Doggen gegen Agitatoren, ein Spiegel für Aphrodite, Genosse Buttlich auf dem Bahnhof und ein Mord - Sechs E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 04.01. 2019) Auch den Leserinnen und Lesern des wöchentlichen Newsletters aus dem Hause EDITION digital aus Godern zunächst ein schönes und friedliches, glückliches und gesundes Neues Jahr. Und dann geht es mit wiederum sechs Titeln auch ohne lange Vorrede gleich wieder in die Vollen. Schließlich gab es in den letzten Tagen von Weihnachten bis Neujahr viel freie (Lese)Zeit. Da ist Nachschub dringend nötig, oder?
Diesmal geht es um Zeitreisen – im übertragenen und im wörtlichen (Titel)Sinne. So nimmt Hardy Manthey im zweiten der insgesamt sechs Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 04.01.19 – Freitag, 11.01.19) zum Sonderpreis zu haben sind, seine Anhänger wieder mit Aphrodite auf eine ihre Zeitreisenden, wobei sie diesmal mit einer sehr ungewöhnlichen Situation fertig werden muss.
Eine ganz andere Zeitreise unternimmt Erik Neutsch in seinem Buch „Die zweite Begegnung“, das Anfang der 60er Jahre während des „sozialistischen Frühlings“ auf dem Lande spielt, der vielleicht sehr viel konfliktreicher war als man damals behauptete.
Über einen Traum von Freiheit und Unabhängigkeit schreibt Siegfried Maaß in „Ins Paradies kommt nie ein Karussell“.
Ebenfalls eine jugendliche Hauptfigur steht im Mittelpunkt von „Plumpsack geht um“ von Hans-Ulrich Lüdemann.
Eine Wiederbegegnung mit der wunderbaren Schriftstellerin Waldtraud Lewin erlaubt ihr Erzählungen-Band mit dem zunächst sonderbar erscheinenden Titel „Kuckucksrufe und Ohrfeigen“ – so auch der Titel einer der insgesamt elf sehr lesenswerten Lewinschen Erzählungen.
Und zum Schluss wartet noch ein spannender Krimi auf seine Leser. In seinem Erfolgstitel „Das Jakobsweg-Komplott“ zeigt Templer-Gold-Experte Ulrich Hinse, was alles passieren kann, wenn sich ein deutscher Kriminalhauptkommissar auf den Weg nach Santiago de Compostela macht.
Und damit ein paar Jahrzehnte zurück, zu Erik Neutsch und mitten hinein in die konfliktreichen Zeiten der „Kollektivierung“.
Die erste Ausgabe von „Die zweite Begegnung“ von Erik Neutsch erschien 1961 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale). Das E-Book enthält allerdings nur die Titelgeschichte von Erik Neutsch: Der Bauer Jakob Haselmann kettet die Hunde los, zwei kräftige, hochbeinige Doggen. Nun braucht er die Werber nicht zu fürchten, die aus der Stadt gekommen sind, um ihn in die LPG zu locken. Schließlich lässt er Kalle Kulka aus dem Chlorbetrieb des Kombinates doch in sein Haus. In der ersten Begegnung hat er den Menschen des Dorfes die Verordnung über die Bodenreform erläutert und dass auch der Grundbesitz des Freiherren Wenzel und des ehemaligen Ortsbauernführers Kluge enteignet und aufgeteilt würde. Und nun sollen sie das Land wieder zusammentun und gemeinsam in der LPG bewirtschaften? Und so gestaltet sich der Beginn dieser zweiten Begegnung:
„DER HOF
Jakob Haselmann kettet die Hunde los. Es sind zwei kräftige, hochbeinige Doggen, schwarz und weiß gefleckt, mit Schwänzen, krumm wie Säbel. Haselmann tätschelt ihre schmalen, geschmeidigen Rücken, klatscht auf ihre breiten Brustkörbe, daß es dumpf und hohl aus ihnen herausklingt. Dankbar leckt Hasso, der Rüde, dem Bauern die Hand. Und Tine, die zehn Monate alte Petze, steift die Ohren und streunt durch den Hof, die Hühner vom Dunghaufen scheuchend.
„Tine!“ ruft Haselmann. Das Tier läßt ab, den dampfenden Mist zu beschnüffeln. Es hebt horchend den Kopf und stemmt sich mit den Vorderpfoten in die Fladen. Mit klugen Augen erwartet es die Befehle seines Herrn. „Da, faß ihn!“ Der Bauer wirft einen Holzknüppel gegen das hintere Stallgebäude. Er kracht gegen eine der Türen. Die Rinder dahinter brüllen und drängen unruhig gegen das Gatter. Die Hennen gackern erschreckt und stieben mit angelegten Flügeln und langgestreckten Hälsen in eine ferne Ecke. Der Hund stürzt sich auf das Geschoß und packt es mit den Zähnen. Hasso ist ihm entgegengesprungen und schnappt ebenfalls fletschend nach der Beute. Die beiden Doggen beißen sich knurrend an dem Stab fest und balgen sich wütend. Sie wälzen sich übereinander, und Tine jault schrill, wenn der stärkere Rüde sie auf das Pflaster drückt.
„Hasso! Tine! Hierher!“ befiehlt der Bauer. Gehorsam beenden die Tiere ihren Kampf. Hasso springt mit ein paar Sätzen heran und kauert sich Haselmann winselnd vor die Beine. Die Petze bringt den Stock und legt ihn ihrem Gebieter in die geöffnete Hand. Die beiden Doggen strecken weit die Zungen aus dem Maul, japsen durstig nach kühlender Luft. Haselmann bemerkt, daß nunmehr auch das Gebiß Tines voll ausgebildet ist. Prüfend betastet er mit der Kuppe des Zeigefingers die aufragenden Reißer. Sie sind weiß und spitz wie Dolche. Sie haben das trockene Holz des Knüppels tief aufgespellt.
Nun können die Werber kommen, denkt der Bauer. Keinen Fuß werden sie über die Schwelle meines Hofes setzen. Die Hunde werden sie anfallen, schon wenn die Tür knarrt. Haselmanns Doggen sind bis in die Nachbardörfer hinein bekannt. Wie seine Kühe. Die Schwarzbunten vom Haselmann, sagt man, fast andächtig, und meint seine Rinderzucht und die beiden abgerichteten Doggen. Im letzten Jahr haben manche der Haselmannschen Kühe über viertausend Liter Milch gegeben, mit einem Fettgehalt von vier und mehr Prozent. Der Rüde Hasso hat im Winter vor sieben Jahren einmal einen Hühnerdieb gefaßt. An der Pforte zum Garten hat er ihn gestellt und in den Schnee geworfen. Um Mitternacht war das, als Haselmann und seine Frau bereits in den Betten lagen. Bis zum Morgen hat die Dogge über dem Mann gestanden, die Zähne nicht von seiner Kehle genommen. Der Dieb wagte weder sich zu rühren noch zu schreien, das Tier hätte zugebissen. Bei jeder Bewegung des Einbrechers knurrte es mißtrauisch und drückte seine Reißer tiefer in den Hals. Haselmann lachte schallend, als er früh die Gruppe fand, den spreizbeinigen Hund, darunter den steifgefrorenen und vor Angst schwitzenden Hühnerdieb, der noch den Sack mit dem toten Federvieh in der Hand hielt.
Lange danach noch wurde Haselmann oft genötigt, die Geschichte zu erzählen, in der Schenke beim Bier, abends in der Kegelbahn. Er tat es gern, es bestärkte seinen Ruf, für unantastbar zu gelten. Was kümmerte es ihn, daß manch einer seinen Kindern mit Haselmanns Dogge droht wie vordem mit dem schwarzen Mann. Es schmeichelt ihn, wenn ihn jemand besucht und zaghaft fragt: „Hast du auch die Hunde an der Kette, Jakob?“
Den Rüden hat sich Haselmann angeschafft, als sein Gehöft aufgebaut war, das gemeinsame Gebäude für die Wohnung und die Ställe an der ungepflasterten Straße, in deren Schlamm nach einer Woche Regen die Wagen bis fast an die Naben versinken, und die Scheune hinter dem Hofplatz. Haselmann war Neubauer geworden; er hatte zweiunddreißig Morgen Land aus dem ehemaligen Besitztum des Gutes erhalten, auf dem er selbst als Schweizer gedient hatte, zwei Schafe, ein Schwein, eine trächtige Kuh und einen Ochsen. Er hatte damals mehr Ackerfläche zugesprochen bekommen als die meisten Landarbeiter und Umsiedler. Denn er hatte unbedingt auch die steinigen, ertragsmageren Felder auf dem Hang der Weihnachtshöhe zurückhaben wollen.
Er entsinnt sich noch deutlich, wie er bei der Aufteilung darum gefeilscht und das Los nicht anerkannt hatte. Wenige Tage darauf, als er den harten Boden unterhalb des Fichtenwäldchens, das der Höhe den Namen gegeben hatte, umpflügte, wurde ihm das schwere belgische Pferd von einer Mine zerrissen, die fliehende Soldaten in den letzten Kriegstagen dort vergraben hatten. Aber auch dadurch ließ sich Haselmann nicht von seinem Willen abbringen, das Feld zu bestellen. Als Neubauer hatte Haselmann lange noch im Gesindeflügel des Gutes gehaust. Er war damals noch unverheiratet und erhielt daher erst als einer der letzten seinen Bauernhof. Haselmann umschloß ihn sofort mit einer zwei Meter hohen Mauer, die er mit den Scherben zertrümmerter Flaschen bespickte. Bis in die Kreisstadt fuhr er dann, zu einem Fleischer, und suchte sich aus einem Wurf Welpen den Hund aus. Als das Tier zehn Wochen alt war, ließ er es absetzen und nahm es zu sich in die Wohnung. Er gewöhnte die junge Dogge an sich und fütterte sie mit Fleischresten, süßem Brei, Möhren und Eiern. Haselmann würde sie auf jeden hetzen, der nach seinem Eigentum griffe.
Jakob Haselmann war nicht mehr der jüngste zu jener Zeit. Er brauchte einen Erben für den Hof, also brauchte er für den Erben auch eine Mutter. Der Besitz der Väter war vom Gute zurückerobert, und er sollte nicht wieder verloren gehen, nur weil es für ihn nach Jakob Haselmann keinen Herrn mehr gäbe. Der Bauer erkor sich Susanne zur Frau, die dralle, fleißige Susanne aus einem sandigen Heidedorf jenseits der Autobahn und der Mulde. Er lernte sie kennen, als er dorthin unterwegs war, um Färsen für seine Zucht zu kaufen. Mit den Rindern war er aufgewachsen, als Schweizer waren sie ihm seine vertrautesten Gefährten geworden. Er liebte die Tiere, ihren Geruch, ihre warmen Wammen, ihren geduldigen Treublick. Sie hatten ihn oft versorgt, als er noch Kind war, wenn er Hunger hatte; sie beköstigten ihn mit Milch, Butter und Käse. Sie zogen den Pflug, und noch nach ihrem Tode dienten sie mit schmackhaftem Fleisch und mit Lederhäuten. Haselmann wollte eine Kuhherde aufziehen, wie sie vor ihm kein Junker besessen hatte. Er fragte Susanne, ob sie ihm dabei helfen möchte. Ihm gefielen ihre starken, rosigen Arme, ihre Art, wie sie die Kartoffelsäcke vom Wagen stemmte.
Sie war die Tochter eines Klitschers, der sich auf dem Sandboden krumm geackert hatte. Sie wartete auf ihren Mann, der im Kriege verschollen war und den sie nach der Ferntrauung nie wieder gesehen hatte.
Sie sagte zu, als Haselmann sie fragte, und sie zog mit ihm über die Mulde, ein in die Neubauernfestung am äußersten Ende des fremden Dorfes. Unter ihrer Pflege gediehen die Kühe noch einmal so gut, bald waren sie weithin berühmt wegen ihrer ungewöhnlichen Milchleistungen. Suschen hatte dem Hof einen Erben geboren, einen Bengel mit fuchsroten Haaren, der seiner Mutter glich wie ein Ei dem anderen. Haselmann hat es der Frau nie verübelt, daß sie ihm einen Jungen schenkte, der gar nicht aussah wie ein Haselmann. Wichtig für ihn war, die Familie würde nicht aussterben und die Wirtschaft würde fortbestehen.
Jetzt hat er die beiden weggeschickt, die Bäuerin und das siebenjährige Söhnchen. Sie sind wieder über den Fluß, zur Klitsche der Schwiegereltern, die nun auch schon eine Genossenschaftsklitsche geworden ist. Jakob Haselmann will die städtischen Werber allein empfangen, oder besser, er will sie nicht empfangen. Das Tor wird verrammelt, und die Doggen sind schon von der Leine gelegt.
Jeden Sonntag treibt es die Agitatoren jetzt in die Dörfer, immer und immer wieder. Jakob Haselmann ist hier im Ort einer der letzten, die noch außerhalb der Kolchose stehen, von den einstigen Neubauern ist er der letzte. Aber er wird nicht umfallen, er wird den Hof, das Vieh, die Äcker bis hoch hinauf zur steinigen Weihnachtshöhe nicht wieder hergeben. Er braucht die Genossenschaft nicht, ihm steht das Wasser nicht an den Hals, er kann schuften wie ein Pferd. Und hat er auch seine Felder nicht vergrößern können, seine Ställe wurden in jedem Jahr angebaut, seine acht schwarzbunten Rinder sind der gallige Neid aller Züchter ringsum, sie haben ihm sogar die Achtung der protzigen Altbauern eingetragen. Nur die Frau hat er jetzt weggeschickt, damit sie ihm nicht noch die Ohren vollplärrt, wenn er das Agitationsgeschwätz schon überstanden hat. Denn seit ihr Vater in der Genossenschaft ist, hat auch sie den Kollektivierungsfimmel. Sie sagt es nicht, aber er brütet in ihrem fuchsroten Kopf wie in einem Nest. Jakob Haselmann merkt es, wenn sie im Dorf war und in die Stube tritt und über den Tisch brabbelt: Der ist auch eingetreten, einen nach dem anderen erwischt es. Da verläßt sich Haselmann lieber auf sich selbst und auf seine beiden Doggen.
Der Bauer tritt auf die Straße. Der Rüde bleibt wachsam an der Hoftür stehen, schnuppert in den warmen Tauwind und sichert. Die Hündin Tine trabt ins Freie, die Spürnase dicht über der welken Grasnarbe, an der Hagebuttenhecke verweilt sie und näßt. Die Wege sind aufgeweicht, das Schmelzwasser in den Wagenspuren vom letzten Herbst glitzert im Sonnenlicht. Der Wind hat mit lauer Zunge den Schnee von den Feldern geleckt. Hier und da schimmern die grünen Lanzettenblättchen der Wintersaat auf den feuchtdunklen Äckern. In den Gemüsegärten hinter den Häusern dörren ausgewitterte Kohlstrünke. Die Bäume und Sträucher sind noch kahl, ihre Zweige sind starr und störrisch, ihre Rinde ist schwarz. Der Rauch aus den Schornsteinen flattert unstet im Kreise, drückt sich mal an die Gehöftmauern, diest mal in den Himmel. Vom Dorf herüber dringt sonntägliches Schweigen, nur hin und wieder von Geräuschen zerschnitten. Ein Schwein quiekt, ein Zinkeimer klappert, ein Motor heult. Jakob Haselmann nimmt eine Prise Erde auf und zerreibt sie zwischen den Fingern. Den Rest zerkaut er, schmeckt ihn ab und speit ihn in den Tümpel. Wenn Suschen zurückkommt, denkt er, wird es Zeit, den Roggen zu drillen.
Am Anfang der Neubauernsiedlung, dort, wo das Altdorf zu Ende ist, am Transformatorenhäuschen, tauchen zwei vermummte Gestalten auf. Es sind Ortsunkundige, Haselmann merkt es daran, daß sie auf dem zerfahrenen Weg hin und her tappen und sich einen trockenen Pfad suchen. Das sind die Werber, denkt der Bauer, bis jetzt haben sie beim Bürgermeister gesessen und die Gehöfte unter sich aufgeteilt. Sie kommen in aller Herrgottsfrühe schon, sie haben es eilig mit der Kollektivierung. Hinter jedem Hof sind sie her wie der Teufel hinter der Seele. Da ist ihnen nichts heilig, nicht einmal die letzte Sonntagsruhe des Bauern vor der Frühjahrsbestellung. Aber vor einer Woche hat der Pastor die Glocken läuten lassen und zum Kirchgang gerufen. Die hartgesottensten Sünder sind wieder fromm geworden. Alle, die nicht in die Genossenschaft wollten, sind den Agitatoren davongerannt. Die Predigt braucht man nur zu hören, haben sie gesagt, man braucht drauf nicht zu antworten; denn der liebe Gott läßt sowieso nicht mit sich diskutieren. Und darum sind die Werber wohl heute schon so früh da, damit sie nicht noch einmal vor leeren Häusern stehen.“
2017 veröffentlichte EDITION digital als Eigenproduktion in einer 2., stark überarbeiteten Auflage den 6. von insgesamt 16 Teilen der von vielen Leserinnen und vielen Lesern geschätzten, von manchen aber auch eher abgelehnten Zeitreisenden-Reihe von Hardy Manthey – „Der Planet der Frauen“: Im 5. Teil der Romanreihe „Die Zeitreisende" war Aphrodites Überlebenskampf während des Sklavenaufstandes auf Sizilien geschildert worden. Ein Kampf, den Aphrodite am Ende doch verlor. Nur mit Hilfe der Herren der Zeit gelang ihr die Flucht vor dem sicheren Tod. Der Preis ihrer Rettung: Sie muss in eine parallele Welt reisen. Auf dem Planeten der Frauen soll sie nach den Ursachen forschen, warum der gesellschaftliche und wirtschaftliche Fortschritt, wie auf der Erde geschehen, ausbleibt? Wird ihr Auftrag ein erholsamer Spaziergang? Weil es so von Frau zu Frau doch keine Probleme geben dürfte! Finden Sie es in diesem Teil heraus! Der Autor hat mit der 2. Auflage sein Erstlingswerk sehr stark überarbeitet und die kritischen, trotzdem begeisterten Hinweise berücksichtigt. Hier der Beginn dieses phantastischen Romans:
„Prolog
Knapp zwanzig Jahre lang konnte Aphrodite ein Leben in Glück und Reichtum genießen. Doch dann fegte ein Sklavenaufstand wie ein Sturm über die schöne Insel Sizilien. Die Sklavenhalter hatten ihre Sklaven gnadenlos ausgebeutet. Die Rache der befreiten Sklaven war furchtbar. Im 5. Teil der Romanreihe „Die Zeitreisende“ wird der Aphrodites Überlebenskampf geschildert. Ein Kampf, den sie am Ende doch verlor. Nur mit Hilfe der Herren der Zeit gelang ihr die Flucht vor dem sicheren Tod. Der Preis ihrer Rettung: sie muss in eine parallele Welt reisen. Auf dem Planeten der Frauen soll sie nach den Ursachen forschen, warum der gesellschaftliche und wirtschaftliche Fortschritt, wie auf der Erde geschehen, ausbleibt? Wird ihr Auftrag ein erholsamer Spaziergang? Weil es so von Frau zu Frau doch keine Probleme geben dürfte! Finden Sie es in diesem Teil heraus!
Ich wünsche Ihnen dabei viel Vergnügen!
Der Autor
Die Geschichte des Planeten
Aphrodite schlägt die Augen auf, hört und sieht auch gleichzeitig, wie sich der Sarkophag langsam, leise zischend über ihr öffnet. Gab es eine Panne? Ging etwas schief? Schnell taucht sie aus der Flüssigkeit heraus und hustet kräftig die restliche grüne Flüssigkeit aus ihrer Lunge. Immer noch leicht hüstelnd, fragt sie: „Entschuldigung, ich habe noch etwas vergessen. Gut, dass du das Ding hier noch einmal geöffnet hast. Könnte ich nicht wenigstens meinem Sohn Alexander noch eine einfache Nachricht hinterlassen?“ Professor Marotti steht neben dem Sarkophag und grinst sie breit an: „Deinen Wunsch jetzt noch zu erfüllen, dürfte wirklich für uns schwierig werden, meine schöne Aphrodite!“
Aphrodite reckt sich und klettert verärgert ganz aus dem Sarkophag. Alexander hätte auch noch eine Nachricht verdient. Immerhin ist er ihr Sohn. Beim Herausklettern perlt in großen und kleinen Kugeln die leuchtend grüne Flüssigkeit von ihrer Haut ab. Auch scheint noch irgendetwas anderes beim Aussteigen zu stören. Sie greift danach und hält superlanges, leicht welliges, strahlend goldblondes Haar in ihrer Hand. Erstaunt betrachtet sie ihr langes Haar: „Wie ist das möglich? Ich hatte doch eben noch struppiges, kurz abgeschnittenes Haar! Sind wir schon in dieser Dingsda-Welt gelandet? Wo ist ein Spiegel? Ein Königreich für einen Spiegel!“
Marotti grinst immer noch, nickt und behauptet trocken: „Wir sind in dieser ‚Dingsda-Welt‘ tatsächlich angekommen. Besser noch, wir sind sogar schon auf dem Planeten gelandet. Einem Planeten, den wir praktischerweise lateinisch ‚muliebris Terra‘ nennen und der umgangssprachlich für uns der weibliche Planet ist“, erklärt Marotti und zeigt mit der Hand in Richtung Dusche.
Aphrodite ist ehrlich überrascht. Dabei schaut sie sich weiter suchend nach einem Spiegel um und fragt: „Wir sind auf einem weiblichen Planeten? Ist er so rund und weich gebaut wie eine Frau? Oder schlimmer noch, gibt es dort nur Frauen?“ Einen Augenaufschlag später beantwortet sie ihre Frage selbst laut: „Nur Frauen! Das ist ja voll langweilig!“
„Keine Sorge, Aphrodite, es gibt dort auch echte Männer. Du wirst schon auf deine Kosten kommen“, behauptet Marotti lachend.
„Das beruhigt mich aber“, meint Aphrodite wirklich erleichtert und entdeckt jetzt wenigstens die Dusche, die sie zielstrebig ansteuert. Auch wenn Marotti nur eine Vision in ihrem Kopf ist, lange will sie vor ihm aber auch nicht so splitterfasernackt herumlaufen.
Als sie trocken aus der Dusche steigt, meint Marotti spöttisch: „Du brauchst dich nicht vor mir zu zieren. Ich konnte dich zu jeder Zeit bis tief in dein „Ich“ betrachten. Ein Mann kann sich aber auch an deiner Schönheit nie genug sattsehen. Du bist uns wirklich gut gelungen. Eben ein aus Fleisch und Blut wahrgewordener Männertraum. Es gibt wohl keine zweite Frau auf dieser Welt, die ich besser kenne. Es freut mich vor allem sehr, dass du die Männer trotz aller Pein immer noch liebst!“
Aphrodite ärgert es, dass der Mann ihre geheimsten Gedanken lesen kann. Doch dagegen ist sie machtlos. So blickt sie sich erneut suchend nach einem Spiegel um. Bin ich wirklich perfekt? Auch etwas zum Bedecken meiner angeblichen Schönheit wäre gut. Aber auch ohne Spiegel sieht sie wohlgeformte Brüste. Scham kommt in ihr auf, immer noch so völlig nackt vor diesem Mann herumlaufen zu müssen. Doch das soll er nicht wissen. So spottet sie: „Ihr Männer braucht wohl immer die Bestätigung eurer Fähigkeiten und Leistungen durch uns Frauen. Das was ich bis jetzt von mir sehe, habt ihr wohl wirklich gut hingekriegt. Nur weil ich ab und an Probleme mit den Männern habe, hasse ich noch lange nicht alle. Wo ist endlich ein Spiegel für mich?“
„Lenk nicht vom Thema ab!“
„Das ist schlecht möglich, mein göttlicher Marotti. Ich kenne doch noch gar nicht Euer Thema! Wie lange muss ich noch vor Euch so ganz nackt herum laufen? Hallo, Macho! Ich bin eine Frau! Wo ist ein Spiegel? Wo ist ein Kleid? Ich bin doch nicht die Eva aus der Bibel! Selbst das Feigenblatt fehlt mir. Der Herr weiß schon wo! Oder soll ich mich noch für den geilen Herrn bücken, damit seine Göttlichkeit auch wirklich alles von mir in Ruhe betrachten kann?“, schimpft Aphrodite, wirklich wütend geworden. Sie will sich schon provokant bücken, als aus dem Nichts vor ihr die ganze Wand ein Spiegel wird.
„Das hat aber gedauert!“, schimpft Aphrodite und sieht im Spiegel eine wunderschöne nackte Frau mit langen blonden Haaren. Doch im Spiegel ist sie allein. Marotti ist nicht zu sehen. Ach ja, der Mann ist ja nur in meinem Kopf, erklärt sie sich selbst ihre beklemmende Einsamkeit vor der Spiegelwand. Nun betrachtet sie sich genauer. Sie streichelt begeistert ihr langes Haar. Diese goldene Löwenmähne fällt leicht lockig auf ihre Schultern herab bis zu den Hüften. Das lange Haar bedeckt teilweise ihre formschönen festen Brüste. Ihre tastenden Hände bestätigen die Festigkeit ihrer schönen Rundungen. Sie dreht sich und bewundert ihren prallen Hintern. Der Po wirkt geliftet. Doch ihre prüfenden Hände bestätigen auch hier, dass auch dort alles schön fest ist. Auch wenn der Hintern nach ihrem Geschmack etwas zu üppig ausgefallen ist, leidet ihre schlanke Taille nicht darunter. Die lästigen Fettpölsterchen, diese kleinen Schwimmringe an der Hüfte, sind ganz weg. Mit den Fingern durchkämmt sie ihr dichtes blondes Schamhaar. Ein Urwald aus Gold. Etwas zu viel des Guten. Okay, das ist halt die Frau ganz nach Mutter Natur. Mit der Formgebung hat Marotti etwas übertrieben. Eben typisch Mann. Doch Millionen Frauen würden für so einen Traumkörper ihre Seele an den Teufel verkaufen. Sie ist richtig glücklich, so eine schöne Frau zu sein. Überhaupt ist Frausein etwas Herrliches, jubelt ihr hüpfendes Herz. Sie fühlt sich voller Energie und Tatendrang, wie schon lange nicht mehr. Dabei ist es für ihre Empfindungen, für ihre innere Uhr, keine Stunde her, dass sie verzweifelt um ihr Leben kämpfte. Die Angst vor den wütenden Männern und ihren Bluthunden ist noch ganz allgegenwärtig. Jetzt soll sie so weit weg von all dem sein? Verrückt ist das schon! Noch einmal dreht sie sich vor der Spiegelwand. Ihre Bewegungen und der leichte Hüftschwung bestätigen ihr, dass sie es tatsächlich ist, die Traumfrau dort im Spiegel. Toll!
Marotti holt sie aus ihren Gedanken und fragt: „Sind Ihre Göttlichkeit jetzt bereit für meine Einweisung?“
„Nicht ganz, erst möchte ich endlich meine Nacktheit vor Eurer Hoheit beenden. Auch wenn Hoheit nur in meinem Kopf sein sollen. Fakt ist, vor mir steht ein Mann. Ich bin unübersehbar eine Frau. So nackt vor einem Mann kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Wir Frauen sind halt so. Respektiert das bitte! Überhaupt, das gehört sich auch für so einen mächtigen Mann, wie Ihr es seid, nicht. Noch einmal zum Mitschreiben für den göttlichen Herrn, wo ist ein Kleid für mich?“, fragt Aphrodite erneut und hofft nun, dass endlich ihrem Wunsch entsprochen wird.
Marotti zeigt mit der Hand auf die Wand hinter ihr. Sie dreht sich und sieht dort etwas Graues schweben. Jetzt mit sich und der Welt im Reinen, greift sie nach dem Stoff. Verärgert stellt sie fest, dass es tatsächlich nur ein sehr einfaches Tuch ist, das sie jetzt in den Händen hält. Nur dieses Stück Stoff war dort. Na ja, auf Unterwäsche und anderen Schnickschnack hat sie schon lange verzichtet. Ein BH ist bei ihren festen Brüsten auch nicht zwingend notwendig. Das ultimative Höschen hatte in der Antike auch schnell ausgedient. Es war einfach bequemer, ganz ohne Zeug darunter herumzulaufen. Wenn die Blase sich meldete, genügte es oft, an Ort und Stelle einfach in die Hocke zu gehen. Der BH hat an warmen Sommertagen den Busen nur noch zusätzlich aufgeheizt. Sicher kann sie hier auch auf solche sogenannten zivilisatorischen Errungenschaften verzichten. Dennoch verärgert, streift sie sich diesen primitiven Fetzen Stoff über. Dabei schimpft sie laut: „Der Stoff ist wirklich extrem primitives Material. In der antiken Welt gab es bedeutend edlere Stoffe für die Gewänder der betuchten Frauen. So einen derben Stoff tragen in Syrakus die Sklaven, die in den Latrinen schuften müssen. Was soll der Geiz? Wird nach der angeblich so langen Reise jetzt schon am Stoff gespart? Die Spritkosten, um hierher zu fliegen, waren wohl doch für euch zu hoch!“
Der Mann lacht laut auf und muss sich erst beruhigen. Ruhiger geworden, erklärt er ihr: „Originelle Erklärung. Leider ist es nicht so. Du musst dich etwas den örtlichen Gegebenheiten anpassen. Dieses Gewand ist hier der aktuelle Stand der Technik. Du wirst es sehr bald verstehen. Übrigens bist du mit der vorherrschenden Sprache auf diesem Planeten bestens vertraut. Doch wie man hier lebt, muss ich dir doch etwas genauer erklären. Komm, werde endlich fertig! Im Nebenraum machen wir es uns bequem!“
Aphrodite folgt dem Professor, nun endlich bekleidet. Sie folgt ihm in einen Raum, der nur mit einem kleinen Tisch und einem sehr großen Liegesessel möbliert ist. Aphrodite bleibt unsicher stehen und fragt: „Wieso steht hier nur ein Sessel?“
Marotti: „Eben weil nur du aus lebender Materie bestehst. Ich bin doch immer nur eine optische Wahrnehmung und brauche darum keine Sitzgelegenheit.“
„Klingt irgendwie logisch, Professor. Nun gut, dann mache ich es mir eben jetzt bequem“, erwidert Aphrodite und flegelt sich auf den großen Sessel. Ihre Beine legt sie auf den Tisch. Das Tuch rutscht hoch und entblößt ihre schönen Beine. Sie weiß, dass so ein verführerischer Anblick jedem Mann den letzten Verstand raubt.
„Bist – bist – bist du nun empfangsbereit, Aphrodite?“, fragt Marotti, das erste Mal stotternd.
Aphrodite weiß nun endgültig, dass 'Es' ein 'Er' ist. Dieser Marotti-Geist ist also ein Mann. Sie ist gleich besser drauf. Männer sind schließlich ihre Spezialität. Erfreut meint sie: „Ich glaube schon, Chef. Legt los! Wird schon nicht so schlimm sein.“
Von einem Augenblick zum anderen ist der Raum um sie herum das unendliche Weltall. Mit hoher Geschwindigkeit geht es durch diese endlosen Weiten. Mitten in diesem Sternenmeer taucht ein kleiner blauer Planet auf, der zusehends größer wird. Aphrodite glaubt im ersten Moment, die heimatliche Erde zu sehen. Wie in einem superschnellen Raumschiff, das auf diesen Planeten zurast, wird er schnell größer. Sie haben jetzt den Orbit des Planeten erreicht. Doch was unter den Wolken als Land zu erkennen ist, sieht überhaupt nicht wie die Erde aus. Dann kommt zu ihrer Überraschung auch noch ein viel zu kleiner Mond ins Bild. Hilfe, nun sieht sie schon einen zweiten und dann gleich dahinter einen dritten kleinen Mond.
So aus dem Bauch heraus fragt Aphrodite: „Was ist denn das für eine verrückte Welt? Eine Erde mit drei kleinen Monden. Wo gibt es denn so einen Quatsch?“
„Das ist kein Quatsch, das ist hier so. Bei der Entstehung dieser Erde, besser gesagt dieses Planeten, wurden diese drei kleinen Monde eingefangen. Die drei Monde sorgen für ein etwas anderes Klima auf diesem Planeten. So werden zum Beispiel immer wieder gegenläufige Flutwellen ausgelöst. Sie sind nicht so gewaltig wie auf deiner Erde, aber sie haben es auch in sich. Sie sorgen doch für nicht zu unterschätzende Turbulenzen. Ruhige See und lauschige Strände sind hier knapp. Die drei Monde haben aber nicht die Kraft des Erdmondes. Das Klima können die drei Monde nicht wie auf deiner Erde so nachhaltig beeinflussen. So nehmen hier die Polkappen und die Eiswüsten rund ein Drittel der gesamten Oberfläche des Planeten ein. Die für das höhere Leben günstigen Klimazonen sind nur ein schmaler Streifen beiderseits des Äquators. Deine Erde ist für das Leben günstiger gestellt. Die Masse und die Größe dieses Planeten übertreffen auch die der Erde. Die Schwerkraft entspricht rund hundertzwanzig Prozent der Erdanziehungskraft. Das wirst du nur am Anfang etwas in den Beinen spüren!“
„Damit werde ich ja auch schwerer. Alles hängt dann! Oder?“, fragt Aphrodite besorgt und fürchtet um die schöne Form ihrer Brüste.“
Erstmals 1975 brachte Siegfried Maaß im Verlag Neues Leben Berlin sein Buch „Ins Paradies kommt nie ein Karussell“ heraus: Ein nächtlicher Jungenspaß: In der Stadtrandsiedlung Paradies, Zickzackhausen genannt, geben sich zwei Jungendliche nächtliche Lichtsignale, wodurch sogleich der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei erscheint und seine Vermutungen äußert. Daran erinnert sich Karo, nachdem er fluchtartig die Siedlung und damit auch seine Eltern verlassen hat und auf dem Rummel arbeitet, mit dem er durch das Land zieht. Ausgerechnet das altertümlichste Karussell hat er sich ausgesucht. Damit verwirklicht er seinen Traum von Freiheit und Unabhängigkeit, etwas, was er nicht wieder aufgeben will. Zumal er Ulrike in seiner unmittelbaren Nähe weiß. Sie ist mit dem Fahrgeschäft ihres Vaters, dem Riesenrad, unterwegs. Im Gegensatz zu Karo erfüllt sie notgedrungen ihre Pflicht und möchte den Rummel endgültig verlassen. Kann es den beiden jungen Leuten, ihre unterschiedlichen Wünsche und Lebensvorstellungen mit ihrer Liebe zu vereinbaren? Aber begeben wir uns erstmals in einen Wohnwagen auf den Rummel und schauen, was da los ist:
„1. Kapitel
Draußen hämmerte jemand mit den Fäusten gegen die Wagentür, als wäre Feuer ausgebrochen und es käme nun auf jede Sekunde an, mich zu retten. Oder träumte ich und wusste es nur nicht? War ich nicht eben noch zu Hause im Paradies gewesen, wo ich mich mit meinem Bruder Siggi geprügelt hatte, der in der Nacht heimlich in meine Bude geschlichen war, um von der Dachluke aus mit der Taschenlampe Signale zu geben? Doch die Dachstube gehörte mir, und ich würde mich nicht daraus vertreiben lassen. Aber dann wand sich aus dem Unterbewusstsein der Gedanke in meinen Halbschlaf, dass ich ihm ja längst die Bude und auch die Dachluke freiwillig überlassen hatte. Ich war nicht mehr im Paradies, sondern auf dem Rummel. Statt in der Dachstube hauste ich nun in einem Wohnwagen, genau genommen in einer Hälfte davon, denn im vorderen Teil waren Werkzeugkisten und Geräte zum Aufbau des Karussells untergebracht.
Wieder polterten Fäuste wie Trommelstöcke gegen die Tür, und ganz leise hörte ich dann meinen Namen rufen. Ich riss die Augen auf und starrte auf die Tür. Aber sie öffnete sich nicht, und mir fiel ein, dass ich ja in der Nacht gewohnheitsmäßig den Riegel vorgeschoben hatte. Jetzt wurde mein Name laut und deutlich gerufen. „Karo, mach doch endlich auf, du Schlafmütze!“
Ich erkannte Ulrikes Stimme. Mit einem Satz war ich an der Tür und riss den Riegel weg. Keine Gefahr! dachte ich erleichtert und lachte nun innerlich über meine Traumvorstellungen. Ais ich die Tür aufstieß, musste ich die Augen schließen, denn das Sonnenlicht blendete mich mehr, als es wahrscheinlich die Flammen getan hätten, von denen ich mich eben noch bedroht gefühlt hatte. Ulrike kam die Stufen herauf und stieß mich sanft von der Tür weg.
„Du schläfst ja noch im Stehen“, sagte sie vorwurfsvoll, und als ich endlich die Augen wieder aufriss, hielt sie mir einen Strauß Feldblumen vors Gesicht und sagte: „Ich gratuliere dir zum Geburtstag!“
„Danke“, sagte ich, etwas überrascht. Ich hatte gespürt, dass irgend etwas anders sein musste als sonst, aber ich war nicht auf den Gedanken gekommen, dass ich Geburtstag hatte. Dabei hatten wir am Abend lange darüber gesprochen, weil ich ja nun genau ein Jahr von zu Hause weg war. Und schließlich hatten die Jungs von nebenan darauf bestanden, schon im Voraus auf mich anzustoßen, und dann hatten wir bis zum Morgengrauen an der Uferböschung hinter den Wagen gefeiert. Langsam kehrte meine Erinnerung daran zurück, und zugleich setzte ein schmerzhaftes Pochen in den Schläfen ein, dass ich mich auf mein Bett sinken ließ.
„Und das bekommst du noch dazu, obwohl du es gar nicht verdient hast“, sagte Ulrike. Sie beugte sich zu mir herab, strich das Haar aus meinem Gesicht und küsste mich auf den Mund. Ich fasste sie um die Taille und wollte sie aufs Bett herabziehen, aber sie stemmte sich mit den Fäusten gegen die Wagenwand und machte sich von mir frei. „Du gewalttätiger Mensch“, sagte sie in gespieltem Ernst, aber mir entging nicht, dass ihr Groll gegen mich noch immer nicht ganz abgeklungen war.
„Bin ich ja. gar nicht“, sagte ich und griff nach ihrer Hand.
„Hast du hier wenigstens so etwas Ähnliches wie eine Vase?“ Sie ging zum Fenster und zog den Vorhang auf. „Draußen ist heller Tag, und du ... Warum musstest du auch mit den Kerlen von nebenan lange Nacht machen?“
„Nun schimpf nicht gleich mit mir“, sagte ich. „Ich habe schließlich Geburtstag. Da könntest du wirklich etwas freundlicher sein.“
Ulrike hatte hinter dem Vorhang, der mein Wohnabtei! von dem Gerümpelverschlag in der anderen Hälfte des Wagens trennte, eine Konservenbüchse gefunden und stellte die Feldblumen hinein. „Ganz schön primitiv“, meinte sie kopfschüttelnd, ging hinaus und kam mit der wassergefüllten Büchse zurück. „Mach endlich, dass du dich anziehst“, sagte sie. „Ich habe bei uns den Frühstückstisch gedeckt. Sogar frische Brötchen gibt es!“
„Prima!“ Ich sprang die Stufen hinunter. Das kalte Wasser, das aus der Zapfstelle gleich neben meinem Wagen sprudelte, machte mich im Nu munter, und ich fühlte mich plötzlich wie neugeboren. Ulrike stand in der Tür und sah mir beim Waschen zu; in meinem Übermut bespritzte ich sie mit dem eiskalten Wasser, dass sie kreischend ins Wageninnere zurücklief.
„Du bist gemein!“, rief sie. „Eine Viertelstunde habe ich vor dem Spiegel gestanden. Extra für dich. Jetzt sieh dir bloß mal meine Haare an! Und meine Bluse ist auch pitschnass!“
„Zieh sie doch aus“, sagte ich, während ich mich mit dem Handtuch trocken rieb, „mich würde das nicht im Geringsten stören.“
„Kann ich mir denken, du.“
Als ich in den Wagen zurückkam, riss sie mir das Tuch aus der Hand und trocknete sich das Gesicht ab. Dann drückte sie vorsichtig an ihrer Frisur herum, indem sie gebeugt vor dem Fenster stand und sich in der Scheibe spiegelte. „Ekel!“
„Hast du noch mehr dieser hübschen Wörter auf Lager? Du steigerst dich langsam .... Mit Schlafmütze hat’s begonnen ... Was kommt nun dran?“
„Du wirst dich wundern, wenn ich erst mal richtig loslege! Das kann ganz schnell passieren! Ich war wirklich ganz schön wütend auf dich, und eigentlich hatte ich überhaupt nicht kommen und dir gratulieren wollen.“ Ulrike trat an mich heran, wischte mir wieder die Haare aus dem Gesicht und nahm meinen Kopf so vorsichtig in ihre Hände, als wäre er ein Luftballon, der platzen könnte. „Warum musstest du denn wieder mit den Brüdern von da drüben trinken? Lass dich doch nicht dauernd von denen einwickeln! Merkst du denn nicht, dass die dich bloß ausnehmen? Die suchen doch nur einen Dummen, der für sie bezahlt!“
„Nein, nein!“, sagte ich und nahm ihre Hände herunter. „Ich hatte einfach Lust, das ist es. Und jetzt höre damit auf! Du kannst einem die ganze Geburtstagsstimmung verderben.“
„In Stimmung warst du gestern Abend genug, oder besser gesagt, heute früh. Man hat euch über den ganzen Platz prahlen hören.“
Ich spürte, dass mich das nächste Wort dieser Art hochbringen würde. Schon jetzt musste ich an mich halten, um ihr nicht in gleicher Weise über den Mund zu fahren. Was bildete sie sich denn ein! Brauchte ich etwa ihre Genehmigung, wenn ich mit einigen Jungs einen hinter die Binde gießen wollte? Wir lebten hier auf dem Rummel und nicht im Kloster. „Hör mal“, sagte ich und bemühte mich, ruhig zu bleiben. „Ich kann es einfach nicht haben, wenn mich einer dauernd wie ein kleines Kind an die Hand nehmen will, verstehst du? Ich will mich aber auch nicht mit dir streiten, heute schon gar nicht. Sei also jetzt friedlich.“ Ich strich ihr dabei über den Arm und tastete mich, schrittweise einen Finger vor den anderen setzend, zu den Knöpfen ihrer Bluse vor. Ich war darauf gefasst, dass sie sich brüsk abwenden würde, aber zu meiner Überraschung hielt sie still und blickte mich in einer Weise an, die mir Mut machte und meine Finger angriffsfreudiger. Ich schob meine Hand unter ihre Bluse und nahm ihre warme glatte Haut wahr, von der ich wusste, dass sie wie ein frisch polierter Apfel glänzte. Ich drückte Ulrike sanft auf das Bett hinunter und küsste sie. Aber nun spürte ich, dass sie es unwillig geschehen ließ.
„Was ist los?“, fragte ich und folgte mit meinem Blick ihrer Kopfbewegung. Da entdeckte ich, dass die Wagentür noch immer weit offenstand und sich im Wagen nebenan die Gardine bewegte, hinter der ein heller gesichtsrunder Fleck zu erkennen war.“
Erstmals 1979 veröffentlichte Hans-Ulrich Lüdemann im Kinderbuchverlag Berlin sein Kinderbuch „Plumpsack geht um“, das er seinem Vater gewidmet hat: Der 14-jährige Lutz Grieben versucht, die Lebensgeschichte seines Vaters zu ergründen. Ist etwas dran an den üblen Verdächtigungen, dieser habe mit den Nazis zusammengearbeitet? Was sagen die Zeitzeugen? Werden diese alten Genossen überhaupt mit ihm reden? Es heißt, dass in einer Diktatur die Zensur bei Büchern sich der Ideologie bedient, während in einer Demokratie die Zensur ebenso gnadenlos durch den Markt ausgeübt wird. Im Jahr 1977 verunfallt der 33-jährige Schriftsteller Hans-Ulrich Lüdemann während seines Wehrpflichtdienstes durch die Schuld eines Offiziers, in der Folge bleibt er für den Rest des Lebens hochgradig querschnittgelähmt. Nach zehn Monaten im Lazarett erhält er vom Verlag den Andruck seines Manuskriptes „Plumpsack geht um“. Noch immer gezeichnet von schweren körperlichen und seelischen Einbußen beginnt er die so genannte Autor-Korrektur zu lesen. Sein anfänglicher Groll über die ohne sein Wissen vorgenommenen Textänderungen schlägt geradezu in Wut um, als er begreift, dass immer dann, wenn seine Story kritische Details über die alltäglichen Zustände in der DDR enthält, diese Passagen gestrichen beziehungsweise durch eine andere Lesart ersetzt worden sind. Hans-Ulrich Lüdemann mobilisiert die letzten ihm verbliebenen Kräfte und macht nun seinerseits fast alle willkürlichen Änderungen an seinem Manuskript mittels Tonband-Diktat wieder rückgängig. Schließlich handelt es sich zum Teil um authentische, also um in der eigenen Familie verbürgte Geschehnisse. Gleichzeitig beschwert er sich beim Verlagsleiter Fred Rodrian. Dieser, mit dem Autor freundschaftlich verbunden, zeigt viel Verständnis für dessen Zorn. Zwar weiß er nicht zu sagen, wer derjenige war, der jene Streichungen oder Zusätze vorgenommen hat; er verspricht, dass das Buch in der Fassung gedruckt wird, die der Autor nunmehr abliefern soll. So kann es geschehen, dass das DDR-Kultur-Ministerium ein im Sinne der Ideologie korrigiertes Manuskript mit dem 3. Preis für Kinder- und Jugendliteratur auszeichnet (der erste Preis wird Gerhard Holtz-Baumert zugesprochen, der zweite Alfred Wellm), erscheinen wird aber das frei von Streichungen oder Zusätzen vorliegende Buch „Plumpsack geht um“. Als der oberste Zensor, Genosse Müller, diese Panne mitbekommt, droht er anfangs den Beteiligten mit einschneidenden Konsequenzen, unterlässt jedoch alle Restriktionen aus Furcht, wegen des Vorwurfs mangelnder Aufsicht selbst davon betroffen zu werden. Wie Ohrenzeugen des Telefonats später erklärten, fürchtete er, wegen dieses politischen Lapsus nach Bautzen verbracht zu werden. Das „Gelbe Elend“ in Bautzen verstand sich einst als Metapher für inhaftierte Gegner des SED-Regimes. Heute ist leicht lachen über so eine Chose, im Jahre 1980 hätte dieser Vorfall in der DDR tatsächlich für die Betroffenen über Sein oder Nichtsein entscheiden können. Hören wir, was Lutz Grieben am frühen Morgen zu sagen hat:
„6 UHR 55
„Verdammtes Insektengeschmeiß!“, murmle ich schlaftrunken. Mein rechter Arm fährt vor dem Gesicht hin und her wie ein Scheibenwischer. Aber das störende Geräusch bleibt. Ich riskiere ein Auge, schließe es wieder. Sekunden später springe ich mit einem Satz aus den Federn. Die Fliege war ein Irrtum.
„Der blöde Wecker macht noch das ganze Haus mobil!“ Mit dem Daumen drücke ich den Kontaktstift herunter. Die eintretende Stille ist mir unheimlich. Mich fröstelt. Ich reibe kräftig die Oberarme und kämpfe gleichzeitig gegen den Wunsch an, unter die warme Steppdecke zu kriechen. Aber die Schule! Langsam greife ich nach den Hosen. Donnerwetter! Grete hat vier Knöpfe angenäht. Endlich passen die Hosenträger von Großvater selig. In der Klasse werden sie Stielaugen kriegen. Solche urigen Dinger hat noch keiner angeschnallt. Mindestens fünf Zentimeter breit sind die Gurte ...
Ich schrecke zusammen. Vor dem Haus knallt laut ein Auspuff. Mit wenigen Schritten bin ich am Fenster. Der Riegel klemmt etwas beim Öffnen. „Grete, was meine Mutter ist, liebt frische Luft, Freunde!“ Ich nicke meiner ausgestopften Eule Meta einen guten Morgen zu. „Besonders in meinem Zimmer. Von wegen Flohkiepen auslüften.“
Ich lehne mich an die Schreibplatte. Blicke in die Runde. Klein, aber mein! Das Zimmer misst höchstens neun Quadratmeter. Zentral geheizt. Komfort ist heute selbstverständlich. Aber die Größe! Ich schniefe durch die Nase: Bis ich heiraten werde, ist das längst geklärt. Davon bin ich felsenfest überzeugt.
Ich betrachte mir meine Menagerie. Flohkiepen! Da muss man sich an den Kopf fassen. Warum legt Grete sich deswegen immer mit mir an. Sie weiß doch, auf meine Freunde lasse ich nichts kommen: Die Graugans Alma mit ihrem leicht gelichteten Gefieder. Der einäugige Fuchs, den ich aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen Nulpes getauft hatte. Das Wiesel, dem der Blutrausch im Taubenschlag zum Verhängnis geworden war. Der Kolkrabe, den ich von einem betrunkenen Seemann geschenkt bekam ...
War gar nicht einfach gewesen, an Bücher ranzukommen, in denen beschrieben steht, wie Tiere präpariert werden. Die Schule, speziell Bio-Zachert, wollte oder konnte mir nicht helfen. Statt einen Mumien-Zoo anzulegen, war ich angehalten worden, mich erst einmal eingehend mit dem Unterrichtsstoff im Fach Biologie zu befassen ...
Nicht immer leicht, mit den Großen auszukommen. Wenn die eine Meinung haben, tun sie sich überhaupt keinen Zwang an! Mumien-Zoo! Ich hab's nicht gezeigt, aber Zachert hatte mich ziemlich angeschlagen. Dabei sammele ich Tiere und Fotos von Tieren, um ihre Verbreitung auf unserem blauen Planeten darzustellen.
Grete denkt wie Bio-Zachert. Und auch Grete denkt nicht nur so — sie tut es ebenso kund! Ich dagegen, ich muss trotz meiner vierzehn Jahre reiflich abwägen, ob ich beispielsweise den von Grete über alles geliebten Zimmerbrunnen als Kitsch abtun darf.
Egal! Alles muss seinen normalen Gang gehen! Ich stemme mich hoch. Mein Gesicht sieht bestimmt aus wie eine ungeschälte Kartoffel: Jeden Morgen waschen! Dass da noch nichts erfunden wurde. Ich zieh den Kopf ein, um nicht mit den Drähten ins Gehege zu kommen, die ich von den Tieren und Fotografien zu der an der Wand hängenden Weltkarte gespannt habe. Standortbestimmung ist das, habe ich bei passender Gelegenheit meinen Leuten zu Hause erklärt. Als Otto erbost Mutter rief, weil ein feines Drähtchen ihm das Ohrläppchen geritzt hatte. Sonst kann mein Stammvater eine Menge ab, aber wenn er Blut sieht! Und noch dazu sein eigenes. Jedenfalls, beide fingen an, auf mich einzureden. Ich blieb hart. Wich um keinen Draht von der globalen Kennzeichnung ab. Als Otto was von lebensgefährlicher Freileitung knurrte, erklärte ich mich doch bereit, den feinen Trafodraht gegen einen etwas stärkeren auszuwechseln. „Aber nimm gefälligst einen“, stieg Otto sofort ein, „den man erkennen kann, bevor er einem Gesicht und Hals verziert.“
Auf dem Weg zum Bad schaue ich in die Küche. Ich schüttele den Kopf. Da ist aufgetischt, als wäre ich eine neunköpfige Raupe! Mit dem entsprechenden Appetit! Grete glaubt wohl, wir haben in den zwei Tagen auf unserem Klassenausflug zur Kunstausstellung in Dresden nicht genug zu essen bekommen. Vertan die Zeit, am Frühstückstisch zu sitzen. Meine Devise lautet: Das Brot ist in die Faust zu nehmen! An der frischen Luft, auf dem Schulweg also, ist die Mahlzeit viel gesünder! Leider hält Grete von meiner Weisheit nicht sehr viel. Zumindest, was dieses Thema angeht.
Gerade als ich mich tiefer zum Spiegel beuge, um die dunklen Punkte - Ansätze eventueller Barthaare - auszumachen, da klingelt das Telefon. Ich lasse mir Zeit. Ein Bein vors andere, so balanciere ich in den Flur. Ist bestimmt die spleenige Sylvia. Fragt nach dem neuen Stundenplan. Aufdringlich in der letzten Zeit, das Mädchen. Ich werde ihr mal ein paar Takte sagen müssen. Endlich reiße ich den Hörer ans Ohr. „An der Muschel?!“
„Wer ist dort?“
„Dein Sohn in höchsteigener Person, Frau Grete Grieben!“ In diesem Moment könnte ich mich küssen vor Wohlbehagen. In der Morgenstunde ein Gag, verliert die Schule jeden Schreck. Oder so ähnlich ...
„Sei nicht albern, Lutz! Ich soll dir von Vater einen schönen Gruß bestellen ...“
Stille. Ich presse den Hörer fester ans Ohr und will schon rufen, ob die Post wieder eines ihrer Verwechsel-Das-Telefon-Spiele oder den Leitungsknoten drauf hat, als Grete wiederholt, dass Vater mir schöne Grüße bestellt! Ich antworte gelassen wie ein Königspudel nach der Schur: „Danke!“
Grete räuspert sich und redet weiter: „Vater ist schon heute morgen um sieben abgefahren. Seine Kur ist vorverlegt worden. Du hast gestern schon geschlafen, als wir nach Hause kamen. Hat dir die Klassenfahrt gefallen? Ist doch alles in Ordnung, Junge?“
Ich atme tief durch. Ich weiß jetzt Bescheid. Lasse Grete aber noch etwas zappeln. „Alles in Ordnung“, sage ich dann. „War 'ne prima Sache in Dresden. Nur ziemlich müde war ich.“
„Hab ich dich geweckt, Lutz?“
„Nein!“ Mein Gähnen würde ein Rudel Löwen an Gewitter glauben lassen.
„Hört sich an, als wenn Kühe auf der Wiese stehen und aufs Melken warten“, reagiert Grete prompt.
„Du kennst dich aus auf dem Land, Muttchen. Vielleicht krieg ich mal eine ausgestopfte Kuh für meine Sammlung.“
„Was ich sagen wollte“, lenkt Grete sofort ab, „du hättest deinen Vater sehen sollen! Wie aufgeregt er war. Das erste Mal in seinem Leben zur Kur. In dem Alter!“
„Lass ihn das bloß nicht hören“, warne ich.
„Was?“
„Dass er fast zwanzig Jahre älter ist als du.“
„Wer redet denn davon, Junge. Stell dir vor, der Betrieb war auf dem Bahnhof vertreten. Der Genosse Buttlich ...“
„Donnerwetter! Der Genosse Buttlich!“ Wer um alles in der Welt ist dieser Genosse Buttlich, dass Grete beinahe ehrfürchtig von ihm spricht!
„Toll, was? Immerhin ist er Vaters Betriebsleiter!“
„Betriebsleiter?“
„Aber Lutz! Ich denke, du kennst ihn!“
„Wen?“
„Genossen Buttlich! Den Betriebsleiter vom Kraftverkehr!“
Gretes Stimme klingt ungeduldig. Trotzdem sage ich betont desinteressiert: „Ach, den!“ Grete seufzt. Ich griene. Stelle mir ihr verdutztes Gesicht vor. Kleine Revanche für — Flohkiepen auslüften. Gretes Schweigen dauert mir zu lange.“
Erstmals 1983 machte der Verlag Neues Leben Berlin den Leserinnen und Lesern ein Geschenk mit dem Buch „Kuckucksrufe und Ohrfeigen“ von Waldtraut Lewin: Elf Erzählungen der bekannten Autorin, die entstanden sind während eines Jahrzehnts — Künstlergeschichten, Liebesgeschichten, Geschichten im Spannungsfeld von Realität und märchenhafter Fantastik. Erzählt wird von der skrupellosen jungen Sängerin, die dennoch ihr Publikum bezaubert, von Kurek, dessen Motorrad plötzlich fliegen kann, und von der Chilenin Teresa, deren Lieder verstummt sind. Eine Braut schmückt sich zur zweiten Hochzeit mit demselben Mann und gewinnt dabei zum ersten Mal Klarheit über ihren Partner. Die junge Straßenkomödiantin Olga sucht in den Wirren brasilianischer Gegenwart nach einem festen Halt. Der ungebärdige Lyriker Jonas Alexander Dort wehrt sich gegen den Vorwurf, seine Freundin geohrfeigt und misshandelt zu haben. Mutter und Tochter finden auf der Insel der Kuckucksrufe wieder zueinander … Elf Erzählungen voller Poesie und Fabulierkraft, die mit glücklichem Zugriff Zeitgeschichte lebendig machen. Wir präsentieren hier den Anfang der Erzählung, die auf der Insel der Kuckucksrufe spielt und deren Titel auch genau so heißt:
„Kuckucksrufe auf der Insel
Gilberta war schweigsam und saß nach dem Begrüßungskuss in sich versunken vorn in dem Boot. Sonja hatte gedacht, ihre Nichte würde sich darum reißen, selbst zu rudern, aber die saß nur da, die Kapuze des Regenmantels überm Kopf, obgleich kein Tropfen vom Himmel fiel, zu ihren Füßen der Beutel mit den Sachen. Sie wollte die Ferien bei ihrer Tante auf der Vogelschutzinsel verbringen. Sonja handhabte die Ruder mit Kraft und sah von Zeit zu Zeit forschend in das stille und runde Gesicht, in dem der Mund schon fraulich war mit dem schönen plastischen Amorbogen. Gilberta war dreizehn.
Die Insel tauchte aus dem Nebel auf wie ein großes Tier aus alten Zeiten. Sonja hielt die Bootsnase geschickt gegen die Strömung. Es war ein Kunststück, so schnell vom Ufer zur Insel zu gelangen, noch bevor der Morgennebel fort war. Die Insel hatte manchmal etwas Tückisches, sie verschloss sich den Menschen. Oft in Nebeln versunken, von Dunkelheit umfangen, gab es wieder Zeiten, wo sie so klar und verlockend vor den Augen der Uferbewohner lag, dass man meinte, hinlangen zu können. Aber es war Hochwasser, der Steg überflutet. Das Wehr in der Nähe rauschte. Vor fünf Jahren war ich schon einmal hier, und alle glaubten, es habe mir gar nicht gefallen. Aber ich musste einfach abreisen, weil die Stimmen zu heftig wurden, um ihnen länger zu widerstehen. Und ich wollte doch bei ihr sein.
Meine Mutter heißt Anna. Ich liebe sie, und sie hat mich betrogen. Anna, Verräterin. Wer seinen Schwur bricht, bricht bald das Genick, sagte ich. Sie schwor es bei Feuer und Wasser, bei Nachbars schwarzer Katze und dem kleinen Leberfleck auf meiner linken Schulter, und sie besiegelte es mit einem Kuss. Nein, das war nicht im Spaß. Solche Eide kann man nicht im Spaß schwören. Anna, Verräterin, schwurest, ganz allein mein zu sein und keinen auf der Welt lieber zu haben als mich.
Der Eid wurde gebrochen. Ich fahre zur Insel, zu den Stimmen.
Die Nebel wichen zurück, gerade als sie an der Insel anlegten, und ließen den taufeuchten Wald in der jähen Kraft der Sonne aufleuchten. In den fünf Jahren, die Gilberta nicht hier gewesen war, hatte sich der Schilfgürtel um das Doppelte ausgedehnt. Auch die Furt und der Pfad zu Sonjas Haus waren fast zugewachsen. Das Dach, das man damals noch von der Landestelle aus zwischen den Buchen schimmern sah, war nun verschwunden.
Sonja und Gilberta gingen hintereinander den schmalen Weg, das Mädchen trug seinen Reisebeutel, die Frau hatte sich mit den Taschen voller Lebensmittel beladen, die sie gleich im Dorf eingekauft hatte. Sie sagten nichts. Ringsherum war das vielstimmige Getöse der Vögel, um derentwillen Sonja hier lebte, nun schon fast zehn Jahre, eine einsame Frau auf einer einsamen Insel.
Die Bauern und Fischer vom Flussufer hielten sie für eine wunderliche Person und nicht ganz geheuer. Sie beschäftigte sich neben ihrer Ornithologie mit dem Wunderglauben und den magischen Gebräuchen, besonders in dieser Gegend, hatte eine Sammlung von Sprüchen unter dem Titel „Hexeneinmaleins“ herausgegeben und dafür einen Preis vom Kulturbund erhalten. Weit über die Landschaft hinaus berühmt waren ihre skurrilen Keramiken, die sie in einem alten Brennofen der Insel herstellte. Dass sie zudem noch mehrere bekannte Bücher über Vogelkunde veröffentlicht hatte, wussten die Frauen des Ufers nicht, die lächelnd meinten, sie sei ein bisschen schrullig, denn welche Frau wolle wohl so allein sein, sie wäre denn eine Hexe und lebe mit dem Teufel in Buhlschaft.
Sonjas Schwester Anna, die Mutter von Gilberta, hatte nach der Geburt des Mädchens alle Fäden abgestreift, die sie mit anderem verbunden hatten. In den ersten Jahren dachte Sonja, das Leben der beiden sei wie in einem Glashaus, und fürchtete, es könnten Steine kommen. Aber Gilberta wuchs heran, und weder die Schule noch Annas Beruf konnten die Brutglocke zerstören, in der sie beide beieinandersaßen, wenn sie sich hatten.
Gilberta war zehn, als Anna Volker kennenlernte, und wider Erwarten schien die Verbindung von Mutter und Tochter durchaus noch Platz für einen Dritten zu lassen. Das Mädchen benahm sich mustergültig. Sie war einsichtig, kameradschaftlich zu dem Mann, verständnisvoll, wenn die beiden allein sein wollten — eine Bilderbuchtochter. Als er dann ging, war Anna in tiefster Seele erschrocken über den ekstatischen Freudenausbruch des Kindes. Gilberta lachte, schrie, tanzte und sprang über Tische und Bänke. Später behauptete sie, sie habe ihn weggehext, mit den Sprüchen und Faxen, die ihr Sonja aus Spaß gezeigt hatte, als sie das erste Mal auf der Insel gewesen war.
Danach, als sie einander im Arm lagen, auf der großen Schaukel im Garten, über sich den Abendhimmel, nahm sich Anna vor, nicht wieder so schnell etwas zwischen sich und ihre Tochter kommen zu lassen.
Wer seinen Schwur bricht, bricht auch bald das Genick. Aus der Schule die Einsen wie gewöhnlich, auch als dieser Ewald auftauchte. Anna fand es besser, ihn gleich zum Mittagessen einzuladen, keine Heimlichtuerei. Als sie sah, wie sehr Gilberta erblasste bei dem Kuss, den sie ihm gab, sah sie ihr trotzig in die Augen. Das Kind biss sich auf die Lippen, so sehr, dass ein Blutstropfen hervortrat, ein einziger Tropfen, nicht größer als der, den die Gänsemagd im Taschentuch am Herzen trägt. Morgens fand Anna auf der Terrasse einen Strohwisch, auf dem der abgerissene Kopf von Gilbertas Lieblingspuppe lag. Gilberta erklärte, von nichts zu wissen und die ganze Nacht geschlafen zu haben, süß und selig geschlafen.
Ihr Schulzeugnis war glänzend. Als Anna sie zur Belohnung zum Eisessen einladen wollte, fand sie sie beim Packen. Sie wolle in den Ferien zu Tante Sonja, sagte sie gleichmütig. Die Mutter möge das Telegramm schicken. Der Blick ihrer grauen Augen war klar und ausdruckslos. Der Mann, jener Ewald, war seit vierzehn Tagen nicht mehr gekommen.
Während Sonja den Brief ihrer Schwester las, bereitete sich Gilberta vor, die Insel zu erkunden. Die Tante warf ihr einen Blick über den Brillenrand zu. „Geh nicht ins Innere, stör die Vögel nicht. Du kannst fischen und baden, soviel du willst, aber lass dir die Zeit nicht lang werden. Du weißt, dass ich mich nicht um dich kümmern kann. Das Essen steht in der Röhre. Wie lange willst du bleiben?“
Gilberta zuckte die Achseln.
„Im September sind die Ferien vorbei.“
„Ich könnte mit dem Kahn in die Dorfschule fahren.“
„Und wenn der Steg unter Wasser ist?“
Statt einer Antwort fragte Gilberta: „Du hast mir damals so Dinge erzählt ....“
Die Tante lächelte. „Ja, und dann wolltest du fort, weil du Angst hattest.“
„Jetzt habe ich keine Angst mehr“, sagte das Mädchen und schlüpfte zur Tür hinaus.
Sonja las: „Als sie mir den Abschiedskuss gab, war das wie ein Tupfer.“ Sie blickte auf. Gilbertas gelber Regenmantel bewegte sich zunächst zum Wasser hinunter. Dann sah sie, dass ihre Nichte den Pfad verlassen hatte und nach rechts ging, ins Inselinnere. Sie lächelte noch einmal.
Es war nun wieder wie vor fünf Jahren, nur dass diesmal der Schmerz dazukam. Anna, Verräterin. Damals hatte sie die Sprüche gehört und geschaudert und hatte sie halb geglaubt und halb nicht geglaubt, und im Innern der Insel hatte sie den uralten Brennofen gefunden und war gebeten worden zu bleiben. Damals wollte sie nicht, weil ihr Anna teurer war als alles auf der Welt.
Sie ging am Leitseil der Vogelrufe durch Brennnesseln und wild wucherndes Gehölz. Der Baum mit den wilden Kirschen war vom Sturm geknickt. Keine Menschenseele nah und fern. Als sie den Kuckuck hörte, wusste sie, dass sie gleich da war. Sie versuchte zu zählen, aber sie kam immer wieder durcheinander. Dann, und so, dass es noch mit dem Vogelruf zu verwechseln war, drang es das erste Mal an ihr Ohr, ein melismatischer Singsang von weit her, so etwas wie „Komm du“ — oder war es doch der Kuckuck? Nein, es war ganz anders.
Gilberta brach durchs Gesträuch. Da war der Brennofen, mitten auf der kleinen Waldwiese, da standen die schon fertigen Figuren herum. Das Mädchen war außer Atem. Im Ofen loderte es. Die Stimmen waren ganz nah. „Ich bin zurückgekommen, ich, Gilberta.“
Es steht geschrieben: Manchmal geschieht es, dass die Kobolde einer armen Frau einen Wechselbalg unterschieben, weil sie selbst Sehnsucht haben nach einem süßen kleinen Kindchen. Dann scheint der armen Mutter ihr Kind ganz verwandelt, es greint, ist ungezogen und wird von Tag zu Tag hässlicher. Da hilft nur eins: Welche Frau glaubt, die Kobolde hätten ihr Kind ausgewechselt, die muss auf dem Herd in der Küche ein Feuer entzünden, Eierschalen nehmen und darin Wasser zum Sieden bringen. Und wenn das Wasser kocht, wird sich der Balg in der Wiege aufrichten und sagen: „Nun bin ich so alt / wie der Böhmerwald / und hab noch nie gesehen / dass man Wasser in Eierschalen kocht.“
Und wird so lange lachen, bis er sich fortgelacht hat, dann liegt am nächsten Tag das Kind wieder in der Wiege.
Gilberta aber verwunderte sich. Was es dabei zu lachen gäbe. Von ihr aus könne Anna so viel Wasser in Eierschalen sieden, wie sie wolle.
Es brach durch die Büsche.
Ein Mann in Gummistiefeln und abgetragenem Cordanzug, unrasiert, einen Stock in der Hand und einen Birkenzweig am Rockaufschlag, stand plötzlich vor Gilberta und starrte sie aus wässrigen Augen an. Das Mädchen unterdrückte mit Mühe den Aufschrei.“
2013 veröffentlichte EDITION digital sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book „Das Jakobsweg-Komplott“ von Ulrich Hinse, das sich schnell zu einem Bestseller des Verlages entwickelte. Mysteriöse Morde lassen die Pilger auf dem Jakobsweg von den Pyrenäen bis Santiago de Compostela erschaudern. Zufällig wurde einer der Pilger, der deutsche Kriminalhauptkommissar Raschke aus Mecklenburg-Vorpommern, Zeuge einer Tat. Zunächst scheint die Begegnung zufällig. Dann jedoch beginnt eine Mordserie, die parallel zur Pilgerwanderung des Polizisten geschieht. Auch auf Raschke, der offenbar als lästiger Zeuge beseitigt werden soll, werden Anschläge verübt. Für die spanische Polizei wird der Deutsche zum Lockvogel, der sie zu den Tätern führen soll. Schon bald zeichnet sich ab, dass es bei den Morden um das verschwundene Gold der Templer geht und die Jagd nach dem Killer erst in Santiago de Compostela zu Ende sein könnte. Gelingt der spanischen Polizei rechtzeitig die Entlarvung der Täter und Hintermänner oder schaffen es die einfallsreichen Mörder, den deutschen Pilger aus dem Weg zu räumen? Ein spannender Krimi über den Jakobsweg und das Mysterium des Templerschatzes. Dieses Mal präsentieren wir einen Leseausschnitt, der nicht am Anfang des Buches, sondern etwas weiter in der Handlung spielt. Kriminalhauptkommissar Raschke hat eine Entscheidung getroffen und geht zur spanischen Polizei. Aber würde die glauben, was ihnen ihr deutscher Kollege zu erzählen hat:
„Der Zeuge
Er wurde sehr früh von den abmarschierenden Pilgern durch lautes Gepolter auf dem Flur geweckt. Gleich mehrere Gäste stolperten über ein kleines Holzschränkchen, das direkt an der Wand neben seiner Zimmertür stand. Aber jetzt war endlich das Bad frei. Mit seiner zweckentfremdeten Wasserflasche unter dem Arm ging er in das kleine Bad und duschte ausgiebig. Er fühlte sich wie gerädert. Dann suchte er sich in der Innenstadt eine kleine Bar, um dort zu frühstücken. Nicht wie er es von zu Hause gewohnt war mit Brötchen, Wurst und Ei, sondern mit einem typisch spanischen Frühstück. Einem süßen Hörnchen und Marmelade.
In einem kleinen Souvenirladen unter den Bogengängen an der Plaza del Castillo, dem zentralen Platz mitten in der Altstadt, kaufte er eine kleine, silberne Jakobsmuschel, die er an seine Halskette neben einen silbernen Elefanten, den ihm seine Frau zum Abschied geschenkt hatte, hängte. Vor einem Schaufenster, in dem Taschen aller Art und Größen ausgestellt waren, fiel ihm ein, dass er unbedingt eine wasserdichte Umhängetasche brauchte, wollte er nicht wegen jeder Kleinigkeit, die er gerade brauchte, seinen Rucksack abnehmen. Er fand das zwar albern, als gestandener Mann mit einer Umhängetasche herumzulaufen, aber sie erwies sich als ungemein praktisches Utensil.
Obwohl es wieder leicht regnete und mit elf Grad für Anfang Mai rattenkalt war, besichtigte er einige Kirchen, störte durch sein Husten eine Hochzeitsfeier und spazierte, nachdem ihn der Brautvater mit einem strengen Blick aus der Kirche vertrieben hatte, über die alte Zitadelle in den Park de Taconera mit seinem kleinen Zoo. Doch er ärgerte sich, weil er nicht schon auf dem Camino Richtung Santiago de Compostela wanderte.
Gerade als er an der Stadtmauer nahe der Plaza Virgen de la O eintraf, kam ein kräftiger Schauer vom Himmel. Raschke stellte sich in einem alten Torwächterhäuschen oben auf der Mauer unter. Einige Einheimische mit Schirm hasteten an ihm vorbei über die kleine Brücke durch das Stadttor, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, obwohl er in dem Häuschen stand wie ein Wachtposten aus vergangenen Zeiten. Durch eine große, glaslose Fensteröffnung hatte er einen schönen Blick hinunter zum Rio Arga, dessen lehmig gelbe Fluten gut dreißig Meter unter ihm zwischen den Bögen der Puente de la Rochapea in wilden Wirbeln hindurchschossen.
Sein Blick blieb an zwei Personen hängen, die etwa hundert Meter entfernt mitten auf der Brücke heftig gestikulierend diskutierten. Der große, schlanke Mann, der ihm den Rücken zudrehte, trug eine leuchtend rote Jacke, die seiner eigenen zum Verwechseln ähnlich sah. Ein schwarzes Basecap mit großem Schirm verdeckte sein Haar. Der zweite Mann, er war etwas kleiner und deutlich rundlicher als sein Gegenüber, hatte Jeans und eine helle Sommerjacke an, aus der er umständlich ein kleines Päckchen herauszog, um es seinem Gegenüber zögernd zu übergeben. Als der danach griff, zog der Rundliche es wieder zurück. Es entstand eine Rangelei, weil keiner der beiden den Gegenstand loslassen wollte. In diesem Moment fuhr ein großer LKW mit Anhänger über die Brücke und verdeckte Raschke die Sicht. Als er nach wenigen Sekunden vorbeigefahren war, stand der große Schlanke mit der roten Jacke und dem Basecap allein auf der Brücke und starrte über das Geländer auf das gurgelnde Wasser. Der Mann in der hellen Sommerjacke war verschwunden.
Raschke spürte plötzlich einen Kloß im Hals. Der Rundliche musste über das relativ niedrige Geländer in den Fluss gestürzt sein. Eine andere Erklärung für die Situation gab es nicht. Wäre der Mann weggelaufen, müsste er noch irgendwo zu sehen sein. In der kurzen Zeit hätte er weder in der einen wie in der anderen Richtung die Brücke ungesehen verlassen können. Außerdem hätte es für den Schlanken keinen Grund gegeben, suchend in den Fluss zu blicken. Der nach einigen Sekunden des regungslosen Verharrens vom Geländer zurücktrat, das schmale Päckchen in seiner Jacke verstaute und sich suchend umsah. Er schien sich vergewissern zu wollen, dass ihn niemand beobachtet hatte. Dabei fiel sein Blick auf den von der Stadtmauer fassungslos herunterschauenden Pilger, dessen auffällige, rote Regenjacke mit der davor an einer Lederschnur baumelnden großen Jakobsmuschel selbst einem flüchtigen Blick nicht verborgen bleiben konnte. Außerdem trug Raschke noch immer den breiten, hellen Sombrero, weil er ja mit Sonne und nicht mit Regen gerechnet hatte. Der Schlanke fixierte den auf ihn hinunterstarrenden Deutschen. Er schien sicher zu sein, dass sein Gesicht unter dem Schirm des Basecap nicht zu erkennen war, wandte sich ab und ging ohne Eile in Richtung Stadtmauer, wo er zwischen den Bäumen des darunter liegenden Parks verschwand.
Raschke schaute auf die schmutzigen Fluten des Rio Arga, um vielleicht noch etwas von dem Gestürzten zu erkennen. Aber das dreckige, mit Ästen, kleinen Baumstämmen und allerlei Müll durchsetzte Wasser strömte zu schnell und zu wild, als dass er große Hoffnungen haben könnte, noch etwas zu erkennen. Nach wenigen Metern wurde die Sicht auf den Flusslauf zudem von hohen Bäumen verdeckt. Raschke starrte noch einige Minuten reglos auf das Wasser. Er konnte nicht glauben, was er gesehen hatte.
Der Regenschauer hatte inzwischen aufgehört und langsam gewann der deutsche Kriminalbeamte seine Fassung wieder. Natürlich hatte er andauernd im Dienst mit Gewaltopfern, Verunglückten und Leichen zu tun. Aber noch nie war er selbst Zeuge eines Verbrechens geworden. Und dass es sich hier um ein Verbrechen gehandelt hatte, daran bestand für ihn keinerlei Zweifel. Er musste zur Polizei und den Vorfall melden. Aber was sollte er sagen?
Das zu erzählen, was er gesehen hatte, erschien ihm absurd. Wahrscheinlich würden ihn die spanischen Kollegen ansehen, als ob er seiner Sinne nicht mächtig sei. Auf einem kleinen Zettel notierte er sich die Uhrzeit und einige Stichpunkte zur Kleidung des schlanken Mannes sowie seines Opfers. Dann suchte er in seinem Wanderführer den Hinweis auf die Polizei und machte sich auf den Weg über den Plaza del Castillo, am Palast des Gouverneurs von Navarra vorbei und die Pasea de Sarasate entlang zum Gebäude der Policia National. Immer wieder überlegte er, was er den spanischen Kollegen erzählen wollte.
Als er schnaufend und schwitzend in die schwer gesicherte Eingangshalle des Polizeipräsidiums trat, wurde er von dem hinter einer schusssicheren Scheibe sitzenden uniformierten Diensthabenden neugierig gemustert. Raschke versuchte vergeblich, sich auf Spanisch verständlich zu machen. Seine Kenntnisse reichten nicht aus. Erst als der Uniformierte verstand, dass der aufgeregte Pilger vor der Trennscheibe ein deutscher Kriminalbeamter sein musste, offenbar hatte das Wort Kommissar das bewirkt, bequemte er sich zu einer Reaktion. Er telefonierte mehrmals und machte Raschke dann wort- und gestenreich klar, dass gleich ein Deutsch sprechender Kollege käme.
Es dauerte tatsächlich nur einige Minuten, dann kam ein etwa vierzigjähriger, sportlich schlanker, schwarzhaariger Mann mit gegelten Haaren in einem hellen Sommeranzug auf ihn zu, der ihn neugierig musterte.
„José Lopez Castela, was kann ich für Sie tun?“, stellte er sich knapp in akzentfreiem Deutsch vor.
Raschke schüttelte die dargebotene Rechte. „Mein Name ist Raschke. Ich bin deutscher Kriminalhauptkommissar, leite in Rostock die Mordkommission und pilgere zurzeit auf dem Jakobsweg. Ich habe einen Mord beobachtet.“
Castela hob die Augenbrauen.
„Na, Senor Raschke. Ich denke, Sie können sich ausweisen, und dann kommen Sie mal mit in mein Büro.“
Nachdem Raschke ihm die Kopie seines Dienstausweises gezeigt hatte, die sich für Notfälle neben anderen Papieren und dem Bargeld in seiner Dokumententasche befand, winkte der Spanier dem Uniformierten kurz zu, dann wurde die elektronisch gesicherte Innentür geöffnet. Mit dem Fahrstuhl ging es in den dritten Stock. Auf den Fluren wuselten Uniformierte und zivil gekleidete Polizisten geschäftig hin und her. Nicht anders als in einer deutschen Dienststelle, dachte Raschke. Durch ein Vorzimmer, in dem eine junge Spanierin sie neugierig musterte, kamen sie in ein geräumiges, offenbar nach dem persönlichen Geschmack des Beamten eingerichtetes Büro. Comisario José Lopez Castela entzifferte Raschke im Vorbeigehen auf einem Schild neben der Bürotür.
Der Spanier nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und bot Raschke einen Stuhl an. Dann bat er noch einmal um die Dienstausweiskopie und den Personalausweis, notierte die Angaben auf einem Zettel und gab die Papiere zurück. „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“
Raschke nickte. Irgendwie fühlte er sich plötzlich unwohl in seiner Haut. Die Rolle war für ihn ungewohnt. Außerdem war ihm selber klar, dass seine Angaben ziemlich dürftig waren. Aber er musste seine Beobachtung loswerden. Der Rest war Sache der Spanier. Er wurde durch Lopez Castela aus seinen Gedanken gerissen.
„Senor Raschke, dann erzählen Sie einmal, was Sie auf dem Herzen haben.“
Raschke nippte vorsichtig an dem Kaffee, den die Vorzimmerdame inzwischen hereingebracht hatte. „Senor Castela“, begann der Deutsche, wurde aber sofort unterbrochen.
„Lopez Castela“, berichtigte sein Gegenüber reserviert.
„Senor Lopez Castela. Vor zwei Stunden befand ich mich auf einem Spaziergang durch die Stadt. Oben von der Stadtmauer beobachtete ich, wie sich auf der Puente de la Rochapea zwei Männer stritten. Es gab eine Rangelei und einer der beiden muss in den Rio Arga gestürzt sein. Er ging unter und tauchte nicht mehr auf. Sein Gegenüber war deutlich größer, ich schätze fast ein Meter neunzig und hatte eine ähnlich rote Jacke an wie ich. Er trug ein schwarzes Basecap. Deshalb habe ich seine Haare und sein Gesicht nicht erkennen können. An den Füßen hatte er dicke Wanderstiefel. Insgesamt sah er aus wie ein Pilger. Nur ohne Rucksack.“ Raschke gab noch die Personenbeschreibung des Opfers ab. Dann machte er eine Pause, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten. Sein Gegenüber verzog weder eine Miene noch machte er Anstalten, sich etwas zu notieren.
„Haben Sie gesehen, wie der kleine Dicke über das Geländer gestoßen wurde?“
„Äh, nein. Genau in dem Moment verdeckte ein LKW die Sicht. Es ist nur eine Vermutung. Aber es gibt keine andere Möglichkeit.“
„Ein deutscher Kriminalbeamter hat im Urlaub keine Vermutungen zu haben.“
Raschke überhörte geflissentlich die ironische Bemerkung des Spaniers, der für seinen Geschmack etwas zu belehrend fortfuhr. „Doch. Es gibt andere Möglichkeiten. Er hätte ebenso gut selbst springen oder unglücklich fallen können. Der heftige Winddruck des Lastwagens könnte ihn von der Brücke geweht oder ein Herzinfarkt dahingerafft haben.“ Raschke merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Ihm war nicht klar, ob vor Zorn oder weil er sich wie ein Anfänger hatte aufs Glatteis führen lassen. Aber der Spanier hatte Recht. Genau die gleichen Zweifel hätte er in ähnlicher Situation auch geäußert.
Lopez Castela rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ist das alles?“
Raschke schluckte. Er hatte die Frage befürchtet. „Ja, das ist im Prinzip alles“, antwortete er.
Der Spanier sah den deutschen Kriminalbeamten nachdenklich, und wie Raschke glaubte, etwas mitleidig an. Nur die Höflichkeit dem deutschen Kollegen gegenüber verbot ihm offenbar, ihn so einfach hinauszukomplimentieren.“
Und was meinen Sie? Liegt Raschke mit seiner Vermutung richtig oder nicht? Und wie wird es den Heldinnen und Helden aller anderen Geschichten ergehen?
Viel Spaß beim Lesen, einen guten Start ins neue Lesejahr und bis bald.