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Sie sind hier: DDR-Autoren: Newsletter 05.04.2019 - Vom Anfang und vom Ende, Wiedersehen im grauen Berlin und die Rückkehr

Vom Anfang und vom Ende, Wiedersehen im grauen Berlin und die Rückkehr der Sternenfahrer - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 05.04. 2019) Auch dieser Newsletter präsentiert wieder fünf Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 05.04.19 – Freitag, 12.04.19) zu haben. Und auch diesmal ist der erste Deal eine Neuerscheinung, die soeben erst die Druckerei verlassen hat. „Eine offene Spur“ – so lautet die Einladung von Helga Kaffke (Aquarelle) und Gabriele Berthel (Texte) zu einer ungewöhnlichen Reise durch Mecklenburg. Das Buch ist zugleich eine Erinnerung an die Zeit im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts, als beide Künstlerinnen im Kulturleben der Landeshauptstadt Rang und Namen hatten. Und diese Einladung zum Verweilen, Nachdenken und Genießen sollte man unbedingt annehmen – der darin enthaltenen Bilder wie der Wortkunststücke wegen …

In „Das verbotene Zimmer“ erzählt Helga Schubert Geschichten aus ihrer im Krieg geboren Generation im damals noch geteilten Deutschland. Auch darin spiegelt sich „Lauter Leben“ …

Neue Zeitzeugenberichte legt Kurt Redmer unter dem Titel  Damals in Ostpreußen und Mecklenburg. Dokumentation zu den Kriegsjahren 1939-1945 und danach“ vor.

Das SF-Genre ist diesmal mit „Stern von Gea“ von Carlos Rasch vertreten, dem vierten Teil seiner Raumpiloten-Serie.

Einblicke in einer Welt, in der man nicht gern sein möchte, präsentiert Udo Pütsch mit seinem Bericht „Kein Flug nach Liverpool - Nach deutschem Recht hinter schwedischen Gardinen“ – noch dazu, wenn man mehr oder weniger unschuldig ist.

Und damit wollen wir uns wieder lieber etwas Erfreuliches ansehen. Auf nach Mecklenburg …

Soeben ist bei der EDITION digital der Band „Eine offene Spur. Unterwegs in Mecklenburg mit Pinsel und Stift!“ mit Aquarellen von Helga Kaffke und Texten von Gabriele Berthel erschienen: Wer sich per Rad oder zu Fuß auf die Wege übers Land durch Mecklenburg macht oder wer das Glück hat, in der Geborgenheit eines alten Dorfes zu leben, findet sie noch immer: Die Anblicke, wie sie Helga Kaffke in ihren Aquarellen bewahrt hat. Die Kopfweiden, deren junge Sprosse in früheren Zeiten – und heute bisweilen wieder – zum Flechten von Körben verwendet wurden und werden. Die Tümpel und Teiche, an deren Ufer geduldige Angler ausharren, von nichts als Schilf und Vogelruf umgeben, mit dem vorsorglichen Plasteeimer neben sich, in dem die schuppige Beute nach Hause gebracht werden soll … Die umstrittenen Rapsfelder lassen im Frühjahr in Helga Kaffkes Bildern die Landschaft aufleuchten, heraufziehendes Sommergewitter tauchen sie in gedämpfteres Licht, Herbstwinde treiben wie eh und je Blätter und Krähenschwärme über sie hin. Das behagliche Güstrow mit seiner vieltürmigen Silhouette gibt es noch. Auch das Markttreiben, das schon Ernst Barlach betrachtete, dem Volk aufs Maul schaute und wortgewandt in den Echten Sedemunds auf die Theaterbretter brachte. Über dem Markt erhebt sich wie vor Zeiten die Pfarrkirche St.Marien, deren Große Friedensglocke mit ihrem Geläut zu Einhalten und Gewaltfreiheit mahnt. Keine Einfache Geschichte, wie Gabriele Berthel in ihrem gleichnamigen Text darzulegen weiß; denn auch das gehört zur Realität über Mecklenburg, der vom Tiefflieger durchschossene Himmel. Die Autorinnen Helga Kaffke und Gabriele Berthel sehen und sagen beides: Die Idylle am stillen Ort und Konflikte, die es zu lösen oder auszuhalten gilt. Ihre Bilder und Texte sind eine Einladung zum Verweilen, zum Nachdenken, zum Genuss. Ein Augenschmaus sind sie allemal. Und hier einer der anregenden, sprachspielerischen Texte von Gabriele Berthel:

DER LAUF DER DINGE

Es waren einmal ein Anfang und ein Ende, die liefen hintereinander her. Soweit sich beide erinnern konnten, hatte es nie etwas anderes gegeben. Den Anfang vor dem Ende. Das Ende nach dem Anfang. Man weiß ja, wie das geht.

Das heißt, so genau wusste der Anfang nicht mehr, wie das alles mit ihm begonnen hatte. Solche wie er kamen ja manchmal aus dem Nichts: peng! – und schon ist der Anfang gemacht. Und das Ende? Was wusste das Ende? Den Anfang hatte es schon gekannt, als der noch ganz klein war und eine Menge unnützer Dinge liebte, Märchen zum Beispiel. Hatte es ihm vielleicht nur den Vortritt gelassen, weil es zu höflich war?

Keine Entdeckung, dachte das Ende betrübt, kann ich für mich selber machen – überall ist der Anfang schon gewesen! Keine Entdeckung, dachte der Anfang betrübt, kann ich wirklich für mich behalten – überallhin wird auch das Ende noch kommen! Und zwar nach mir, wenn es dort womöglich noch schöner ist!

Man konnte nicht behaupten, dass die beiden einander liebten. Der Anfang konnte sich sogar sehr gut vorstellen, dass so, wie er voranschritt, es hinter ihm endlos weiterging. Alle Dinge fangen schließlich irgendwie an. Aber dass alles ein Ende haben musste, war nicht bewiesen! In solchen Augenblicken versuchte der Anfang, ein bisschen schneller zu laufen. Immerhin, wenn er nicht machte, dass er davonkam, wenn er es nicht wenigstens versuchte, würde ihn das, was er in seinem Rücken spürte, umso schneller einholen! Was immer das war.

Was immer das war, war natürlich das Ende. Das hatte es schon lange satt, der ewige Letzte zu sein. Dass man seinem Anfang immer nachrennen musste! Dabei, dachte das Ende, bin schließlich ich es, nach dem nichts mehr kommt, ich kann es jederzeit genug sein lassen, einfach einen Punkt setzen - PUNKT.

Gerne hätte sich das Ende einmal vorgedrängelt. Aber wie sehr es sich auch mühte: es kam einfach nicht an seinem Anfang vorbei. Manchmal war es so erschöpft, dass es ihn fast aus den Augen verlor. Nicht dass ihm das Angst gemacht hätte. Es wollte sich nur nicht abhängen lassen. Ein Ende ist da empfindlich!

Nein, man konnte wirklich nicht behaupten, dass die beiden einander liebten.

Sie führten ein ganz normales Leben. Ein Leben unter Brüdern. Unter Brüdern weiß man nie, wer gerade hinter einem den Atem anhält.

„Bist du das?“, murmelte der Anfang. „Ich meine: Bist du noch da?“

Darauf hatte das Ende nur gewartet. Warten ist, was ein Ende am besten kann.

„Du hast wohl keine Puste mehr? Soll ich noch einen Schritt zulegen?“

Der Anfang hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Wie er diesen Ton hasste! Dass das Ende ihm immer auf die Schliche kam! Dass es alles besser wissen musste! ER war schließlich der Anfang, und er würde, wenn es schon sein musste, ein gutes Ende nehmen, nicht dieses … dieses …

Dieses Ende war wirklich das Letzte!

Wer weiß, vielleicht fehlte gar nicht viel, um - „Komm endlich zum Schluss!“, rief der

Anfang mutig.

„Ich bin schon da …!“, antwortete das Ende schadenfroh. Und weil es den Anfang an

vergangene Neigungen erinnern wollte, und weil es irgendwo gehört hatte, dass heute auch der Letzte mit der Mode geht, wiederholte es den Satz noch einmal auf

ausländisch: „I'm here already!“

Das war nun wirklich ziemlich gebildet, aber es war auch ziemlich gemein. Es genügte, den müde gewordenen Anfang zu Fall zu bringen. Da lag er nun, der so verheißungsvoll begonnen hatte, der Länge nach im Dreck und wischte sich den Sand aus den Augen.

Das Ende beugte sich über den Anfang.

Dass es im Ganzen schön war, dieses Ende, konnte der Anfang nicht behaupten.

Es sah ein bisschen wild aus, ein bisschen abgerissen, na, und ungeschminkt sowieso. Aber es hatte so wissende Augen, einen so unerwartet mitfühlenden Blick …

Und der Anfang? Dass er im Ganzen schön war, konnte das Ende nicht behaupten. Er sah ein bisschen linkisch aus, ein bisschen ungelenk, und nun lag er auch noch im Dreck. Aber er hatte so verträumte Augen, einen so offenen Blick … „Willst du wirklich Schluss machen?“, fragte der Anfang leise.

„Es muss sein“, sagte das Ende. „Das ist heute üblich. So läuft das in der Welt!“ Und es richtete sich auf.

„Wiedersehn!“, nuschelte der Anfang, und das Ende, schon im Gehen begriffen, hätte zu gerne gewusst, wie das gemeint war. Als Versprechen? Als Drohung …?

So etwas hätte das stolze Ende dem bescheidenen Anfang nie erlaubt. Aber es konnte ja schlecht fragen. Nein, da gab es nichts. Da gab es genau genommen nur eine einzige Möglichkeit.

Ganz knapp, gerade so über die Schulter, wandte sich das Ende um: „Zum Teufel, lass uns noch mal von vorn anfangen!“

Es waren einmal ein Anfang und ein Ende. Die liefen hintereinander her. Und wenn sie nicht gestorben sind - Man weiß ja, wie das geht.“

Erstmals 1982 erschien im damals bundesdeutschen Luchterhand Verlag Darmstadt und Neuwied „Das verbotene Zimmer“ mit Geschichten der DDR-Schriftstellerin Helga Schubert: Das ist der zweite Erzählungsband von Helga Schubert, die sich hier in 19 Erzählungen mit ihrer im Krieg geborenen Generation im geteilten Deutschland befasst. Der Erfolg ihres ersten Buchs „Lauter Leben“ hatte sie ermutigt, freiberufliche Schriftstellerin zu werden, denn sie war inzwischen mit der Empfehlung von Sarah Kirsch und vom Aufbau-Verlag Mitglied des Schriftstellerverbandes geworden. Dieses Buch aber erhielt in der DDR keine Druckerlaubnis. Von verschiedenen Seiten hatte sie vorher Warnungen erhalten, ein Chefredakteur teilte ihr mit, ihre Texte seien mit einer dunklen Folie überzogen, eine Lektorin meinte, Helga Schubert hätte ihre Ansichten über die SED ausgekotzt, der Cheflektor des angesehenen Ostberliner Verlags riet ihr im gleichen Gespräch, mit dem Schreiben ganz aufzuhören, denn das sei alles Analphabetismus. Die Autorin nahm darum das Angebot des westdeutschen Luchterhand-Verlags an, das Manuskript zu veröffentlichen, wenn eine Genehmigung der DDR-Behörden dafür vorliege. Und tatsächlich: „Das verbotene Zimmer“ erschien ausschließlich im Westen, und die Devisen gingen nicht an die Autorin, sondern wurden ihr im Kurs 1:1 in DDR-Mark ausgezahlt. Kaum war das Buch im Westen erschienen, erhielt es auch schon den westdeutschen Fallada-Preis. Den wiederum durfte Helga Schubert nicht annehmen, weil das ZK dies als eine Provokation ansah. Aber auch hier gab es ein Happy End, denn 10 Jahre später, als die Bevormundung vorbei war, wurde ihr im vereinten Deutschland für das Buch der Fallada-Preis überreicht. Hier eine der 19 im wahrsten Sinne des Wortes ausgezeichneten Geschichten von Helga Schubert:

Ansichtskarten

Paris um Mitternacht liebe ich besonders. Das ist ein reines, ungetrübtes Gefühl, kenne ich doch Paris nicht einmal vom Sehen.

(Julian Tuwim)

Wenn sie dann drüben angekommen sind, mit falschen Pässen, im plombierten Kühlraum, im Kofferraum, in Düngeflugzeugen, Luftballons oder auch mit einem echten Pass mit behördlicher Erlaubnis, bekommen wir bald die ersten Ansichtskarten. Immer ist es ein blauer Himmel. Und damit er sich besser abhebt und noch blauer wirkt, sieht man im Vordergrund weiße Berge. Die Gletscherspalte weist auf die Gefährlichkeit hin, in der der Ansichtskartenschreiber diese Ansichtskarte verfasste. Wäre er doch fast hineingefallen, als er darüber sprang.

Und auch die Skikünste, sind sie doch viel besser geworden, seit der Ansichtskartenschreiber seine Ferien in den Alpen verbringt. Auch im Sommer sind die Alpen schön, das sieht man an den späteren Ansichtskarten: Die haben zwar auch einen blauen Himmel, aber nun stehen die Matten mit den vielen Bergblumen im Mittelpunkt. Gerade hat der Ansichtskartenschreiber davon welche gepflückt und an uns gedacht, nämlich, dass wir niemals so schöne Blumen in solchen Matten in dieser Alpeneinsamkeit pflücken können.

Nach der Ansichtskarte zu urteilen, liegt der Mont Blanc in Frankreich, und wir werden bestimmt die Liebe zur Natur verstehen, wenn wir die umseitige Ansicht betrachten. Es sind jedenfalls glückliche Tage, die gerade dort verlebt werden. Und St. Moritz liegt in der Schweiz und gibt einen Sonderstempel vom Bündner Tierschutzverein mit einer Schnecke und der Aufschrift: Vergesst die Tiere nicht. Das Engadin strahlte golden, warm und sonnig bei einer Talsohle von 1850 m Höhe und dem Sitz des Ansichtskartenschreibers in 3400 m Höhe, den er bereits in siebenstündiger Autofahrt erreichte, wobei er auch die Windstille und die goldgelben Lärchen nicht unerwähnt wissen wollte. Als er im Flugzeug Richtung Nizza über all dies flog, sah es auch schon ganz eindrucksvoll aus, aber nun selber hier, ist es doch etwas ganz anderes. Und er kann in Ruhe von Berlin träumen.

Firenze ist offensichtlich dasselbe wie Florenz. Denn warum sonst sollten Absenderangabe, Poststempel und gedruckte Ansichtskartenbeschreibung nicht übereinstimmen.

Jedenfalls befindet sich der Ansichtskartenschreiber dort auf der Suche nach der Welt von gestern und hat bei der Gelegenheit eine Fahrt nach Pisa unternommen, um zu sehen, ob der Turm noch steht.

Launig teilt er uns mit, dass er noch steht.

Seine Arbeit sei manchmal deprimierend, und da braucht er einfach diese Abwechslung als Kontrast.

Dieses Mal hat der Schreiber wenig Zeit, weil er gerade seine Sachen für einen Disco-Bummel in Baden-Baden rüstet, wo er auch beabsichtigt, gut zu essen. Er denkt trotzdem in Klammern oft an uns. Die Karte ist zwar auch farbig, aber sie steckt in einem Briefumschlag, weil sie ganzseitig beschrieben ist. Keine fotografierte Landschaft, sondern ein naives Bild, eine ländliche Szene. Hinter dem geschlossenen Gartentor hinter einer hüfthohen Steinmauer steht der alte Bauer. Im Hintergrund sein rohrgedecktes Haus und der Blumengarten. Im Vordergrund ein junger Mann in Arbeitssachen mit Hund, auf dem Weg von oder zu der Arbeit, mit Blick auf den alten Mann.

Der Titel: Vergehende Zeit.

Diese Karte steht nun im Bücherregal.

Eine andere Karte, die ich auch nicht verbannte, steht daneben. Eine Fotografie zeigt ein weißes Schloss mit grünen, zart blau-grau-grünen Türmen, elf kann ich zählen, mit Burgzinnen, einige sehen türkisch aus, mit einer ockerfarbenen Einfahrt, ganz allein zwischen bewaldeten Hügeln in der Sonne, einen Bergsee halb verdeckend, im Hintergrund steinerne Berge: das Königsschloss Neuschwanstein mit Schloss Hohenschwangau, Alpsee und Tiroler Bergen. Rot- und Goldtöne in den Wipfeln der Laubbäume, eine Luftaufnahme.

Da war eine Sehnsucht geschürt, die ich mühsam bekämpft hatte.

Das Wetter ist leider regnerisch, erfahre ich, und es war nur ein Tagesausflug. Wir sollen es uns gut gehen und von uns hören lassen.

Unvernünftig hoffe ich, dass es dieses Zauberschloss gar nicht gibt, es ist nicht für eine Ansichtskarte geknipst, die man stolz in den Osten schickt, es erscheint nur manchmal, gerade, wenn es will, in Märchenminuten.

Und ich sage mir, dass man sicher einen hohen Eintritt zahlen muss, dass Papier herumliegt, Cola und Ansichtskarten, vielleicht gerade diese, verkauft werden, oder dass da steht: Privatweg - Weitergehen verboten - und es wirklich regnet - aber es nützt nichts.

Dieses Schloss für Rapunzel oder Dornröschen, diese Illusion einer Zuflucht in dem obersten chagallgrünbedachten Turmstübchen gibt es.

Es gibt sie alle, diese Ansichten.

Und ich würde mir auch nicht glauben, dass ich eben in Kreta gelandet bin, auf einem Flugplatz am offenen Meer, hinter dem Hotel die Berge 2500 m hoch. Oder dass ich gerade eine Autofahrt am Rhein entlang mache, in Zürich am Horizont die weißen Berge sehe oder den Kölner Dom oder in Holland nicht weit von der Nordseeküste, die ich eben besuchte, planlos herumfahre. Ich würde mir nicht glauben und an die vielen Ansichtskarten denken, die ich aus dieser Gegend erhielt.

Und dann würde ich zu einem Ansichtskartenstand gehen, die schönste Karte erwerben, frankieren und an einen bestimmten Menschen adressieren, damit er mit mir zusammen glaubt, dass ich wirklich hier gewesen bin.

Als Beweis.

Aus Verzweiflung und weil ich dort so fremd bin. Aber die selbstverständlichen Ansichtskarten derjenigen, die schon immer dort leben: Da liegt ein Krokodil mit offenem Rachen in der Sonne, seine Sprechblase lockt: Waiting for you in Florida. Und auf der Rückseite steht, dass zwar nicht so viele Krokodile herumlaufen, aber dafür viele sehr fette junge Amerikaner, naja, die essen und trinken eben zu viel.

Bis bald, steht auf der Karte, bis sie uns wieder mal besuchen.

Oder auf einer Karte aus Siena steht: Wie gewohnt blau-blauer Himmel und Sonne

und Kultur und etc. etc.

Trotzdem freuen sie sich auf ein Wiedersehen mit uns. Und zwar im grauen Berlin.

Was die anderen nicht hinzufügen.

Erstmals 2012 veröffentlichte Kurt Redmer im Verlag nordwind Press eine weitere seiner antifaschistischen Dokumentationen – diesmal unter dem Titel „Damals in Ostpreußen und Mecklenburg. Dokumentation zu den Kriegsjahren 1939-1945 und danach“: Erneute Forschungen, Befragung von Zeitzeugen, Reflexion eigener Erlebnisse in der Kriegszeit in Ostpreußen und Mecklenburg vermitteln dem Leser neue, erkenntnisreiche Bilder aus furchtbarer Zeit; erschütternd zu lesen, wie beispielsweise die eigene Tante des Autors bis zuletzt an den „Gott“ Adolf Hitler und den „Endsieg“ glaubte ... - eine wertvolle und notwendige Ergänzung aller bisherigen Publikationen von Kurt Redmer. Hier ein kleiner Auszug, in dem es um den Dichter Heinrich Heine geht, der unter den Nazis zur Unperson wurde. Eine persönliche Erinnerung von Kurt Redmer:

„Die Schwerinerin Ingeborg Hohferber, Jahrgang 1924, war in den 1930er Jahren Schülerin der hiesigen Mittelschule für Mädchen. Für den Musikunterricht stand dort den Mädchen das Liederbuch „Stimmt an! Neue Jugendklänge“ zur Verfügung. Es war vom Verlag des Pestalozzivereins für Mecklenburg- Schwerin im Jahre 1929 herausgegeben.

Dem Inhaltsverzeichnis nach enthält es Frühlings- und Wanderlieder, Vaterlands- und Soldatenlieder, Weihnachtslieder, Geistliche Lieder und Choräle. Frau Hohferber hat es bis heute zur Erinnerung an ihre Schulzeit aufbewahrt. Sie hatte aber dafür noch einen weiteren Grund. Mitte der 1930er Jahre hatte die Musiklehrerin der Mittelschule von den Mädchen verlangt, an zwei Stellen Texte zu streichen. Es handelte sich auf Seite 7 um den Namen Heinrich Heine, der dort unter seinem Gedicht „Die Lorelei“ stand und den im Inhaltsverzeichnis auf Seite 245 vorhandenen Text „Ich weiß nicht, was soll das bedeuten“, der zu seinem Gedicht „Die Lorelei“ gehört. Frau Hohferber tat das damals mit Bleistift und Lineal, wodurch diese Texte auch heute noch lesbar sind. Es ist wohl sicher, dass die Musiklehrerin nicht aus eigenem Entschluss Texte streichen ließ, sondern dazu ein Auftrag der zuständigen Schulbehörde vorlag.

Es wurde offensichtlich, dass Heinrich Heine den völkischen, d.h. den nationalistischen Kräften, voran den Hitlerfaschisten und deren Gliederungen ein Dorn im Auge war. Sicher nicht alleine darum, weil Heine ein jüdischer Mitbürger war und auch mit Karl Marx Kontakte pflegte. Heine, der große deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts und Vertreter der deutschen revolutionären Demokratie, war den Nazis vor allem wegen seines humanistisch-literarischen Schaffens verhasst. Er sollte deshalb der Vergessenheit anheimfallen.

In seiner satirisch-epischen Dichtung „Deutschland ein Wintermärchen“, die der Höhepunkt seines Schaffens wurde, hatte er mit großer politischer Klarheit und Kampfeslust sowie meisterhafter Gestaltung an den deutschen Zuständen (der Kleinstaaterei, der anachronistischen Idee von Kaiser und Reich, der Philisterhaftigkeit der deutschen Bürger und immer wieder dem Preußentum in allen seinen Erscheinungsformen) vernichtende Kritik geübt. (Deutsches Schriftsteller Lexikon von den Anfängen bis zur Gegenwart. Von Günter Albrecht, Kurt Böttcher, Herbert Greiner- Mai, Paul Günter Krohn. Volksverlag Weimar 1963, S.264)

Heines Epos „Die Lorelei“ war in Deutschland jedoch so bekannt, dass es nicht einfach verboten werden konnte. Deshalb wollten die Nazis dessen Verfasser nicht mehr kennen. Im ostpreußischen Lesebuch für die Volksschulen, so entsinne ich mich, standen in den Kriegsjahren unter diesem Gedicht die Worte „Verfasser unbekannt“.

Liederbuch „Stimmt an! Neue Jugendklänge“, dass mir Frau Hohferber für einige Zeit zur Verfügung stellte, enthält eine Reihe nationalistischer und reaktionärer Inhalte, die angesichts seines Erscheinungsjahres 1929 Fragen aufgeben. Es geht hier einmal um das sogenannte Weihelied. (Stimmt an! Neue Jugendklänge. Band II. Herausgegeben vom Mecklenburgischen Pestalozzi-Verein. Rostock 1929, S.70)

Mit ihm wird Gott um die Sendung eines Führers mit mächtigem Gebot gebeten, worunter in der Zeit nur Hitler gemeint sein kann. Der Text der ersten Strophe lautet: „Wir heben unsre Hände aus tiefster, bittrer Not. Herr Gott, den Führer sende, der unsern Kummer wende mit mächtigem Gebot, mit mächtigem Gebot.“

In der vierten Strophe heißt es dann:

„Wir weihen Wehr und Waffen und Haupt und Herz und Hand! Lass nicht zu Schanden werden, dein lichtes Volk der Erden und meiner Mutter Land.“

Die deutschen Faschisten sollten nun richten, was die Weimarer Republik in der Weltwirtschaftskrise mit ihren verheerenden Folgen für die einfachen Menschen nicht vermochte.

In „Stimmt an! Neue Jugendklänge“ befindet sich noch ein weiteres schon aus dem 16. Jahrhundert stammendes Lied von einem unbekannten Meister. Es hat nur eine Strophe und trägt den Titel: „Sicheres Deutschland, schläfst du noch?“ Deutschland, so wird darin festgestellt, lebt unterm Joch, das es hart drückt und sein Antlitz, dürr und bleich, zu ersticken droht.

Darauf folgt mehrfach der Satz „Wach auf, du deutsches Reich“. Hier ist eine Analogie erkennbar. Die Verhältnisse des mittelalterlichen, in Kleinstaaten zersplitterten Deutschland, zu recht verurteilt, sollen nun mit denen der Weimarer Republik verglichen werden. Es wird die Forderung nach einem wachen Deutschland gestellt, dass sein Joch abwirft, was auch der bekannten Nazilosung „Deutschland erwache - Juda verrecke“ nahe kommt.

Das Liederbuch „Stimmt an! Neue Jugendklänge“ ist ein Beleg dafür, dass es schon in der Weimarer Republik Nationalismus und Rassismus gab, an den die Nazis anknüpften.

Liederbuch „Stimmt an!“ – Text von Heinrich Heine auf eine Melodie aus dem 16. Jahrhundert

Aus der deutschen Geschichte in die Zukunft. Erstmals 2011 erschien im Projekte-Verlag Cornelius Halle der vierte und zugleich letzte Band der Raumlotsen von Carlos Rasch – „Stern von Gea“: Den Abschluss der Raumlotsen-Saga Carlos Raschs bildet ein Episodenroman, dessen Handlung lange nach den ersten drei Bänden auf der Siedlungswelt JUWELA spielt. In der Gesellschaft aus Nachkommen von Erdbewohnern, die in drei verschiedene Gruppen geteilt ist - die einfachen Siedler, über etwas moderne Technologie verfügende Orbitaner und die meist in Tiefschlaf liegenden Raumfahrer von der von Menschen verlassenen Erde - verschärfen sich nach zweihundert Jahren die Gegensätze bis zur offenen Auseinandersetzung. Der folgende Ausschnitt vermittelt einen Eindruck von diesem Buch, in dem es zunächst aber um Zusammenarbeit geht:

„Die Astronauten an der Fähre haben inzwischen ihren ersten Freiheitsrausch mit Sonne, Wind und Düften überstanden. Sie schwanken zum Rande des Horstes und steigen mühsam ein paar Stufen zu einer mit einem starken Geländer umgrenzten Stelle hoch, von der aus man einen weiten Blick auf Meer und Kap hat. Diese Stelle ist traditionell die Empfangsklippe für Ankömmlinge aus dem Orbit. Die Orbitanerin Astra Azimut, gefolgt von Astor, Horstmeisterin und Ingo schließen sich den Astronauten an und gehen ebenfalls zur Begrüßungsklippe. Die Orbitanerin ist mit zurückhaltender Eleganz gekleidet, soweit das den mittelalterlichen Umständen nach für sie als Akademikerin machbar ist. Das verleiht ihr einen Hauch von Arroganz, Kälte und Unnahbarkeit. Aber Ingo zögert mehr aus Respekt vor den Astronauten heranzutreten, weiß er doch, dass einer der beiden Sternenmänner der Kommandant des Sterns von Gea sein muss.

Astor schiebt ihn näher und stellt ihn vor. „Das ist mein neuer Freund Ingo“, sagt er. „Ich traf ihn gestern mit meiner Flugkuppel hoch über der Krautsee. Er hatte gerade ein Problem, sozusagen einen kleinen Havariefall.“

„Dann sollten wir zusammenhalten“, kommentierte de Sinio und blinzelt Ingo zu. „Wir Sternenleute haben es nämlich ab und zu auch mit Problemen und kleinen Havarien zu tun.“

Während Astra Azimut Nase rümpfend auf den barfüßigen Jungen mit seinen schmutzigen Beinen herabsieht, spitzt die Astronautin Fiorella ihre Lippen und flötet dem Kind etwas in der Ausdrucksweise der großen Kuriervögel zu. Da Ingo täglich mit den Großvögeln kommuniziert, antwortet er in gleicher Weise. Erst dann wird ihm bewusst, dass es ungewöhnlich ist, wenn eine Sternenfrau die Sprache der Großvögel beherrscht. Ihn durchzuckt ein unglaublicher Gedanke:

„Du bist Fiorella!“, ruft er begeistert. „Du hast vor 100 Jahren die Sprache der Großvögel erforscht.“ Ingo stellt sich zu ihr. Verstohlen schiebt er zutraulich seine Hand in ihre, als sei sie seine lang vertraute und von einer weiten Reise wieder heimgekehrte große Schwester.

Fiorella wuschelt ihm glücklich durchs Haar und ruft fassungslos: „Er wirft einen Schatten! Dieses ist kein Traum im kalten Schlaf!“ Sie stößt de Sinio an, umarmt Wolfram, zweiter Astronaut, und zieht Ingos Hände hoch, ihm die Finger küssend. Um das Kind auf den Arm zu nehmen, ist sie vom Kaltschlaf trotz der unterstützenden Kraft ihres Wulstanzuges noch zu schwach. „Nichts ist vergessen von meiner Forschung damals. Wie wundervoll!“

„Ingo ist dir untreu geworden“, scherzt Wolfram zu Astor. „Du musst ihn nun an Fio abtreten.“ Dann stutzt Wolfram: „Was habt ihr miteinander eben geflötet und gepfiffen, du und der Junge?“

„Wenn du vor 100 Jahren auch die Sprache der Kuriervögel gelernt hättest, Wolfram, wüsstest du, mit welchen Fragen und Antworten wir uns eben begrüßt haben“, kontert Fiorella fröhlich.

Auf dem Tafelberg, der sowohl dem Pendelverkehr zum Orbit als auch dem Kurierdienst mit Großvögeln dient, hat man sich auf solche regelmäßige Ladungen und Starts des Shuttles eingestellt. Um die Großvögel und deren kindliche Kuriere vor eventuellen Komplikationen bei Landungen von Raumfähren zu schützen, wird der Horst vorübergehend stets mit einer Flugübung zu einem benachbarten Farmtal geräumt.

Ingo zupft Fiorella am Arm und weist in den Himmel. Vom Tal der Farmen kehrt eine Staffel Großvögel mit ihren kindlichen Navigatoren zurück. Sie schweben hintereinander ein. Sobald alle gelandet sind, nickt die Horstmeisterin Ingo zu. Der zieht einen Kamm aus der Tasche, streicht damit seine Haare glatt und verbeugt sich vor den Gästen: „Die Sternenleute mögen mir zu den Sitzstangen unserer Vögel folgen. Ich bitte, nicht die Hand zur Begrüßung von Kindern auszustrecken, weil das die Vögel als Bedrohung missdeuten. Sie picken dann nach euren Armen“, sagt Ingo.

Die Kinder der heimgekehrten Staffel sind inzwischen aus ihren Sitzgondeln gesprungen und schirren die Vögel ab. Die sind so groß wie Strauße. Während die Erwachsenen einen Rundgang von Vogelpaar zu Vogelpaar machen, beschäftigen sich die Kinder bei ihren Vögeln mit Gefiederpflege. Dazu versprühen sie mit Quasten Wasser. Sie scheuern die Sitzstangen oder ziehen Lederhandschuhe an, um den Vögeln Salat vor die Schnäbel zu halten. Manche reiben ihnen auch die hornigen Beine mit Schabekraut ab oder vergraben im Sand vor den Sitzstangen Körner, Würmer und Käfer, damit die Vögel danach scharren, was für sie appetitanregend ist.

Ingo Holla führt die Raumfahrer zur ersten Sitzstange. „Kuriernavigator Domino! Hier treten vom Sternenvolk die uns allen sehr bekannte Fiorella Falkone, dann der Herr des Sterns von Gea, Carlo de Sinio, und auch der bleiche Kaltschläfer Wolfram zu dir.“ Astor und Astra lässt er unerwähnt, und die Horstmutter Minka Sommerwind sowieso, weil allen Horstkindern gut bekannt.

„Wird der bleiche Kaltschläfer Wolfram noch in der Lage sein, nach dem Rundgang aus eigener Kraft das Feldbett in der Gästehöhle zu erreichen?“, raunt Fiorella ihrem Kameraden amüsiert zu, als sie sieht, wie der wegen Muskelkater eine Wade massiert.

„Wenn mich ein leichtfüßiges Kind führen würde so wie dich, wäre ich auch in Hochstimmung“, stöhnt Wolfram. „Die Schwerkraft scheint sprunghaft anzusteigen. Am liebsten würde ich bleicher Kaltschläfer auf dem Bauch kriechen“, sagt er, auf ihren Scherz eingehend, in gespieltem Selbstmitleid. „Wir sollten besser in die Leichtigkeit des Orbits zurückkehren“, verlangt er, meint das aber nicht wirklich so.

Carlo de Sinio hebt den Arm, um Aufmerksamkeit zu finden. Die Kinder halten in ihren Tätigkeiten inne und wenden sich ihm zu. „Mädchen und Jungen: Fiorella, Wolfram und ich freuen uns, hier bei euch auf dem Kapfelsen endlich wieder einmal den festen Boden des Planeten JUWELA zu betreten. Im ganzen Land genießen Kinder wie ihr besonderes Ansehen, weil ihr eine Aufgabe habt, die Mut und Geschick erfordert. Vor allem eure Eltern, die euch eigentlich sehr gern bei sich hätten, sind stolz auf euch“, sagt er. „Oft müsst ihr fliegen, sogar bei Sturm oder in der Nacht, weil hier die Raumfähre landet und Ersatzteile oder Medikamente bringt. Diese Dinge müssen dorthin befördert werden, wo man sie schon dringend erwartet. Deshalb seid ihr immer die ersten, die wir Sternenwanderer nach langem Kaltschlaf besuchen. Vor allem sind wir deshalb gern hier, weil ihr, wenn ihr Tag für Tag als Kuriere durch die Wolken reist, uns, den Sternenwanderern, am nächsten seid. Es ist schön, aus dem Kaltschlaf erwacht zu sein! Es ist schön, den Wind brausen zu hören, eure Gesichter zu sehen, das Gefieder eurer großen Vögel zu betrachten, euren Worten und Stimmen zu lauschen, den Blick in die Ferne zu richten; und es ist schön, ungeduldig den nächsten Tag zu erwarten.“

Érstmals 2013 legte Udo Pütsch in seinem bei der EDITION digital erschienenen Buch „Kein Flug nach Liverpool - Nach deutschem Recht hinter schwedischen Gardinen“ Zeugnis ab von einem für ihn höchst unerfreulichen Abschnitt seines Lebens: Begonnen hat alles damit, dass der Autor mit 0,01 Promille zu viel auf dem Fahrrad erwischt wurde. Fünf Jahre danach folgte eine Beamtenbeleidigung. Und deshalb kommt man in den Knast? Der Autor, diplomierter Deutsch- und Englischlehrer; beschreibt interessant und sehr spannend seinen mehrmonatigen Gefängnisaufenthalt, ein Milieu, das seine Leser hoffentlich nie selbst kennenlernen. Verfolgen wir seine ersten beiden Tage im Knast:

„Tag Eins

Ein trüber Oktobermorgen. Es gießt aus Kannen. Der einzige Lichtfleck, der rot-weiße Liverpoolschirm, verschwindet mit Astrid am anderen Ende der Straße. Sie weiß nicht, dass ich ihr nachsehe, und ich weiß nicht, dass ich sie so schnell nicht wiedersehe.

Strömberg – JVA, Eingangstor. Als ich auf der anderen Seite bin, habe ich eine andere Welt betreten. Ich beginne nur langsam zu begreifen, dass völlig unerwartete Dinge auf mich zu kommen. In einem Raum, der in einem ruinenartigen Teil einer Baracke gelegen ist, sitze ich einem Mann in Uniform gegenüber. Ich kann nicht sagen, dass er unsympathisch ist, aber hier hat alles etwas Befremdliches. Eine unwirkliche Situation in einer unwirklichen Umgebung. Die Aufforderungen des Mannes kommen automatenartig und bestimmend und treffen mein Hirn dennoch wie im Nebel. Mein Ausweis verschwindet über den Tisch und die Automatenstimme meint, dass ich diesen für längere Zeit nicht sehen werde. Es soll nicht nur beim Ausweis bleiben. Ausziehen bis auf die Unterwäsche und alle Sachen abgeben. Es beginnt eine Kette von Abläufen, die völlig fremd in meinem Leben ist und für die mir jegliche Zuordnung fehlt.

Und dann kommt ein völlig neues Zeitgefühl. Wie man das erreicht? Ein Raum, Tür von außen verschlossen, vier weiße Wände, kein TV, kein Radio, kein Telefon, nichts zu lesen, niemand zum Reden, kein Blick aus dem Fenster möglich – und endlose Stunden Zeit. Aus Udo Pütsch ist 170/08 geworden; ohne Ausweis und damit ohne Identität.

Einmal geht die Tür noch auf und eine graue Mülltüte wird hereingereicht. Vier Scheiben Brot und zwei Kleckse Marmelade – mein Abendbrot. Abendbrot aus einer Mülltüte ist eine ebenso neue Erfahrung wie die Zimmerausstattung. Ich erinnere mich an die Farbe weiß, an blankes Metall und an Schrauben. Der Hocker, auf dem ich sitze, ist aus Metall; mit Schrauben am Boden befestigt. Der Tisch, auf dem meine Hände liegen und nicht wissen, was sie tun sollen, ist aus Metall, mit Schrauben am Boden befestigt. Mein Blick wandert durch das Zimmer. Die Wände. Weiß. An einer Wand ein Bett. Metall. Daneben ein Toilettenbecken. Metall. Wieder daneben das Waschbecken. Metall. Die Tür. Grau oder grün. Ich weiß es nicht mehr. Sehr stabil jedenfalls – und Schlösser. Viele. Wieder Wand. Weiß. Fenster. Weiß. Irgendwann liege ich auf dem Metallbett. Die Zimmerdecke. Weiß. Das Licht an der Decke. Kann man es an- und ausschalten? Egal. Die Zeit wird zu einer Röhre. Ich bin da irgendwo drin. Je länger dies dauert, desto weniger weiß ich, wie weit ich von den Enden der Röhre entfernt bin. Ist der Anfang der Röhre näher oder das Ende? Wie weit ist es eigentlich? Ich weiß es nicht. Die Umgebung wird zu einer dämmrigen Milchstraße, die das Gefühl für Zeit und Wirklichkeit schluckt. Wie ein Schwarzes Loch.

Der Tag danach

Irgendwann wird an der Zellentür geschlossen. Ich falle aus dieser Zeitröhre und werde in den Keller – oder die Kammer – gebracht, wo nochmals meine Sachen in Augenschein genommen werden. Draußen ist es hell; wie ich durch Flurfenster erkennen kann. Dann sitzt ein Mann an einem Holztisch vor mir. Es ist der Mann aus der Barackenruine. Ist er noch oder schon wieder hier? Ich weiß es nicht. Bekleidung und Waschzeug erhalte ich zurück (außer Sprays und Flüssigkeiten). Von anderen Sachen muss ich mich vorerst verabschieden, so von meinem Mobiltelefon und Pittiplatsch, unserem Glücksbringer, sowie sämtlichem Geld und Geldkarte.

Es folgt die sogenannte Aufnahme; kurzer Check beim Arzt und anschließendes kurzes Gespräch mit dem Leiter der Anstalt. Dabei wird mir so langsam klar, dass hier etwas in Gang gesetzt wurde, dass ich bis hierher immer noch nicht vollständig begriffen habe. Es wird mir mitgeteilt, dass die Anstaltsleitung nach eingehender Beratung zu dem Entschluss gekommen sei, dass ich hier bleiben dürfe. Er sagte wirklich dürfen. Dies wiederum bedeutet, dass ich nicht in den geschlossenen Vollzug muss. „Wenn Sie damit einverstanden sind, unterschreiben Sie bitte hier.“ Wie hatte mein Vater immer gesagt, wenn jemand ein selten dummes Gesicht gemacht hat? – ‚Du guckst wie ‘ne Gans, wenn’s donnert!’ Genau so muss ich in jenem Moment ausgesehen haben.

Kein Wort zu meinem vorher gestellten Antrag zur Gestaltung der Haftbedingungen oder Antrag auf Gewährung von Hafturlaub für das Supporters Meeting in gut zwei Wochen in Liverpool. Da mein Gesicht offenbar noch deutlich von Konfusion gezeichnet ist, nimmt mein Gegenüber an, dass mir die Begriffe ‚offen’ und ‚geschlossen’ im Sinne der Justiz nicht klar seien. Er hat recht. Dabei ist die Erklärung so einfach: ‚Geschlossen’ heißt, dass die Türen des Haftraumes geschlossen sind für 23 Stunden am Tag. ‚Offen’ hingegen bedeutet, dass die Türen des Haftraumes offen – also nicht geschlossen – sind und sich der Strafgefangene (genau das bin ich jetzt) innerhalb der vorgeschriebenen Zeiten im Gebäude oder Innenhof aufhalten darf, sofern er nicht anderweitige Pflichten zu erfüllen hat. Mein Geist will kurz rebellieren: „Aber meine Arbeit, ... muss meine Familie versorgen, ... Termine, ... tagsüber zu Hause arbeiten, nachts hier ...“

Ich beginne zu erahnen, wie naiv ich bisher war.

Dann wieder die Stimme an meinem Ohr: „Dass Sie hier sind, haben Sie sich selbst zuzuschreiben, private Dinge interessieren nicht. Haftlockerungen können Sie hier frühestens nach der Lockerungskonferenz erhalten.“ „Lockerungskonferenz – wann ist die?“ „Voraussichtlich im Januar oder Februar.“ „Aber heute ist der 2. Oktober.“ „Dass Sie hier sind, haben Sie sich selbst zuzuschreiben.“ Das war’s.

Schlagartig wird mir klar, dass ich weitaus mehr Probleme habe, als bisher angenommen. Am bittersten wird es dabei wohl für Astrid und Lotti zu Hause. Denn niemand von uns ist ernsthaft davon ausgegangen, dass ich mehrere Monate lang nicht zu Hause sein werde. Offener Vollzug hieß für mich, dass ich tagsüber meiner Arbeit nachgehen kann und mich von abends bis morgens hier aufhalten muss. Fataler Irrtum, in dem man mich allerdings vorher von Seiten der Justiz schweigend belassen hat.

Der Tag geht weiter – Haftraumzuweisung. Nach einigem Hin und Her komme ich auf ein Doppelzimmer, o.k. – Doppelhaftraum. Mein Haftraummitbewohner ist mit seinen 25 Jahren hier schon Stammgast. Er sitzt wegen Drogenhandel; immerhin schon zum fünften Mal. Ich werde ihn in diesem Buch Hippy nennen, auch wenn ihm das wahrscheinlich nicht recht ist.

Ich muss wieder in den Keller zum Sachenempfang und habe es wieder mit Herrn Claasen zu tun, jenem Bediensteten, der mich bereits gestern hier in Empfang genommen und heute Mittag meine persönlichen Dinge sortiert hat. Trotz seiner Uniform hat er etwas Sympathisches an sich, was sich zunächst nicht erklären lässt. Vielleicht liegt es daran, dass ich das Gefühl habe, dass er einfach nur korrekt ist – auch menschlich – ohne das zu zeigen.

Er gestattet mir sogar, zu Hause anzurufen. Und das wird jetzt ganz schwer. Ich weiß, dass Astrid seit gestern auf nichts anderes wartet. Ich weiß, dass die Grenze zum verzweifelten, verkrampften Weinen ganz nah ist und sie sich zwingen muss, die Kontrolle zu bewahren, obwohl sie innerlich zittert und die Nerven zu zerreißen drohen. Dass sie jetzt nicht zu Hause sondern auf Arbeit ist, macht die Sache nicht leichter. Wie bringe ich ihr das bei? Wie sage ich ihr, dass sie lange ohne mich auskommen muss und dass wir in den nächsten Wochen nicht einmal telefonieren können, weil mir ein genehmigtes Haft-Handy erst in ca. drei Wochen zur Verfügung steht, wenn es genehmigt wird?

Ich tippe die Zahlen in das Telefon im Keller ein und höre es am anderen Ende klingeln. „Ja bitte“. „Hallo Schatzi.“ Dann einige Sekunden nichts. Wir verstehen uns trotzdem. Ich habe Mühe, hier die Tränen zu unterdrücken, sie kämpft dort mit ihren. Behutsam fange ich an zu reden, ganz sachte, weil ich um alles in der Welt vermeiden möchte, ihr wehzutun, wo es nicht sein muss. Sie ist tapfer, hört zu und lässt mich reden – und weint nicht. Dann fragt sie mit dünner, zittriger Stimme. Was kann man sich schon in drei oder vier Minuten sagen – sie auf Arbeit am Ladentisch und ich hier mit Claasen im Knastkeller? Es funktioniert trotzdem. „Wir können ja erst mal schreiben.“ „Ja, ganz oft – jeden Tag.“ „Ich hab dich lieb, Schatzi.“ „Ich dich auch, bleib tapfer.“ „Du auch, wir schaffen das, wir drei.“ „Na klar – bis dann!“

 

Zurück zur Tagesordnung, Sachen hochbringen und Zimmer aufräumen. Das ist schnell erledigt, viel gibt es ja nicht.

Es ist schon wesentlich komplizierter, mit den neuen Umständen klarzukommen. Häftlingsalltag. Aus Hippy ist nicht viel herauszubekommen. Er ist eher ein Phlegmatiker. Vom Bett um die Ecke kommt so etwas wie: „Naja, is manchmal schwer zu peilen.“ Soweit bin ich auch schon.

Aus anderen Quellen erfahre ich etwas mehr. Was ist, wenn man kein Mobiltelefon, Radio, Fernseher usw. hat? Kann man im Prinzip alles haben, aber man darf es nicht selber mitbringen und auch nicht mitbringen oder schicken lassen. Man muss es hier kaufen und natürlich vorher beantragen. Und das kann dauern. Radio und Fernseher kann man auch auf Antrag leihen – und das kann erst recht dauern, falls überhaupt gerade Geräte verfügbar sind. Man kommt auf eine Warteliste, vergleichbar mit der Wohnraumvergabeliste im Osten vor 1989 – manche Leute kommen nie oben an. Warum? – Fragt die Uniformierten.

Anträge werden von diesem Tag an ein wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens. Es gibt Anträge dafür, dass man Besuch empfangen darf (Zweimal im Monat je zwei Personen für 90 Minuten, wenn es mindestens zwei Wochen vorher beantragt und genehmigt wurde),

Anträge für den Empfang von Paketen (Nahrungsmittelpakete von max. 3 kg brutto dreimal im Jahr unter Einhaltung der Vorschriften – Sehen sie sich das Formular an und überlegen Sie, was Sie ihrem Mann/Verlobten/Sohn usw. ... bzw. Ihrer Frau/Verlobten/Tochter usw. schicken würden! – Versuchen Sie es wirklich mal!),

Anträge für Arztbesuch,

Anträge für Arbeit,

Anträge für Taschengeld (12 €/Monat),

Anträge für Suchtberatung,

Anträge jemanden sprechen zu dürfen ...

Jaja, alles schriftlich – man kann da nicht einfach so hingehen und jemanden ansprechen.

Was ist sonst noch neu? Die Verpflegung! Es beginnt ein Leben vollgestopft mit altem Brot, Margarine, Marmelade und Pfefferminztee. Salz, Zucker und Kaffee dagegen erhalten den Status von Luxusgütern, bestimmte Wurst- und Fleischprodukte werden mit dem Etikett ‚Nostalgie’ versehen und in den wohlbehüteten Erinnerungsschubladen abgelegt.

Natürlich kommt dann irgendwann der Zeitpunkt, zu dem es sich nicht verdrängen lässt, dass es noch eine Familie und ein Zuhause gibt, dass jeder von uns auf Liebe und viele schöne Stunden verzichten muss, kein Geld verdient wird und Pflichten liegen bleiben. Meinetwegen mache ich mir keine Sorgen. Ich weiß, dass ich einen Willen besitze, mit dem ich alles schaffen kann. Astrid und Lotti haben es da vielleicht viel schwerer, aber ich glaube an die Kraft, die wir uns gegenseitig geben – Astrid, Lotti und ich. Und deshalb schaffen wir das auch, das haben wir uns versprochen.“

Aber das wird nicht einfach werden, bestimmt nicht. Und damit sind wir schon wieder am Ende des heutigen Newsletters mit den fünf Deals der Woche angelangt, die wohl für fast jeden Leser und für jede Leserin ein Angebot dabei haben dürften. Hoffentlich haben Sie den „Besuch im Knast“ einigermaßen überstanden …

Aber auch bei den anderen Büchern viel Spaß beim Lesen, weiter einer schönen Frühling und bis demnächst.

DDR-Autoren: Newsletter 05.04.2019 - Vom Anfang und vom Ende, Wiedersehen im grauen Berlin und die Rückkehr