflichem Forst versorgt. Der Polizist Bismarck, der dem Gesuchten, auf dessen Kopf viel Geld ausgesetzt ist, nachstellt, wird von Bagola mit List und Bauernschläue an der Nase herumgeführt. Den einfachen Leuten sind die Streiche des wildernden Rebells, mit denen er sich seinen Anteil aus Gottes Natur „gesetzwidrig“ holt, sympathisch. Doch das ausgesetzte „Kopfgeld“, das ein naher Verwandter als Anfangskapital für ein Sägewerk braucht, führt schließlich zum Verrat. Der gesuchte Widerständler will sich der drohenden Verhaftung entziehen, indem er sich Auswanderern nach Nordamerika anschließt. Doch die Flucht wird vereitelt. Bagola fällt durch die Kugel seines geldgierigen Cousins.

 

Und so beginnt dieses spannende Buch: „Huuuhaaa! Bagola horchte. Seine Stimme flog über die Heide. Wie sich die Silben ausbreiteten. Zwischen Fichten und Kiefern und Birken und Eichen und Buchen. Immer weiter, bis sie sich hinter Turnow verloren. Dort war die Heide unterbrochen. Die Straße aus Lieberose durchquerte sie. Aber hinter ihr begann sie wieder. Wieder breit und dicht und weit. Die herrliche Heide. Der herrliche Wald. Kräftige Bäume. Riesenbäume. Darunter Gras, Sträucher, Beeren. Pilze natürlich. Und Wild. Rehe, Hasen, Hirsche... Rebhühner und Fasane. Die ganze große Natur. Manchmal waren in der Heide Jäger. Grüne oder rote oder blaue Männer mit Gewehren. Die Gräflichen. Die des Herrn von Wackerbarth in roten Röcken, die des von Lynar in grünen, die des von Brühlow in gelben... Und die, die keine Röcke trugen, waren wilde Jäger. Diebe. Wilddiebe. Gefährliche Kerle. Strolche. Taugenichtse. Räuber. Mit selbstgebauten Flinten. Fremdlinge, die in den Wäldern nichts zu suchen hatten. Abenteurer, die gern schossen. Auf gräfliches Wild. Die gern Fleisch aßen. Fremdes Rehfleisch.

„...gegen den Arbeiter Mathes Kamenka zu Stradow wegen unberechtigten Jagens. Der Angeklagte hatte im März 1879 an Orten, an denen er zu jagen nicht berechtigt war, die Jagd ausgeübt und dabei einen Hasen gefangen, den er dann beim Bäckermeister Hermann Protz zu Vetschau zum Verkauf angeboten hatte. Der Angeklagte gesteht zu, die Berechtigung nicht gehabt zu haben, behauptet jedoch, dass er den Hasen frei und schlingenlos im offenen Felde gefunden habe, der voller Schmutz und bereits stinkend gewesen sei. Der Angeklagte wurde zu drei Wochen Gefängnis verurteilt.“

„Cottbuser Anzeiger“, 29.1. 1880

Fritz Bagola stand da, als ginge ihm etwas Außergewöhnliches durch den Kopf. Er schaute sich um. Ein schmaler Weg führte ins Dorf. Zerfahren. Zermahlen. Mehlsand. Zu beiden Seiten Häuser. Aus Holz. Niedrig. Hütten. Gehöfte. Mit etwas Kleinvieh in den Ställen. Bagolas Frau schaute aus dem Tor. Das Abendbrot, sagte sie. Er hob den Kopf, als erwachte er aus einem Traum. Ich komme, sagte er und blieb stehen. Der Hund bellte. Auch in einem der Nachbargehöfte bellte der Hund. Bagola wäre gern noch ein Weilchen stehen geblieben. Gern hätte er noch einmal in den Wald gerufen und den fliehenden Silben nachgehorcht. Sie waren freier als er. Sie konnten über die Heide dahinfahren. Bis zur Turnower Straße. Und weiter. Und kein grüner, kein roter, kein gelber Jäger fragte sie, wohin sie wollten und was sie im Walde suchten.

Am Tisch sitzend, stierte er auf den Brotlaib, in den Teller mit Mehlsuppe, die seine Frau kochen konnte. Und er schaute seinen Kindern in die Augen, dem zehnjährigen Mato, der achtjährigen Lisa. Die Kinder durften die Mehlsuppe mit Zucker essen. Über jeden Löffel, der sich von ihren Tellern hob, freute er sich. Bagola zählte sie. Für sich zählte er die Löffel, die die Kinder zu sich nahmen. Was ist? fragte die Frau. Nichts. Seine Frau hieß Anna. Eine blasse schmächtige Frau, die gut kochen konnte. Aus wenig viel. Und es schmeckte. Aber für die Arbeit war sie nicht geschaffen. Ihr Fleiß konnte die Schwäche ihrer Glieder nicht ausgleichen. Sie arbeitete so gut sie konnte. Im Haus, im Stall, im Wald, in der Küche. Aber oft musste sie ausruhen. Sie atmete schwer. Rang nach Luft. Dann kehrte eine schwache Röte in ihr Gesicht zurück, und sie stand auf und arbeitete weiter. Bis zur nächsten Pause. Bagola warf ihr ihre Schwäche nicht vor. Er kannte sie aus der Kindheit. Aus der Schule. Aus der Zeit der Jugend. Jeder wusste, dass Anna nicht gesund war. Die blasse Gussors Anna. Er hatte sie genommen. Wie sie war. Die Alten sagten, dass sich die Krankheit in der Ehe geben würde. Dass ihr ein Mann fehle. Dass mit den Kindern alles herauskäme. Nun sagte er endlich, was mit ihm war. Mehlsuppe, sagte er. Immer nur Mehlsuppe. Ich möchte Fleisch. Und die Kinder brauchen Fleisch.

Sie drehten sich zu ihm und wussten nicht, ob er schimpfte. Ein solcher Vorwurf wäre unberechtigt gewesen. Fleisch gab es an Feiertagen. Wochentags niemals. Nur in den Städten aßen sie Fleisch an Wochentagen. In den Hotels. Und der Kaiser in Berlin. Was soll ich machen! seufzte Anna. Sie fühlte sich getadelt. Aus Mehl und Hirse und Kartoffeln war kein Braten zu machen. Ich tu, was ich kann. Ich weiß, versuchte sie Bagola zu beruhigen. Mich ärgert nur, dass uns Hasen auf dem Hof besuchen. Und wir schauen zu, wie sie wieder fliehen. Und Rehe trinken aus unseren Eimern. Mato hatte seinen Teller geschafft. Nun wollte er wissen, wie sich der Vater den Hasenfang vorstellte. In der Nacht ist der Hof geöffnet, am Morgen geschlossen: Was gefangen ist, kommt in die Pfanne. Das ist verboten, sagte Lisa. Der Lehrer ... Der Lehrer hat nichts zu bestimmen, was auf unserem Hof geschieht, erwiderte Bagola. In der ersten Nacht fingen sie nichts. In der zweiten nichts. Dann entdeckte Mato, dass nicht alle Löcher im Zaun verstopft waren. Sie warteten weiter. Bis sie einen Hasen fingen. Hasenbraten, welch ein Fest!

Ein Läufchen nahm Bagola zur Arbeit mit. An die Bahnstrecke, die wenige Jahre zuvor von Cottbus nach Frankfurt gebaut worden war, aber nicht vollendet. Für die schweren Nachfolgearbeiten wurden starke Männer gebraucht, die mit Hacken und Schaufeln umgehen konnten. An heißen Tagen, wenn die Sonne brannte. Auf Steine und Eisen, auf Schmierfett, auf braune Rücken. In den Pausen wickelten die Männer ihre Brote aus. Und schauten zu den Nachbarn: Was hast du drauf? Bagola hat Fleisch! rief Wilhelm Woitowy. Der längste unter ihnen. Mit gekräuseltem Haar. Großmaul. Alle Klatschgeschichten der Umgebung kannte er. Und er wusste sofort, dass Bagola in seinem Garten große Tongefäße mit Fleisch und Fett vergraben hält, dass er zum Kommando der gefürchteten Wilddiebe aus Drachhausen gehört. Und er, Woitowy, habe erfahren, dass Bagola ihr heimlicher Anführer wäre. Räuberhauptmann der Wilddiebe. Einige lachten. Einige nicht. Woitowy hatte nichts Besonderes gesagt. Nichts zum Lachen vor allem. Jeder wusste, dass es unter den Drachhausener Männern Wilddiebe gab. Wer kannte sie! Wer kannte sie nicht! Sie zogen nachts auf Jagd. Sie konnten besser schießen als Preußens Soldaten. Sie bauten sich ihre Flinten. Ihr selbstgemachtes Pulver war besser als Marschall Moltkes. Drachhausener Wilddiebe hatte noch niemand gesehen. Jeder kannte sie. Seltsam. Aber wahr. Viele hatten Angst, ihnen eines Tages zu begegnen. Wer weiß. Und dieser Fritz Bagola gehörte nicht zu ihnen? Wenn er freitags Hasenbraten aß? Auf Eisenbahnschienen sitzend, die nach Frankfurt führten?“

 

Aus dem vergangenen, fernen 19. Jahrhundert in die ferne Zukunft geht es in dem Science-Fiction-Roman „Die Marsfrau“ von Alexander Kröger. Dieses Buch war erstmals 1980 im Verlag Neues Leben Berlin als Band 161 der Reihe „Spannend erzählt“ erschienen. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2003 im Verlag KRÖGER-Vertrieb Cottbus herausgekommen war: Sylvester Reim, jüngster Mitarbeiter am Institut für resistente Flora, ist einem Geheimnis auf der Spur. Es geht um die Faunella, jene Alge, die es Haustieren ermöglichen soll, durch in der Haut abgelagertes Chlorophyll die Energie des Sonnenlichts zu nutzen. Warum jedoch wurden die Versuche mit der Faunella-Alge vor einigen Jahren abrupt beendet? Hat dieser Abbruch der Experimente etwas mit dem Unfall der Biologin Anne Müller auf dem Mars zu tun? Und weshalb hat der Genoperateur Allan Nagy damals gekündigt? Am Institut erfährt Sylvester darüber nur wenig. Er sucht Allan Nagy auf, aber auch der schweigt sich aus. Sylvester ahnt nicht, dass er wenig später zusammen mit ihm zum Mars fliegen wird, als dort zwei Wissenschaftler eine sensationelle Entdeckung gemacht haben. Eine spannende Handlung in einem Science Fiction-Roman aus dem Jahre 1980 in der überarbeiteten Fassung von 2003 mit dem Hintergrund künftiger moralisch-ethischer Probleme, die unweigerlich auf die Menschheit zukommen. Wagen wir jetzt einen Blick in die Zukunft und begleiten wir Sylvester Reim – Sylvester Reim, nicht Matthias Reim – zu einem wichtigen Gespräch.

 

„Ohne Einleitung sagte Ramona-Ros Müller, nachdem sie Platz genommen hatten: „Mit Erg habe ich gesprochen. Er ist meiner Meinung.“ ,Kunststück’, dachte Sylvester. „Wir bitten dich, nach Abschluss eurer jetzt laufenden Serie die Faunella-Liveversuche mit vorzubereiten.“ Sylvester blieb unklar, warum ein so sachlicher Satz mit einer Art Begeisterung hervorgebracht wurde. Ramona-Ros sprach nicht weiter, sondern blickte erwartungsvoll auf Sylvester, als wünschte sie, dass er sofort etwas Bedeutungsvolles, vor allem aber vorbehaltlos Zustimmendes von sich gäbe.

Dessen Überraschung war perfekt. Er sagte zunächst gar nichts. Die Faunella! Meine Güte, welche Spekulationen und Gerüchte gab es um diese Alge. Nur drei Mitarbeiter unter persönlicher Anleitung der Alten befassten sich seit einem Jahr wieder damit, bei strenger Informationssperre. Und ausgerechnet er - als junger, unerfahrener Kollege, wie er sich selbst einschätzte - sollte da mitwirken! Natürlich würde er das Angebot annehmen. Aber wie waren die ausgerechnet auf ihn gekommen?

Als er schwieg, sagte Ramona-Ros: „Wir meinen, dass du das notwendige Organisationstalent hast. Wir brauchen - ja, so weit ist es - fügte sie erklärend hinzu, vielleicht auf sein verdutztes Gesicht hin, „zunächst eine große Zahl von Versuchstieren. Die gilt es als Erstes zu besorgen. Denk nicht, dass das einfach ist. Du bist da unbefangen - auch ein Grund, weshalb unsere Wahl auf dich fiel. Also - du bist doch einverstanden?“ Sylvester beeilte sich, dem zuzustimmen, ohne sich der Tragweite dieser Aufgabe bewusst zu sein. Tiere besorgen, na und? Konnten sie nicht einfach welche anfordern?

„Die Marowa wird dich näher einweisen. Sie wird auch deine unmittelbare Partnerin sein, die Gruppenleiterin. Na, auf gutes Gelingen und – gute Zusammenarbeit!“ Die Alte lächelte und hob eins der beiden Gläser, die sie während des Gesprächs gefüllt hatte. Ein alkoholisches Getränk! Trinkalkohol im Institut, Sylvester erinnerte sich nicht, das jemals in den drei Jahren seiner Tätigkeit erlebt zu haben. „Und sieh zu, dass keine Panne eintritt“, sagte Ramona-Ros zu betont obenhin. Sylvester wurde hellhörig. Sollte an den Geschichten doch etwas sein? Nur noch wenige Leute gab es im Institut, die vor einem knappen Jahrzehnt auch schon hier gearbeitet hatten. Wer schon hält es in diesem öden Werchojansk länger als fünf Jahre aus! Keine zentrale Klimaregelung, kein Transitanschluss, dafür drei Viertel des Jahres schlechtes Wetter. Unverfälschter Kältepol, na schön. Was ist heute noch unverfälscht! Also, einen, der damals an der Faunella gearbeitet hatte, gab es hier offenbar nicht mehr.

Als hätte sie seine Gedanken erraten, fuhr die Alte fort: „Du hast sicher gehört, dass vor Jahren bereits einmal solche Versuche stattfanden ... Ich bin mir mit der Institutsleitung einig, dass wir neu beginnen, mit neuen Leuten. Das ist die Marowa mit ihrer Gruppe. Sie sollen - zunächst - keine Kenntnis von den alten Unterlagen haben. Jede unbewusste Beeinflussung wird so vermieden. Bei dem vorerst verhältnismäßig geringen Aufwand können wir uns das leisten.“ Sie lächelte wie verlegen, entschuldigend. Und sie fügte – wohl angesichts seines Stirnrunzelns - hinzu: „Dir unverständlich?“ ,In der Tat, ziemlich töricht’, dachte Sylvester, ,albern oder beinahe mystisch. Auf jeden Fall äußerst unwirtschaftlich. Aber wenn sie das verantworten konnten?’ Er ahnte, dass mehr dahinter steckte, als aus Ramona-Ros’ Worten offenkundig wurde. „Mir liegt sehr viel daran, dass es dieses Mal keinen Fehlschlag gibt, verstehst du?“, ergänzte Ramona-Ros leise. Fehlschläge? Was sollte dieses Gerede? Wenn man sich in eine Sackgasse verrennt, kehrt man eben um, geht einen anderen Weg. Nur ein Blödian beschreitet wieder den alten.

„Wird schon nicht“, gab Sylvester lakonisch zurück. Es wurde ihm peinlich, dass er nichts Konstruktives zu sagen wusste. Er hatte den Eindruck, dass er eine ziemlich traurige Figur abgab. Ramona-Ros hob abermals das Glas, sah auf ihn mit einem wohlwollendmütterlichen Blick und lächelte. ,Wie alt sie ist’, dachte Sylvester. Und in welch krassem Gegensatz stand ihre Erscheinung zu ihrem Vornamen, der stets in den Spötteleien eine Rolle spielte und den Sylvester nicht nur deshalb lächerlich fand, weil er antiquiert war. Er bemühte sich, unter den vielen Fältchen des Gesichts ein Antlitz, ein Mädchenantlitz hervorzuzaubern, auf das der Name Ramona-Ros zutraf. Einen Augenblick gelang ihm die Vision: Das Knochige schwand, machte geröteten Wangen Platz, die Haare hingen wirr gelockt herab und rahmten das Gesicht. Und die Augen passten da hinein, dieselben strahlenden Augen. Ja, das war eher eine Ramona-Ros. Aber wie lange mochte das her sein? Sylvester gab sich einen Ruck. ,Ob sie Kinder hat?’, dachte er noch, dann hob er ebenfalls sein Glas.“

 

1969 veröffentlichte Renate Krüger im Leipziger Prisma-Verlag Zenner und Gürchott „Der Tanz von Avignon“: Hans Holbein d. Jüngere (geb. um 1497 in Augsburg, gest. 1543 in London) war einer der bedeutendsten deutschen Maler aus der Zeit der Renaissance und des Humanismus, einer nachhaltigen Blütezeit der Kunst. Die Autorin hat aus dem Leben Holbeins jene Jahre ausgewählt, in denen der Maler nach neuen Wegen sucht, nicht nur in seiner Kunst, sondern auch im Alltag. Ein Buch, das eine kulturhistorische Zeitreise durch wichtige europäische Zentren wie Augsburg, Basel, Lyon, Avignon und London anbietet und somit zum Verständnis der Bilder Holbeins auf einprägsame Art beiträgt. Begeben wir uns also erneut auf eine Zeitreise, diesmal nicht auf den Mars, sondern in die Schweiz.

 

„Kein Wunder, dass die gute alte Zeit zerbrach. Die Bauern streiften ihre Geduld ab wie ein lästiges Kleid. Sie versammelten sich unter den Fahnen der Stürmer, deren Namen plötzlich überall bekannt wurden und Entscheidungen verlangten. In Franken zog Florian Geyer vor den Bauern her, in Thüringen gar ein abtrünniger Priester, Thomas Müntzer. Was half es schon, wenn das Haupt der Baseler Gelehrten, Erasmus von Rotterdam, den Hauptketzer in Wittenberg, Martin Luther, mit scharfen Worten angriff. Auch des Erasmus Gedanken waren nicht mehr auf die alte Ordnung gerichtet. Im benachbarten Zürich war diese Ordnung schon ganz zu Fall gekommen. Der Ketzerführer Ulrich Zwingli hatte die rechtgläubigen Priester verjagt. Die Ketzer hatten alle Kirchen der Stadt erobert. Und die Bürger? Die gingen weiterhin hinein, als sei nichts geschehen. Waren sie denn wirklich von allen Heiligen verlassen? Hingen auch die Baseler Räte dem neuen Glauben an? Er aber, Meyer zum Hasen, wollte standhaft bleiben. Gerade jetzt, da er sich so gedemütigt fühlte.

Er wollte mit seiner Familie unter den schützenden Mantel unser Lieben Frau flüchten. Alle sollten es sehen und ein Vorbild darin finden. Ein Bild wollte er malen lassen, so schön und fromm, dass seine Mitbürger sich daran erbauen konnten. Dem besten Maler der Stadt wollte er diesen Auftrag geben, dem jungen Augsburger Hans Holbein. Schon mehrfach hatte er ihm zu Diensten gestanden. Als Meyers Bote in Holbeins Werkstatt kam, legte der Maler sogleich sein Arbeitsgewand ab. „Warte ein wenig“, sagte er zu dem Diener, „du kannst mich in Herrn Meyers Haus begleiten.“ Er tröpfelte wohlriechende Essenzen ins Waschwasser, wie es die Franzosen machten. „Lege mir mein bestes Gewand bereit!“, befahl er seiner Frau. Lange war es her, seit er die steifen Gewänder zuletzt getragen hatte. Dennoch fühlte er sich sofort in ihnen heimisch. Ein Blick in den runden, gewölbten Spiegel: er war ein ansehnlicher Mann! Haupthaar und Bart waren wohl gepflegt, er hatte breite Schultern, und seine Haltung war aufrecht und stolz. Das Hemd war unter dem Hals zierlich gefältelt. Keine Falte hatte sich verschoben. Die Beinkleider saßen knapp und glänzten, und die Schuhe waren aus weichem Leder gefertigt.

So betrat er das Haus des ehemaligen Bürgermeisters. Es war zwar fest und dauerhaft gebaut, gehörte aber nicht gerade zu den prächtigsten Bauten Basels. Schmale Spitzbogen, engbrüstige Gewölbe und kleine Fenster - die alte Zeit! Eine schüchterne Magd führte den Maler in ein großes kühles Gemach. Jakob Meyer zum Hasen saß an einem runden Tisch, vor sich einen dickleibigen Folianten und einen mächtigen Weinhumpen. „Da seid Ihr ja“, sagte er. „Ich halte nichts mehr von Besuchern, aber auf Euch habe ich gewartet. Seid mir willkommen.“ Er holte einen zweiten Weinhumpen aus dem Schrank und füllte ihn. „Der Trunk stammt aus meinen eigenen Weinbergen.“ Holbein nickte anerkennend, nahm auf einem Scherenstuhl Platz und schlug ein Bein über das andere. „Schönes Wetter heute, nicht wahr, Meister Holbein?“ Holbein nickte. „Ja, auch in meiner Werkstatt ist es sehr hell.“ „Wart Ihr gestern beim großen Regen draußen?“ „Nein, ich gehe selten aus.“ Der Bürgermeister schwieg und trank Holbein zu. Als der erste Humpen geleert war, sagte er: „Weshalb ich Euch rufen ließ ... Ihr sollt mir ein Bild malen. Eine Schutzmantelmadonna, Ihr wisst schon, was ich meine.“ „Nein“, sagte Holbein. „Wie soll ich es Euch erklären? Eine Schutzmantelmadonna nicht für eine allgemeine Kirche oder Kapelle, sondern für mein eigenes Haus. Nicht Hinz und Kunz sollen unter dem Mantel der Madonna Schutz finden, sondern ich selbst, Meyer zum Hasen, dazu meine Familie, meine beiden Frauen, meine tote und meine lebende, und die Kinder natürlich. Versteht Ihr mich jetzt?“ „Hm“, brummte Holbein und betrachtete wohlgefällig die Wappenscheiben, mit denen die Fenster reich verziert waren, und die großen, bunt glasierten Kacheln, die zwischen den Fenstern hingen. Dann hob er den Humpen gegen das Licht und prägte sich das Spiel der Sonnenstrahlen auf dem Glas ein.

Dieser Auftrag behagte ihm nicht. Ja, wenn es nur um ein Bildnis ginge, aber eine Schutzmantelmadonna! Glaubte Meyer zum Hasen im Ernst an dieses Bild? Ja, wenn Holbein vor hundert Jahren gelebt hätte! Damals sah jeder ehrsame Maler seinen Ruhm darin, eine Schutzmantelmadonna zu malen. Damals pflegten vornehme Damen Hilfesuchende schützend unter ihren Mänteln zu bergen. Damals suchte man Hilfe und Schutz auch unter dem Mantel unser Lieben Frau. Man fand ihn, weil man an die Kraft des Mantels glaubte. Holbein glaubte nicht mehr an die Kraft des Mantels. Wie sollte er ihn malen, ihn schützend und stärkend über die Familie des Bürgermeisters ausbreiten! Wenn es noch allein um die Köpfe gegangen wäre! Meyer zum Hasen hatte einen sehr ausdrucksvollen Kopf, ein volles, fleischiges Gesicht. Er liebte reich gedeckte Tische und gefüllte Weinkannen. Er hatte einen schmalen, meist geschlossenen Mund und ein kräftiges Kinn, Meyer zum Hasen war kein Schwätzer. Eine große bäurische Nase, kleine misstrauische Augen. Aber die Madonna? „Kommt Euch mein Auftrag ungelegen, Meister Holbein?“ „Nein, Euer Gestrengen, ich fühle mich geehrt.“ Aber das Gewand, das er dem Bilde geben sollte, war allzu altertümlich. Wie stolz wäre der Vater gewesen, hätte er den Bürgermeister von Augsburg malen dürfen. Allerdings war dieser Vergleich nicht ganz richtig. In Basel standen nicht die Kaufleute im Vordergrund wie in Augsburg. Hier führten die Gelehrten das Wort. Und sie besaßen nicht die Reichtümer der Fugger und Welser. Eng und winkelig war die Stadt Basel. Eng und winkelig waren die Gedanken und Wünsche der meisten Einwohner. In aller Frühe begannen sie ihr ehrbares Handwerk. Pünktlich mit dem Mittagsläuten setzten sie sich zu Tisch. Abends dachten sie über ihre Arbeit nach. Wenn Gefahr drohte, flüchteten sie unter den Mantel unser Lieben Frau. Ja, so waren die Baseler ...

„Weshalb schweigt Ihr, Meister Holbein?“ „Ich bin kein Heiligenmaler, Euer Gestrengen. Mein Vater, ja, der malte noch Madonnen und Heilige. Sie waren sehr schön und sehr fromm ... Von weither kamen die Leute, um diese Heiligen zu sehen und zu ihnen zu beten. Natürlich habe ich auch gelernt, wie man Heilige malt. Während meiner Lehrzeit habe ich nur Heilige gemalt, monatelang, jahrelang. Aber jetzt?“ „Aber jetzt? Seid Ihr auch einer von denen, die lehren, dass der Mensch sich selbst vertrauen und sich selbst helfen muss? Dass die Heiligen zu weit weg sind, um sich in dieser Zeit noch zurechtzufinden? Lehrt Ihr solche Irrlehren, Meister Holbein? Ach, verfallt doch nicht dem Geschwätz entsprungener Mönche! Sagt, gibt es etwas Besseres, als die Mutter des Herrn und die lieben Heiligen zu malen? Ihr habt es doch gelernt.“ „Ja, gewiss, aber ...“ Meyer zum Hasen war noch immer ein mächtiger Mann in Basel. Es durfte nicht dazu kommen, dass er sich nach einem anderen Maler umsah. Holbein war zwar angesehen, aber es lebten auch noch andere Maler in Basel.

„Ich bin bereit, das gewünschte Bild für Euch zu malen. Darf es eine Madonna nach der Italiener Art sein? Eine schöne Frau voller Anmut und Liebreiz?“ „Bah, die Italiener ... Ich habe genug von ihnen. Und ihre Frauen schätze ich schon gar nicht!“ Meyer zum Hasen war nie in Italien gewesen. Der Feldzug nach Mailand war ja gescheitert. Die italienischen Frauen sollten allesamt Huren und Ehebrecherinnen sein. Er leerte sein Glas, ohne den Maler zum Mittrinken aufzufordern. „Bleibt mir mit den Italienern vom Halse, Holbein. Malt mir eine Madonna nach deutscher Art.“ Holbein nickte und seufzte so leise, dass es der Bürgermeister nicht hörte. „Übers Jahr will ich mein Bild haben, Meister Holbein! Über den Preis sprechen wir später.“´

 

Und zum Schluss des heutigen Newsletters müssen wir uns noch einmal mächtig beeilen, um aus dem Basel von Meister Holbein in das 20. Jahrhundert zu kommen, genauer gesagt in das Jahr 1967, als im Deutschen Militärverlag erstmals die Reisereportage „Winterreise in den Sommer“ von Heinz Kruschel erschien: 1966, sieben Jahre nach der kubanischen Revolution, reist Heinz Kruschel mit einem Fotografen nach Kuba. Nach einer stürmischen Seereise mit dem DDR-Schiff „Fichte“ gehen sie am 25. November in Havanna an Land. Kruschel besucht Bildungs- und Kultureinrichtungen, trifft sich mit Künstlern, Technikern und Politikern, lässt sich von einfachen Menschen die Lebensgeschichten erzählen, besucht das Hemingway-Museum. Die daraus entstandene Reportage von 1967 gibt ein interessantes – und wegen der vielen Einzelschicksale – auch spannend zu lesendes Bild der Anfangsjahre der kubanischen Revolution. Zunächst aber passieren noch ganz andere, ganz persönliche Revolten …

 

„Gegen Mittag sehen wir die dänische Küste, laufen in den Belt ein, und abends sagt der „Dritte“: „Macht alles fest, in fünf Stunden geht's los!“ In fünf Stunden. Ratschläge, Ratschläge. „Nicht soviel trinken, sonst schwabbelt’s im Bauch!“ - „Tüchtig Alkohol!“ - „Kein Alkohol!“ - „Krimis lesen, sich ablenken!“ - „Nicht daran denken!“ - „Keine Mayonnaise essen!“ - „Palavern, palavern!“ Nein, alle Ratschläge lassen sich nicht befolgen.

In fünf Stunden geht’s los. Ich wünschte, wir könnten das ganze Tiefdruckgebiet verschlafen, aufwachen bei glatter See und Sonnenschein. Ein Wunsch, wie man ihn in der Schule hatte: Wenn doch bloß alles vorbei wäre. Am nächsten Morgen ist das Meer zwar mit feinen Schaumköpfen bedeckt und der Himmel bezogen, aber wir sind munter auf den Beinen und unterhalten uns mit dem Kapitän, der Hein Meyer heißt, dreiunddreißig Jahre alt ist und aus der Gegend von Frankfurt an der Oder stammt. Er fährt diesmal in Vertretung des urlaubsreifen Stammkapitäns.

Ich bin auf ein langes Gespräch eingerichtet. Kapitän Meyer ist klug und belesen, und wir möchten beide mehr voneinander wissen. Während wir also plaudern unter der Seitenbrücke, in einer windgeschützten Ecke, die der Kapitän „Wintergarten“ nennt, da mache ich eine Entdeckung. Ich sehe, wie sich das Heck der „Fichte“ hebt wie der Kahn einer Riesenschaukel und dann plötzlich senkt, sodass die See wie ein halbierter Himmel über uns hängt. Was ist nun bleigrauer Himmel? Was ist nun bleigraue See? In diesem Augenblick spüre ich das flaue Gefühl im Magen, das so oft beschriebene flaue Gefühl. Moment bitte, Kapitän. Und schon bin ich an der Reling, betrachte die Bordwand von außen, als wollte ich den Anstrich prüfen. Zum Glück befinden wir uns nicht auf der dem Winde zugekehrten Schiffsseite. „Ist was?“, fragt der Kapitän. Scheinheilig, finde ich. „Später“, sage ich, „vielleicht können wir später ...“ Ich bemerke noch Stanas erstaunte Miene, so eine Nanu-was-hat-der-denn-Miene, murmle eine Entschuldigung, rase den Niedergang 'runter, halte mich fest, eingedenk der Warnung des Chefstewards: eine Hand immer dem Schiff. Dann in die Kajüte. In die Koje.

Das Schiff stampft und schlingert. Der Wind heult. Ach was Wind - Sturm! Ich denke: Eine Stunde nur liegen, mir ist ja schon wohler, eine Stunde, dann gehe ich auf die Brücke, mag kommen, was da wolle. Zunächst aber kommt nur Stana: still, blass, kojenreif. Ich erspare dem Leser die Schilderung vom Verlauf der Seekrankheit; ich finde alles bestätigt, was ich jemals darüber gelesen habe. Aber nicht jeder wird davon betroffen. Ist das ein echter Trost? Manchmal kommt die Sonne durch, sie tanzt wie ein Tischtennisball im Viereck des Fensters, huscht die Diagonale hoch, verschwindet wieder. Die Wellen platschen aufs Vorschiff. Die Gardinen schweben, wie von Geisterhand gehoben, in Richtung Zimmerdecke, senken sich wieder, entschweben in die entgegengesetzte Richtung.

Ich versuche, an mein halb fertiges Buchmanuskript zu denken, an meinen Helden, an seine optimistischen Niederlagen, an neue Situationen. Pustekuchen, der Tanz der Gardinen, der Schlag der Wellen, das Fauchen des Sturmes sind stärker. Frau M., die Wissenschaftlerin von der Akademie, kommt ins Zimmer, eine Zigarette rauchend. Eine Zigarette rauchend! Sie sagt: „Ich lasse Ihnen das Steak herbringen!“ „Bitte nicht.“ „Oder eine Apfelsine?“ „Nein. Auch nicht. Wir möchten nichts, gar nichts.“ „Dann gehe ich einen Wodka trinken und ein Tässchen Kaffee. Wenn Sie etwas haben möchten …“ Diese Frau, Zigarette Wodka und Steak und Kaffee, sie ist siebenundfünfzig Jahre alt und völlig frisch und lächelt. Uns kommt das Lächeln sehr diabolisch vor. (Später verriet sie uns ihr Geheimnis: Sie hatte schon wochenlang vor der Reite ein Vitaminpräparat geschluckt, dreimal täglich Vitamin B 6.) Wir liegen. Bleiben liegen den Kojen, den ganzen Tag, die ganze Nacht. Wir schlafen nicht, sondern halten uns am Gitter der Betten fest, um nicht rauszurollen. Der Sturm wird stärker. Die Wellen schlagen sehr hart gegen und auf das Schiff. Der Hammerhai klopft den Rost ab, sagt der Seemann dazu. In dieser Nacht muss der Kurs geändert werden. Stundenlang wird am Vorschiff gearbeitet. Das Meer ist aufgewühlt Die Wehen sollen uns einige Lecks geschlagen haben, berichtet uns ein Besucher.

Dreißig Stunden im Sturm. Dreißig Stunden Rollen und Schlingern und Stampfen. Gardinentanz und Magenkrämpfe. Ala René, der kubanische Student, heißen Tee und Zwieback bringt, probieren wir vorsichtig und freuen uns, dass der Magen die Speise annimmt. Freude über einen Zwieback? In diesem Augenblick schmeckt er köstlicher als glasierte Kalbshaxe oder Schaschlik am Spieß. Es liegt hinter uns: die Seekrankheit und der Sturm mit Windstärke zwölf. Und es sind tatsächlich Lecks in Schiff, hier wird kein Seemannsgarn gesponnen, acht oder neun klaffende Lecks, die in harter Arbeit abgedichtet wurden. Ein Matrose erzählt: „Es war schwierig, denn die Lecks waren zwischen Schanzing, Außenhaut und Deck, das Wasser stürzte auf uns herab, wir kamen schwer heran: sogar ein Bullauge wurde eingedrückt.“ Als der Zimmermann achtern in seine Werkstatt wollte, stand plötzlich eine graudunkle Wasserwand vor ihm, näherte sich blitzschnell, drückte die Tür der Werkstatt ein und schwemmte sie mit fort. Zum Glück konnte er sich in eine Nische des Niedergangs drücken und festhalten …

Wellen schlugen Löcher in das Schiff. Uns Laien schwer erklärbar, aber ich denke an die Wirkung der Wasserkanonen, mit denen man Felsen sprengen kann. Die Matrosen sind fröhlich wie immer. Sie reden schon nicht mehr über die Sturmnacht, sie lachen darüber und basteln an den ersten Witzen. Prächtige Kerle. Ruhige Fahrt durch die Schelde. Dann in Antwerpen: Sonne und strahlend blauer Himmel. Am Verladekai nehmen wir Stückgut für Veracruz und Tampico an Bord und laufen einige Kilometer weiter in die Werft Mercantile. Für die Überfahrt muss die „Fichte“ erst wieder fit gemacht werden. Der Kapitän meint: „Es hat Sie das erste Mal erwischt, das erste Mal und dann gleich gründlich, es war auch für uns happig, aber dafür sind Sie jetzt gefeit.“ - Hoffen wir das Beste.

Eigentlich wollte ich den Kapitän noch nach den Manövern fragen, die er im Sturm gefahren ist. An Bord erzählt man viele Geschichten („Ein kluges Manöver, er ist in Uhrzeigerrichtung mit dem Sturm gefahren! Wäre er nach Süden ausgewichen, hätten wir leicht auflaufen können!“). Aber ich weiß, dass er nicht gern von sich selber spricht, und ich fürchte auch, dass er nur sagen würde: „Meine Pflicht. Die Matrosen an Deck, die Maschinen unten, wir auf der Brücke - das ist eben unser Beruf, mein Lieber.“ Als die Gangway ausgefahren wird, läuft auf ihr der Bordhund hinunter, dreht sich noch einmal um, blafft kurz auf und ward fortan nie mehr gesehen. Weiß man denn, ob nicht Hunde viel stärker unter Seekrankheit zu leiden haben als Menschen?“

 

Aber vielleicht hätte sich unser Seekrankheit-geplagter Kubafahrer unter den Schutz einer Schutzmantelmadonna begeben sollen, wie sie in dem Roman von Renate Krüger über Hans Holbein dem Jüngeren in Auftrag gegeben wurde. Aber hier nochmal ein kleiner Beitrag zur Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus: Was ist eigentlich eine Schutzmantelmadonna? In gewisser Weise sagt der Name schon fast alles. Denn Eine Schutzmantelmadonna ist laut Wikipedia eine Mariendarstellung (Madonna), die die Gläubigen unter ihrem ausgebreiteten Mantel birgt. Diese Haltung symbolisiert den Schutz Mariens.

 

Schutzmantelmadonnen gibt es in der bildenden Kunst seit dem 13. Jahrhundert. Das Motiv basiert zunächst allgemein auf dem Rechtsbrauch des Mantelschutzes, wonach man einer Person durch Bedecken mit seinem Mantel rechtlichen Schutz gewährt. In der russisch-orthodoxen Kirche, wo die Verehrung der Schutzmantelmadonna (russ. Pokrov) Mariens seit dem 12. Jahrhundert dadurch dokumentiert ist, dass Kirchen und Klöster ihrem Patrozinium unterstellt wurden und die Schutzmantelmadonna ein eigenes Fest am 2. Oktober hat, knüpft die ikonographische Tradition noch besonders an die byzantinische Marienerscheinung des seligen Andreas Salós, des „Narren“ Christi, an, der im 10. Jahrhundert die Gottesmutter in Konstantinopel in der Blachernen-Kirche ihren Schleier vom Haupt nehmen und über die Gläubigen breiten sah. In der russischen Tradition sind vor allem zwei Bildtypen vertreten: Maria breitet ihren Mantel aus, oder dieser wird von schwebenden Engeln über ihr gehalten.

In der römisch-katholischen Kirche waren es besonders die Zisterzienser und Dominikaner, die durch Predigten über neue Schutzmantelvisionen – in denen die Gottesmutter die Mitglieder des jeweiligen Ordens unter den besonderen Schutz ihres Mantels nimmt – die Verehrung Mariens als Schutzherrin der Gläubigen förderten.

In der Ikonographie der Westkirche wird die Schutzmantelmadonna stehend dargestellt, sofern sie nicht das Jesuskind im Arm hält, mit ausgebreiteten Armen über einer Schar von Gläubigen, Ordensmitgliedern, Angehörigen des Klerus oder auch Stifterfiguren. Und mit diesem neuen Wissen ausgerüstet, lässt sich der Hans-Holbein-Roman von Renate Krüger mit noch viel mehr Vergnügen lesen – mit wissendem Vergnügen eben.

 

DDR-Autoren: Newsletter 28.07.2017 - Wo liegt eigentlich Werchojansk?