DDR-Autoren
DDR, CSSR, Sowjetunion, Polen ... E-Books, Bücher, Hörbücher, Filme
Sie sind hier: DDR-Autoren: Newsletter 21.06.2019 - Nachforschungen über eine Heilige, ein Lügendetektor auf höchstem

Nachforschungen über eine Heilige, ein Lügendetektor auf höchstem Niveau sowie Klee und Nebel – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 21.06. 2019) „Expedition Mikro“ – so lautet diesmal der Titel des aktuellen Beitrags zum Thema Fridays for Future – Freitage für die Zukunft. Jede Woche wird an dieser Stelle zu Beginn jeder Sendung jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Allerdings sind diese Angebote im Gegensatz den anderen Offerten nicht preisgesenkt, sondern sie werden zum Normalpreis verkauft.

Bei den anderen Angeboten bleibt es dagegen bei den bekannten Sonderpreisen. Und nun zu den aktuellen Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 21.06.19 – Freitag, 28.06.19) zu einem deutlich günstigerem Preis zu haben sind. Im ersten Angebot „Elisabeth – Landgräfin von Thüringen. Das irdische Leben einer Heiligen“ setzt sich Hans Bentzien mit ihrem Leben und ihren Leistungen sowie mit den Legenden über die berühmte Frau auseinander, die mitunter auch als „Mutter Theresa des Mittelalters“ bezeichnet wird. Wer war sie wirklich? Was stimmt und was stimmt nicht? Wie groß war die Liebe zu ihrem Mann, Landgraf Ludwig IV.? Und umgekehrt? Außerdem: Welche Rolle spielte eigentlich Magister Konrad von Marburg, ihr Beichtvater. Und warum musste Elisabeth so jung sterben?

Über die Lebenswege von fünf expressionistischen Schriftstellern schreibt Albrecht Franke in „Hilles letzte Wanderung“.

Von höchst seltsamen Vorgängen im Institut für Verhaltensforschung in Klockachtern in MV erzählt Hans-Ulrich Lüdemann in dem utopischen Kinderbuch „Um Himmels Willen keine Farbe“.

Um die ungewöhnliche Liebe einer sechzehnjährigen DDR-Jugendlichen und um Vorurteile, die es auch in diesem Land gegeben hat, geht es in „Vier Wochen eines Sommers“ von Siegfried Maaß.

Musik, Nächstenliebe und Freiheit spielen eine große Rolle in „Big City Rap“ von Maria Seidemann.

Und damit zu dem heutigen Fridays for Future-Angebot.

Als Band 128 der Reihe „Spannend erzählt“ erschien erstmals 1976 im Verlag Neues Leben Berlin der Wissenschaftlich-fantastische Roman „Expedition Mikro“ von Alexander Kröger. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2010 im Projekte Verlag Cornelius veröffentlich wurde: Wie ein gewaltiger Trichter öffnet sich vor ihnen der Schnabel des Riesenvogels, und ihr Hubschrauber verschwindet in dem unermesslichen Schlund. Entsetzt blickt Gela Nylf auf die Gefährten, die sich im bleichen Licht der Kabinenbeleuchtung zu orientieren versuchen. Wird auch diese Expedition misslingen, nachdem schon ihre Vorgänger in jener seltsamen Welt verschollen sind, die sie so schwer begreifen können? Gela denkt an Harold, der die vorige Expedition leitete und nie zurückkehrte. Hat er die sagenhaften Wesen getroffen, die mitunter wie wolkige Schemen am Horizont aufgetaucht sind? Ist der Kontakt mit ihnen tödlich, oder wird er die ersehnte Hilfe bringen? Die Hubschrauberbesatzung tut alles, um aus dem fliegenden Gefängnis freizukommen. Die Expedition darf nicht scheitern, denn zu viel hängt von ihrem Erfolg ab: die Existenz auf der kleinen Insel inmitten des Ozeans, die Heilung der Krankheit, die dort grassiert, die Rettung vor den bedrohlichen Naturgewalten ... Und so stellen sich Gela Nylf, Chris Noloc und die anderen immer neuen Gefahren und Abenteuern. Und so beginnt das spannende und nachdenklich über Genmanipulationen stimmende Buch, das auch nach mehr als vier Jahrzehnten nach seiner Erstveröffentlichung gut zu lesen ist:

1. Kapitel

„Und ich sage dir, dass wir die Gefahr für uns alle nur vergrößern, wenn wir wieder nach Hause aufbrechen!“, äußerte sich Gela Nylf ärgerlich. Sie strich mit den Fingern der linken Hand über die Tischkante. Ihr Gesicht war gerötet, die Augen kniff sie zusammen, die hohe Stirn zog Falten. Sie blickte an ihrem Gegenüber vorbei, dem Biologen Charles Ennil. Er wiederum bemühte sich, sie nicht voll anzusehen. Gela schielte ein wenig, fast unmerklich. Ihr Blick hatte dadurch nicht jene musternde Schärfe, und ihre Partner konnten leicht den Eindruck gewinnen, sie sei nicht ganz bei der Sache. So empfand im Augenblick auch Charles.

„Es gab auf der Fahrt hierher im Grunde genommen keine echte Gefahr“, entgegnete er verächtlich. „Was soll unserem Schiff passieren! Dreimal haben uns diese Salmons und die anderen Fische geschluckt, und was war? Außer dass die Scheiben ein wenig blind geworden sind und wir im Übrigen die Orientierung verloren haben, geschah doch nichts! Aber wenn wir hier bleiben ...“ Den Satz vollendete er nicht. Es war jedem der Anwesenden klar, was er damit sagen wollte.

Gela senkte den Blick. Sie spürte wieder den Schauer über ihren Körper laufen wie damals, als dieses Meerungeheuer das Schiff verschlang. Dann tagelang die Finsternis um sie herum, das Schiff eingeschlossen von zersetzten Tierleibern und Pflanzenresten. >Würden diese Biester nicht alles, was sie greifen, hinunterwürgen, sondern kauen, wir wären jetzt ... Und wer sagt, dass es nicht welche gibt, die kauen? Der Ozean wimmelt von solchen und noch größeren Ungeheuern geradezu. Und da sagt dieser Charles: „Da war doch nichts!“ Natürlich hat er insofern recht: Außerhalb des Schiffes werden die Gefahren größer sein.<

„Nun, machen wir Schluss mit der Diskussion!“ Robert Tocs hatte es energisch gesagt. Er sah unter seiner auf die Stirn geschobenen Brille hervor den Biologen zwingend an. „Außer dir, Charles, sind alle dafür, dass wir auch unter diesen Umständen die Aufgabe erfüllen. Ich weiß, dass es schwierig und vielleicht auch opferreich sein wird. Aber schließlich war uns das von Anfang an bewusst.“

„Aber ...“, warf Charles ein.

Robert Tocs erhob nur ein wenig die Stimme und fuhr ungeachtet des begonnenen Einspruchs fort: „Charles, ich bin mir sicher, dass es nicht etwa Angst ist, was dich so sprechen lässt. Dafür kenne ich dich zu gut. Du denkst vor allem an uns neunundzwanzig Übrige. Das ehrt dich natürlich. Aber von Gela, unserem Küken, hast du eben gehört, was sie von deiner Fürsorge hält. Es entspricht unser aller Ansicht. Also: Morgen startet eine Exkursion ins Landesinnere und erkundet einen Stützpunkt.“ Tocs’ Blick ging über die Köpfe. Jens Relpek, der Physiker, blickte aus wasserklaren Augen zurück. - >Nein, er ist zu weich, zu gründlich auch. Er würde lange wägen bevor er sich entscheidet - auch dann, wenn es auf die Sekunde ankommt. Gela - zu unerfahren, sie also noch nicht. Sie brennt sicher darauf, aber es wäre falsch. Charles ist für die Leitung der Exkursion vorgesehen. Aber jetzt, nach seinen Bedenken? Bei ihm besteht auch die Gefahr, dass er zu tief ins Fachliche gleitet, im Registrieren und Eingruppieren das Leiten vergisst. Chris, sieh nicht so herausfordernd her. Ich weiß, dass du dazu einmal fähig sein wirst, noch bist du mir aber zu draufgängerisch, bringst womöglich deine Begleiter unnötig in Gefahr. Mieh, den Arzt, kann ich nicht von hier fortlassen. Er muss für die Mehrheit da sein. Carol, seine Frau, wird die Exkursion begleiten. Leiten kann sie sie nicht. Wer also? - Ich! Das wäre gegen Vernunft und Instruktion ...<

Wieder machte Roberts Blick die Runde. Dann entschied er: „Charles wird die Exkursion leiten. Ihr fliegt mit dem kleinen Helikopter. Die Mannschaft stellst du dir selbst zusammen, Charles. Ich danke!“

Bevor das Leitungsteam die Brücke verließ, kam Charles Ennil der Aufforderung des Kommandanten nach und benannte die Teilnehmer der Expedition.

„Chris, bleib du noch ...“, forderte Robert. Er trat an die große Rundsichtscheibe und starrte nach draußen. Die Scheinwerfer waren gelöscht. Das Stück Himmel über ihnen lag in einem fahlen Schein. Nur die großen Sterne durchdrangen ihn. Unmittelbar vor dem Schiff türmte sich die trostlose Geröllwüste. Kommandant Tocs lächelte. Er dachte an das schwierige Landemanöver. >Erst gebärdeten sich alle ungeduldig, als endlich Land in Sicht war, nur ich zögerte. Auch du, Chris, hast das zunächst nicht verstanden.< Robert hatte sich umgedreht und sah Chris, der gleich ihm am Fenster stand und in die Dunkelheit starrte, von der Seite her an. >Es war eben doch gut, eine besonders hohe Welle abzuwarten und dann mit voller Kraft aufzulaufen. So war es möglich, mein lieber Chris, gleich ein schönes Stück ins Land hineinzukommen, ohne dass uns das ablaufende Wasser wieder zurückzog. Endlich eine Aufgabe<, dachte er stolz. >Diese nervtötende Seefahrerei, trotz der Ungeheuer - im Grunde genommen äußerst langweilig ...<

>Warum wohl Robert gezögert hat, als es um den Leiter der Exkursion ging? Schließlich stand Charles von vornherein dafür fest. Nun ja, seine Unkerei macht ihn ein wenig unglaubwürdig<, dachte Chris; er bemühte sich im Schein der schwachen Brückenbeleuchtung draußen etwas zu erkennen. Geröll und aufgetürmte Haufen aus abgeschliffenen Steinen, dazwischen breite Kriechspuren von Tieren. >Ein normaler Küstenstreifen, fast gleich dem, der sich um unsere Insel zieht.<

„Chris, ich habe Charles empfohlen, dich mitzunehmen“, erklärte Robert plötzlich und blickte in die Finsternis hinaus.“

Erstmals 1990 veröffentlichte Hans Bentzien im Verlag Neues Leben Berlin „Elisabeth – Landgräfin von Thüringen. Das irdische Leben einer Heiligen“: Wenn man die Wartburg besucht, gelangt man durch einen Laubengang in die Kemenate der heiligen Elisabeth. Sie ist geschmückt mit den berühmten Fresken Moritz von Schwinds, die an das Leben dieser Frau erinnern. Wer war Elisabeth, Landgräfin von Thüringen, die 1231, nur vierundzwanzigjährig, starb und nach ihrem Tod heiliggesprochen wurde? Als vierjähriges Mädchen kam sie, eine ungarische Königstochter, an den Hof von Eisenach. Sie war mit dem elfjährigen Sohn des Landgrafen verlobt worden. Auf der Wartburg wird sie erzogen wie die Fürstenkinder auch. Früh zeigen sich ungewöhnliche Charakterzüge. Sie will, dass es gerecht zugeht, und es entwickelt sich bei ihr eine Frömmigkeit, die zu einer sozialen Haltung wird. Als ihr Verlobter stirbt, wird sie mit dessen Bruder, Ludwig IV., verheiratet. Zwischen beiden entsteht eine echte Liebe - für die auf Verträgen beruhende Heiratspolitik keine Selbstverständlichkeit. Als Landgräfin schärft sich ihr Blick für das Wohlleben bei Hofe und die Not der Bauern. In einer der vielen Hungersnöte, als sie den Landgrafen zu vertreten hat, öffnet sie die Speicher, verteilt auch ihre persönliche Habe, ihren Schmuck. Elisabeth greift die Lehren des Franz von Assisi auf und lebt nach den Geboten der freiwilligen Armut. Als ihr Mann auf einem Kreuzzug einer Seuche zum Opfer fällt, wird die dem Hofe und Klerus unliebsame Landgräfin abgesetzt und entmündigt. Sie soll sich jetzt dem Willen ihres Beichtvaters unterwerfen. Doch Elisabeth macht nicht ihren Frieden, sondern vertritt weiter konsequent ihre Ansichten. Von ihrem Witwenteil finanziert sie ein Hospital in Marbach. Hier hilft sie täglich den Armen und Kranken. Konrad, ihr Beichtvater, erlegt ihr nun lange Fastenzeiten und Exerzitien auf, um ihren Willen zu brechen. Schließlich prügelt er sie sogar, bis sie es nicht mehr ertragen kann: In der Nacht vom 16. zum 17. November 1231 stirbt sie. Nach ihrem Tode entstehen im Volk viele Legenden um ihr Leben. Das reale Leben tritt immer mehr in den Hintergrund. Hans Bentzien versucht in dem erstmals 1990 veröffentlichten Buch, das wirkliche Leben der Elisabeth nachzuzeichnen, die Motive ihres Handelns, den Zusammenhang mit den sozialen und geistigen Widersprüchen jener Zeit zu ergründen und darzustellen. Hier ein Ausschnitt, in dem Bentzien das Thema auslotet:

Geehrt und gescholten

Die Meinungen über Elisabeth gehen auseinander, wir wollen Widersprüche nicht umgehen. Schlägt man heute eines der zahlreichen Bücher über Heilige auf, rangiert sie durchaus nicht unter den wichtigsten, dazu war sie zu weltlich. Versucht man, sich ihrer Leistung als Landgräfin zu nähern, findet man die wirkliche gesellschaftliche Bedeutung von nachträglich erfundenen Heiligenlegenden verstellt. An dem Platze, wo bei der Translation der Sarg gestanden hat, liegt ihr würdiges Grab, über dem man einen Baldachin errichtete. Auf ihm wird sie „Gloria Teuthonie“ genannt, der Ruhm Deutschlands. Die lateinische Inschrift läuft an den Kanten um und lautet in der Übersetzung: „Ruhm Deutschlands, Edelstein der Tugenden, Quelle der Weisheit, Zierde der Kirche, Blume des Glaubens, Vorbild der Jugend, Mutter der Dürftigen, Heilmittel der Krankheit, Hoffnung der Schuldigen ...“, und dann folgt die Bitte, sie möge ihr Herz den Wünschen ihrer Anbeter zuneigen.

Kann ein Mensch, sei es auch ein bedeutender, alle diese großen Eigenschaften in sich vereinen, was hat er getan, um so ungewöhnlich geehrt zu werden?

Seit hundertfünfzig Jahren ist man jeder Spur von ihr nachgegangen und hat sich bemüht, sie zu sichern und zu beschreiben. Obwohl einiges für immer verschwunden ist, weiß man doch aus der Zeit vor achthundert Jahren durch gründliche historische Forschung sehr vieles über die damalige Zeit, die Geschichte und die damit zusammenhängenden Ereignisse.

Es ist sicher, dass die meisten Legenden nach ihrem Tode entstanden sind, als Elisabeth schon heiliggesprochen war, um so ihren Ruhm zu vergrößern. Darum sind sie für uns aber nicht wertlos, steckt in ihnen doch mehr als fromme Verehrung, vielleicht das zeitgenössische Urteil einfacher Menschen und die Sehnsüchte des Volkes, wenn man dies auch in vielerlei Gestalt aufspüren muss.

Nicht immer wurde die Erinnerung an Elisabeth gleich stark wachgehalten. In der Reformationszeit und den darauffolgenden Jahrhunderten wurde sie fast vergessen. Doch vor gut einhundertdreißig Jahren suchte das entstehende Zweite Deutsche Reich seine historische Legitimation und schuf eine eigene Ahnengalerie, die bis ins Mittelalter reichte. Im Zusammenhang mit den Plänen, die Wartburg zu einer Stätte der deutschen Geschichte auszubauen, erwachte erneut das Interesse an den Persönlichkeiten, die auf der Burg gewirkt haben, und damit natürlich an der Gestalt Elisabeths. Mit der Restaurierung der Wartburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde ihr Bild durch die Fresken Moritz von Schwinds und etwas später in den opulenten Mosaiken der ihr zugeschriebenen Elisabethkemenate geprägt.

Hand in Hand mit der Neuentdeckung ihres Lebenswerkes beginnen eine gründliche Quellenuntersuchung und die Herausgabe der überkommenen Schriften und Zeugnisse. Bis dahin überwog der Wunderglaube an die Heilige, nun entsteht ein von manchen frommen Zusätzen gereinigtes Elisabethbild. Trotzdem bleibt sie Ahnfrau mancherlei heutiger gesellschaftlicher Bestrebung, so wie sie damals, neben der Jungfrau Maria, zur Heiligen und Schirmherrin des Deutschritterordens im 13. Jahrhundert erklärt wurde. Die kirchliche Sozialorganisation Caritas beruft sich auf sie als historisches Symbol, und die Elisabethschwestern weihen ihre selbstlose Arbeit der großen Namensgeberin.

Einen Teil der volkstümlichen Geschichtsüberlieferung stellten die Legenden dar, die Quelle der Kenntnisse über Elisabeth im Volk. Als Beispiel mag eine Erzählung über Elisabeths entfernte Verwandte, die gleichnamige portugiesische Königin, dienen, die ganz selbstverständlich der Thüringer Landgräfin zugeschrieben wird, obwohl sie schon längst tot war, als die Legende vom Rosenwunder entstand. So erzählt man sich heute noch in Thüringen, die Landgräfin habe mit ihren Dienerinnen die Burg auf dem Wartberg verlassen und sei in das am Fuße des Burgbergs gelegene, von ihr gegründete Hospital gegangen, um den Kranken Lebensmittel zu bringen, die sie unter ihrem weiten Fürstenmantel verborgen hielt. Elisabeth hätte die Nahrung unter ihrem Mantel verstecken müssen, weil sie den Speichern der Burg entnommen gewesen sei, ohne dass die Gräfin die Genehmigung dazu erbeten hätte. Da sei der Landgraf auf seinem Pferd aufgetaucht. War es Absicht oder Zufall? Jedenfalls hätte er seine Frau nach ihrem Ziel gefragt, und sie berichtete, die drei hätten Rosen, die am Wege standen, gepflückt und wollten sie den Kranken bringen. Ludwig glaubte der Geschichte nicht so recht und bat sie, den Mantel zurückzuschlagen. Als sie es mit Herzklopfen tat, sei das Wunder geschehen. Rosen seien zum Vorschein gekommen. Beschämt habe sich der Landgraf wegen seines Misstrauens entschuldigt, und die Frauen konnten ihren Weg zur Speisung der Kranken fortsetzen.

Auch in dieser Legende stecken eine Reihe von logischen Widersprüchen, was ihr aber nicht schadet. Landgraf Ludwig IV. galt als ein Mann, der seine Frau aufrichtig liebte und ihr ohne Weiteres erlaubt hatte, ein Hospital zu bauen und zu unterhalten. Was sollte er gegen ein Brotgeschenk für die Kranken und Elenden haben, wenn der Hof durch Elisabeth die Versorgung übernommen hatte? Der Fürst billigte die karitative Tätigkeit seiner Frau und würde sie deshalb nicht gerügt haben, weshalb also sollte sie ihn belügen? Das Hospital war eines der wenigen in dieser Zeit, eine öffentliche Einrichtung, bei der sich jeder Bedürftige melden konnte, und er erhielt Hilfe, bestehend aus Nahrung und Krankenpflege.

Allerdings war es noch lange nach ihrem beispielhaften Leben für andere Fürstinnen undenkbar, die beschwerlichen Dienste zu verrichten, die nun einmal mit der Pflege kranker und hilfloser Personen verbunden sind. Elisabeth erledigte die notwendigen Arbeiten oder beaufsichtigte sie ohne Scheu und vermochte es, sich auch gegen Warnungen und Widerstände aus ihrer Umgebung durchzusetzen. Ludwig schützte sie vor Angriffen mit seiner Autorität als Herrscher, niemals hätte er sie wegen einiger Brote getadelt, sie ihn deshalb niemals belogen.

Bis dahin kannte man das zur Formalität erstarrte Almosengeben, von nun an aber die Anteil nehmende Hilfe durch eine Fürstin. Dieser Gedanke wird auf der Wartburg gleich zweimal bildhaft ausgedrückt. Zum ersten Mal erfahren wir durch Moritz von Schwind von der hilfsbereiten Frau, die ihrem Mann selbstbewusst gegenübersteht. In der Elisabethkemenate aber, prächtig mit farbigen Mosaiken ausgeschmückt im offiziellen Geschmack des beginnenden 20. Jahrhunderts, verblasst ihre Persönlichkeit schnell hinter allem ausgestreuten Prunk. Auf den Fresken Moritz von Schwinds wird zurückhaltend zuerst von der dienenden Fürstin, danach von der durch ihre Umwelt verstoßenen Frau berichtet, Elisabeth erscheint ihrem Wesen nach richtig als helfende Schwester. Die Gründerzeit mit ihrem Fürstenkult hatte für die ungewöhnliche Landgräfin jedoch keinen inneren Platz, und wir sehen in den Mosaiken auf den wenigen Quadratmetern wieder das Dilemma ihres Lebens, die mangelnde Fähigkeit der Herrschenden, die beiden Seiten der überkommenen Botschaft Elisabeths zu verstehen.

Bis heute taten sich alle Zeiten schwer damit. Viele Schriften stellten sie so dar, als hätte sie schlafwandlerisch sicher, schon als Kind immer das Richtige getan. Das war durchaus nicht so; alle Entscheidungen, vor denen wir heute Hochachtung empfinden, wurden ihr schwer gemacht und waren umstritten. Sie lebte in einer aufregenden Epoche. Die feudale Ordnung hatte sich in Hunderten von Jahren herausgebildet, das Mittelalter hatte seinen Höhepunkt erreicht, die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräfte versuchten, Staat und Kirche neu zu ordnen, Altes wurde von Neuem angegriffen, Machtkonstellationen änderten sich, in einigen Fällen weithin sichtbar, in anderen fast unbemerkt.

Das Thüringer Landgrafenhaus spielte um die Wende des 12. zum 13. Jahrhundert eine wichtige Rolle, und es schien sogar so, als würde es, im Herzen Deutschlands gelegen, von entscheidender Bedeutung werden. Die Ludowinger betrieben eine weitreichende Politik, und Elisabeth wurde in diesem Spiel zu einem wichtigen Stein. Wie wichtig sie war, das wollten viele Forscher herausbekommen. Besonders in unserem Jahrhundert wurden alle Quellen ihres Lebens und Wirkens wieder und wieder angesehen und beurteilt, jeder Mauerrest untersucht, Kongresse besprachen Entdeckungen und Vermutungen. Und es ist der Beharrlichkeit der Historiker gelungen, dem vorherrschenden Legendenbild ein Porträt der Landgräfin entgegenzustellen, das sie uns in einem realistischen Bild zeigt.

Zu den mageren Quellen gesellt sich das Problem, Wahrheit und Legende deutlich zu unterscheiden, was sich manchmal als unmöglich erweist, will man nicht überhaupt die Legenden in den Bereich der Erfindung verweisen. Aber ist die Gestalt Elisabeths ohne die Kenntnis und ernsthafte Betrachtung der Legenden überhaupt zu begreifen? Zum Beispiel ohne die Sage vom Zauberer Klingsor aus Ungarn, der in Eisenach ihre Geburt weissagte?

Elisabeth ist eine Trägerin von Sympathien und war doch durchaus keine Idealgestalt. Sie lebte am Landgrafenhof, verwaltete ihn sogar zeitweise und legte dennoch ihr Gespür für die Bedrängnisse der Menschen nicht ab, was ihr soziales Gewissen schärfte und ihre ungewöhnlich feinen Empfindungen für die Umwelt ausprägte. Sie besaß gute Gaben und zeitweise Macht. Diese Macht setzte sie, wenn auch unbewusst, auch gegen die Interessen der feudalen Klasse, der sie entstammte und verpflichtet war, ein. Dafür wurde sie verfolgt, und daran zerbrach sie schließlich. Sie konnte nicht erreichen, was niemand bisher vermochte: Sie konnte nicht Fürstin und Dienerin zugleich sein. Doch ihr Ruhm beweist, dass sie auch nicht gescheitert ist.“

Unter dem Titel „Hilles letzte Wanderung“ erschien 1983 erschien im Union Verlag Berlin ein Band mit Künstler-Erzählungen von Albrecht Franke: In den fünf Texten versucht Albrecht Franke, die Problematik und die Fragwürdigkeit von Künstlerexistenzen zu gestalten, das Leben von Dichtern, die im weitesten Sinne dem Expressionismus zugerechnet werden können: Peter Hille, Georg Heym, Georg Trakl, Theodor Däubler und Paul Zech. Die erzählerischen Anlässe sind bekannt: Peter Hille stirbt nach einem auf einem Bahnhof erlittenen Blutsturz am 7. Mai 1904 in einer Berliner Klinik, Georg Heym ertrinkt am 16. Januar 1912 bei dem Versuch, seinen ins Eis eingebrochenen Freund Ernst Balcke zu retten, Georg Trakl nimmt in der Nacht vom 3. auf den 4. November 1914 in einem Krakauer Garnisonsspital eine Überdosis Kokain, Theodor Däubler verbringt die letzten Wochen seines Lebens in dem Schwarzwaldkurort Sankt Blasien, wo er 1934 stirbt, und Paul Zech wagt im Sommer 1933 einen Absprung ins Blaue hinein, um der drohenden Gefahr einer Verhaftung zu entgehen. Prag und Buenos Aires sind die weiteren Stationen seines Lebens, seine Heimat sieht er nicht wieder. Fünf Dichterschicksale also, erfasst im Augenblick scheinbaren Scheiterns, an Schlusspunkten widersprüchlicher Biografien. Zwischen Rebellion und Hoffnung, zwischen Ohnmacht und Handeln, zwischen lautem und leisem Protest gegen versteinerte Verhältnisse, diese Spannungsfelder bestimmten ihr Leben. Die humane Anstrengung Hilles, Heyms, Trakls, Däublers und Zechs macht sie gegenwärtig, sowohl 1983, als diese Erzählungen zum ersten Male erschienen, wie auch heute. Unser Ausschnitt stammt aus der Erzählung über Paul Zech, der sich übrigens auf eine ganz eigene Weise mit dem französischen Dichter François Villon befasste. Stichwort: Klaus Kinski und „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“. Hier aber der angekündigte Ausschnitt:

„Er ist müde, aber noch will er nicht in sein Hotel zurückkehren. Der Abend wäre sonst endlos. Unsinn. Er müsste endlich einmal früh zu Bett gehen, sich gründlich ausschlafen. Doch, doch, er wird alt, auch wenn er sich das Gegenteil einredet, Frost macht sich langsam auch in seinem Blut breit, der Sommer ist vorbei. Den unermüdlichen Wanderer und Schreiber Zech gibt es nicht mehr, der nach vier Stunden Schlaf wieder an die Arbeit gehen konnte. Vieles wird sich nun ändern in seinem Leben. Das kann nur gut für ihn sein, wenn er wieder ein Schreiender, Stürzender sein wird, der die Massen aufrüttelt zum Feuerruf der Empörung und die Axt seiner Verse an den morschen Untergrund der Gesellschaft legt. Dazu muss er das Kostüm des Bibliothekars ausziehen, den doppelten Boden sogenannter sicherer Existenz verlassen. Er weiß nun, auf wessen Seite er gehört und wird gegen die Verderber seiner Heimat zu Felde ziehen. So wie ihn die Nazioten in Spandau nicht weichklopfen konnten, so soll ihn das Exil erst recht nicht brechen. Nur diese endlosen Herzstiche. Bevor er Prag verlässt, muss er unbedingt einen Arzt konsultieren. Gibt es in Prag Ärzte für entwurzelte Emigranten mit Herzrhythmusstörungen? Lächerlich, dass ausgerechnet ihn solche Beschwerden treffen. Und irgendwelche Pillen und Tropfen werden sich auch ohne einen weiß befrackten Klugredner auftreiben lassen, der, selbst dickbäuchig, ihm Bierverbot auferlegt und täglich fünf Laufrunden auf dem Sportplatz verschreibt. Und was heißt entwurzelt? Dummes Gerede. Das war er auch schon in Berlin. Darin sieht er die Grundlage seiner Künstlerexistenz. Heute will es ihm scheinen, als hätte er mit kraftvoller Faust ins Leere gestoßen. Den Traum vom neuen Menschen und der Verbrüderung an der schlimmen Wirklichkeit zerschellen lassen. Und nun werden die neuen Menschen einer ganz anderen Prägung das Expressionistengesindel ausräuchern, und in ein paar Jahren wird alles vergessen sein. Schlimm, sehr schlimm. Aber noch ist er da. Warum hat er nur so lange abseitsgestanden? Aufmärsche unter roten Fahnen hatte es nur in seinen Gedichten gegeben, er selbst wollte in Ruhe beobachten und aufschreiben. Ja, so naiv ist er gewesen. Am Ende hatte er selbst den Knast in Spandau für einen Irrtum gehalten. Erst die Hausdurchsuchung, bei der man seine Bücher aus dem Fenster warf, machte seiner Verblendung ein Ende. In seinen Träumen muss er immer noch durch abendliche Straßen rennen, japsend und dem Zusammenbruch nahe, im Krankenhaus um Aufnahme flehen, um den blutrünstigen SA-Schlägern zu entgehen, in der nächsten Nacht halb tot vor Angst auf die Grenze zufahren, über eine nasse Gebirgswiese robben, von weit her Gebell hören, sich zitternd an die Erde pressen. Harmlose Dorfköter? Oder schon die Dobermänner der deutschen Grenzpolizei, der eifrigsten der Welt. Sture Beamte, die Pässe misstrauisch visitieren und auch exakt schießen. Er muss kriechen und kriechen, und immer weiter scheint die Hecke uralten Holunders wegzurücken, die ihm als Grenze beschrieben wurde.

Václavské námesti. Gegen Abend treibt es ihn zum Wenzelsplatz. Von da ist es nicht mehr weit bis zu seinem Hinterhofetablissement. Das Standbild des heiligen Wenzel der Slawen im Licht des sinkenden Tages. Diese Stunde liebt er, die Geräusche und Düfte, die Farben des Himmels. Aber all das hilft nicht gegen die Beklommenheit, die in ihm aufsteigt. Diese Jahreszeit, Sommertage, gemacht vom Herbst, wird er für eine lange Zeit nur in der Fremde erleben. Und dort wird alles ganz anders sein. Keine abendlichen Spaziergänge mehr durch märkische Kiefernwälder, keine Reise ins schwarze Revier, die er seiner Tochter schon lange versprochen hat, damit sie ihren Ursprung kennenlerne. Viele Versprechen werden nicht eingelöst in dieser Zeit. Höchste Zeit, dass er ein paar Karten und Briefe schreibt. Er wird behaupten, dass es ihm gut geht und er die Hoffnung auf Rückkehr niemals aufgeben wird. Ist das gelogen? Nein, er ist froh, dass er noch lebt. Er umkreist das Denkmal, wie jeden Abend verstrickt er sich immer mehr in den Maschen einer tief sitzenden Angst. Hat er überhaupt die Chance zurückzukehren? Nein, er darf nicht verzagen, muss weiterleben, auch auf fremder Erde. Dazu ist er fest entschlossen. Auf, Zech, sagt er sich, vorwärts zu Abendessen und plzenské pivo, dem kühlen Pilsener.

Gesichter kommen auf ihn zu. Nur gleichgültige, keines mit dem Lächeln der Wiedersehensfreude. Von fern Musik. Vielleicht ein Fest, eine Hochzeit. Oder man feiert, weil man sich nach Freude sehnt, dem Zusammensein, weil man die kurze Zeit der schönen Abende nutzen muss. Es wird schon dunkel. Er geht ganz langsam, um in die erleuchteten Wohnungen sehen zu können. Tische sind zum Nachtmahl gedeckt, Männer sitzen beim Kartenspiel, ein kleines Mädchen wird zu Bett gebracht. Es trägt einen großen gelben Plüschbären im Arm. Das Kind sagt der Mutter etwas ins Ohr, die blickt zum Fenster, und er wendet sich rasch weg und geht jetzt mit großen Schritten, ohne nach links und rechts zu sehen.

Als er Lokomotivengeheul vom nahen Bahnhof Praha stred hört, weiß er ganz plötzlich den Anfang eines neuen Gedichts. Er bleibt stehen und schreibt hastig in sein Notizbuch:

Die Züge, die nach Süden fuhren,

ich sah sie oft aus dem Versteck

und hörte sie wie Weckeruhren

und kam noch immer nicht vom Fleck.

Wieder und wieder liest er das Geschriebene, er ist glücklich und fühlt, wie sich zum ersten Mal seit Tagen Ruhe in ihm ausbreitet. Siehst du, Freund Zweig, sagt er zu seinem Schatten, wir werden weiter dichten. Arbeit und Essen sind die besten Arzneien gegen jegliche Trübsal. So sehr ist er in dem Wahn, den Freund neben sich gehen zu sehen, dass er ihm weitschweifig die Pläne für die Gründung einer Zeitschrift entwickelt. Als er merkt, dass er wie immer in den letzten Tagen nur mit sich selbst geredet hat, lacht er laut auf, versetzt einer Gaslaterne einen kurzen Fußtritt und läuft singend und pfeifend weiter. Alles wird gut, das will er jetzt glauben. Nieder mit den nagenden Zweifeln, weg mit der Traurigkeit! Ein neuer Zech kommt heute Abend in das Hotel zum Knödelessen. Vielleicht ist sein altes Leben tatsächlich auf der Karlsbrücke geblieben, als er das Gefühl hatte, eine Linie zu überschreiten. Und was nützen ihm die Grübeleien über Dinge, die er vor langer Zeit hätte anders anpacken müssen? Vieles ist ihm auch gelungen, er ist seinen eigenen Weg gegangen, war nie bezahlter Lohnschreiber, Garkoch trüber Brühen, der um des lieben Geldes willen seine Gedanken und Überzeugungen vergewaltigt. Schlimm genug, dass auch er sich muffigen Konventionen zu fügen hatte, nach Ämtern und gesicherten Einkommen streben musste. Freilich hat er als Bibliothekar noch Glück gehabt, war sogar Vorgesetzter promovierter Kollegen. Es war kein Beruf, der einem den Blick auf die Kunst verrammelt und die Schreiblust mit täglichem Kleinkram versauert. Im Gegenteil! Nur die paar Nazis in seiner Abteilung hatten ihm zuletzt mit ihrem Geschwätz die Freude an der Arbeit verdorben und ihn schließlich mit tückischen Verleumdungen hinausgeekelt. Und leider wird der Wert eines Menschen immer noch danach bemessen, ob sein Anzug fleckenfrei und mit dem richtigen Parteiabzeichen geziert ist und die Schuhe geputzt sind. Nein, nein, da muss man konsequent sein und den Schlussstrich ziehen. Lieber in der Fremde betteln, in schäbigen Zimmern nächtigen, den lausigen Fraß der Suppenküchen schlucken, als Beamten in den Hintern kriechen, die sich höchstens dafür interessieren, ob man Zech mit C oder Z schreibt. Er bleibt stehen, reißt die Krawatte ab und stopft sie in die Hosentasche. Den gestreiften Stofffetzen braucht er nicht mehr, ein offener Hemdkragen steht einem wie ihm entschieden besser zu Gesichte.“

Erstmals 1983 brachte der Kinderbuchverlag Berlin „Um Himmels Willen keine Farbe“ von Hans-Ulrich Lüdemann heraus: Ein Hirnspektralspezialcomputer, bezeichnenderweise ALKIBIADES genannt, steht im Institut für Verhaltensforschung in Klockachtern. Das kleine verschlafene Dörfchen befindet sich an der Ostsee, genauer im Land Mecklenburg-Vorpommern. Alkibiades (geboren etwa 451 vor der Zeitrechnung) hieß in der Antike ein Feldherr, der bis zu seiner Ermordung im Jahre 404 oftmals die Seiten zwischen Athen und Sparta wechselte oder gar zu Persien überlief ... Ein HSSC arbeitet wie sein Namensgeber - historisch auch als Klassischer Verräter bezeichnet: wenn ein Mensch mit dem Hirnspektralspezialcomputer verbunden wird, dann liefert dieser quasi gläserne Proband sich ihm willenlos aus. Alkibiades ist sozusagen ein Lügendetektor auf höchstem Niveau ...

Aber keine Angst: Direktor Dr. Gräulich und seine Mitarbeiterin Dr. Butt geben jedermann Brief und Siegel, dass mit Hilfe des HSSC aus Gründen des Datenschutzes nur wissenschaftlich geforscht wird. Andererseits - seelisch Kranken würde geholfen, sofern sie Ärzten gegenüber alle belastende Erlebnisse und Gedanken in Wort und Bild loswerden, ohne entscheiden zu können, was für ihre Heilung wichtig ist und was nicht. Das A und O der Vorgänge kennt nur Direktor Dr. Gräulich. Mit einigen Details hat er freundlicherweise Tewje Butt, Sohn von Dr. Margarete Butt, bekannt gemacht. Der gab sich leider keine Mühe, Dr. Gräulichs Ausführungen ernsthaft zu folgen geschweige denn zu begreifen. Tewje hat nur das Zeug zu einem Knöpfchendrücker. Sein Motto lautet: wer einen Taschenrechner gebraucht, der mit Sinus, Tangens, Wurzelfunktionen, Logarithmen oder Potenzen operiert, muss ja auch nicht wissen, wie das vor sich geht ... Genauso nutzt Tewje Butt also eines Nachts heimlich den Hirnspezialspektralcomputer. Für Tewje geht es um viel - er bedient den HSSC, beherrschen jedoch vermag er ihn nicht. Ein Diener ist dieser Computer, den jeder gebrauchen oder auch missbrauchen kann. Kurz gesagt - und ohne Rücksicht auf schwache Nerven - in jener Gewitternacht werden Einwohner dieses knapp hundert Seelen zählenden Dorfes entführt; unterschiedlich im Alter, naturgemäß verschieden im Beruf. Auch der gewiefteste Kriminalist wäre bei Ermittlungen chancenlos, weil die Entführten unter dem Einfluss einer speziellen Narkose handelten. Aber wer denkt immer gleich an etwas Grauenvolles? Die Zeitungen in der DDR berichten wenig über schreckliche Missetaten. Was in dieser Nacht vor sich geht, erfährt also niemand in der weiten Welt. Zumal der Sturm die Telefonverbindung in Klockachtern gekappt hat. Und wie bei jedem undurchsichtigen Fall, so gibt es auch hier einen Menschen, der Bescheid weiß. Dieser eine wird Tewje Butt gerufen, aber was hat der Elfjährige mit dem zeitweiligen Verschwinden einiger Dorfbewohner zu tun? Das ist der Schlüssel für eventuelle Nachforschungen, um Licht in das Dunkel dieses gespenstisch anmutenden Vorfalls zu bringen. In dem folgenden Ausschnitt ist Tewje Butt schon heftig beschäftigt:

ALKIBIADES FÜR PROBAND ALPHA

Tewjes Blick wandert vom Bildschirm des Monitors zur Digitalanzeige. Er muss sich beeilen, will er seinen Plan noch bis zum Morgengrauen durchführen. Tewje Butt konzentriert sich. Im Geiste wiederholt er Doktor Gräulichs Ausführungen. Dann packt er entschlossen einen rotfarbenen Hebel - geräuschlos öffnet sich ein Teil der Kuppel. Jetzt ein Knopfdruck - eine Vorrichtung ähnlich der Harpune windet sich langsam in die Lücke, die in der Kuppel entstanden ist. Tewje spürt, wie ihm vor Aufregung Schweiß ausbricht. Erst in den Kniekehlen, dann weiter kopfwärts. Als der Junge die Hand ausstreckt, um die Strahlenharpune auf das beabsichtigte Ziel zu richten, geht ein Zittern durch den schmächtigen Körper. Für Sekunden zögert er. Worauf will er sich nur einlassen! Technik ist nicht zum Spielen da. Das hat Frau Doktor Margarete Butt oft gesagt, wenn sie auf ihre Tätigkeit im Institut für Verhaltensforschung zu sprechen kam. Aber sollen Wissenschaft und Technik nicht stets dem Menschen dienen? Warum also nicht auch mir! Tewje Butt strafft sich. Drückt entschlossen einen graufarbenen Knopf, über dem das Schild Topografie angebracht ist. Zugleich verschwindet das Vorschaubild. Mit ortskundigem Blick sieht Tewje auf dem Monitor das kleine, weiß getünchte Haus, in dem die Familie Döns wohnt. Eine ausgebaute ehemalige Häuslerkate. Um Proband Alpha näher zu kommen, verändert der Junge die Brennweite des Suchobjektivs.

Tewje prallt zurück. Das flimmernde Viereck zeigt gestochen scharf ein Schlafzimmer. Während Frau Döns bis zur Nasenspitze zugedeckt ist, vielleicht aus Angst vor dem Heulen des Sturms draußen, liegt Direktor Döns unbedeckt auf seinem Laken. Neben ihm auf dem Fußboden die herabgefallene Bettdecke. Tewje verkleinert den Bildausschnitt. Bis nur noch Direktor Döns' Gesicht zu sehen ist. Dann verstärkt er die Strahlenintensität. Karl Döns schlägt plötzlich die Augen auf. Die Pupillen weiten sich. Und jetzt - Tewje Butt glaubt an eine Sinnestäuschung. Als der Kopf mit den starr aufgerissenen Augen vom Kopfkissen abhebt. Schnell vergrößert Tewje den Bildausschnitt, um das gesamte Zimmer einzusehen. Proband Alpha steht auf, geht wie von einem unsichtbaren Band gezogen durch den Raum, bleibt vor einem Sessel stehen, greift mit schlafwandlerischer Sicherheit nach der akkurat zusammengelegten Kleidung! Ohne sein Nachtgewand abzustreifen, zieht Karl Döns den grauen Anzug über das hellblaue Hemd. Nachdem Proband Alpha in die graufarbenen Wildlederschuhe geschlüpft ist, prüft er sogar den Sitz der dunkelbraunen Krawatte. Dass Direktor Döns stets wie aus dem Ei gepellt vor seine Schüler tritt, ist bekannt. Aber nun fährt Tewje der Schreck in die Glieder. Proband Alpha tappt zurück zum Bett! Macht Alkibiades gleich beim ersten Versuch schlapp? Wird der schwergewichtige Mann sich wieder hinlegen? Nein! Nachdem Karl Döns einen tiefen Schluck aus der Bierflasche genommen hat, wendet er sich erneut zur Stubentür. Tewje schaltet Alkibiades auf Automatik. Er reibt mit den Handflächen seine Oberarme. Ihn fröstelt. Obwohl er einiges voraussehen konnte - dieser Eingriff in das Leben eines anderen Menschen mittels Hirnspezialspektralcomputer ist ja Teil seines Planes. Plötzlich wird dem Jungen heiß und kalt. Durch die Automatik kann Tewje auf dem Monitor Direktor Döns' Weg verfolgen. Wenn Proband Alpha jetzt von Lehrern oder Schülern gesehen wird, sie könnten gewiss ein vielsagendes Lächeln nicht unterdrücken: Der gestrenge Direktor der POS (Polytechnische Oberschule) Klockachtern - wohl etwas spät geworden die Feier?

Unbeeindruckt geht Proband Alpha im Somnambulischen Affekt zielsicher in Richtung Schule. Der große Mann läuft gebeugt, weil ihn der heftige Regenwind von vorn packt. Kurz vor der neu erbauten Schule biegt Direktor Döns scharf rechts in Richtung Institut ab. Die Haare klitschnass, die weit aufgerissenen Augen himmelwärts gerichtet, irgendwo auf einen Punkt fixiert. So erreicht Proband Alpha die schmale Betontreppe am Giebel vom Institut für Verhaltensforschung. Und wieder reagiert Alkibiades prompt. Die Sperre, durch einen Elektromagneten gesichert und gehalten, schnellt zurück. Der Weg zur Kuppel ist frei. Sollte Direktor Döns aber nach vier bis zehn Stufen stutzen, vor Schwindel oder Angst wegen der gefährlichen Klettertour umdrehen, dann hat die Strahlenintensität nicht ausgereicht. Aber nichts von alledem geschieht Als wäre er ein nächtlicher Wanderer auf einer breiten Betonstraße, so stapft Proband Alpha wuchtig Stufe um Stufe hoch zur Kuppel. Es ist nicht Tewjes Sache, jemanden zu beobachten, der eine Stiege benutzt, die höchstens dreißig Zentimeter Breite aufweist. Und fünfzig Meter hoch führt. Der Junge spürt ein seltsames Gefühl vom Magen her zum Hals wandern. Tewje ist nicht schwindelfrei.

Als Proband Alpha die hundertvierzigste Stufe betritt, löst er einen Schaltimpuls aus, der eine bislang verborgene Tür in der Kuppel öffnet. Die untersetzte Gestalt geht an Tewje Butt und Alkibiades vorbei. Nimmt Platz auf dem bequemen Sessel, der seitlich vom Hirnspezialspektralcomputer steht. Tewje beschleicht ein ungutes Gefühl: Dieser Mann schaut nach vorn, als würde er alles sehen. Aber die Zeichen einer Wahrnehmung fehlen. Die Augen sind - so glaubt Tewje - ohne Lidschlag. Der Mund ist leicht geöffnet, die Arme hängen am Körper herunter. Die Beine sind lang gestreckt, die Hacken liegen auf. Sodass die Füße im rechten Winkel hochstehen.

Nunmehr senkt sich automatisch die elektronische Gedächtnisglocke auf den nassen Haarschopf von Proband Alpha. Tewjes Hände schweben krallenartig über den Tasten der Armatur. Jetzt ist der große Augenblick gekommen. Jetzt wird Direktor Döns Farbe bekennen müssen. Jetzt wird Tewje Butt, von allen in Klockachtern ein wenig belächelt wegen seiner kleinen Statur, ganz groß sein! Endlich kann er ausspionieren, was andere über ihn denken! Was Direktor Döns für eine Strafe im Sinn hat. Für das Malheur auf dem Schulflur. Nein, Tewje interessiert vorerst nicht, was er für den Schlag auf Pete Mönkmeiers Nase einstecken muss, denn das war eine Angelegenheit unter Männern. Darüber spricht man nicht. So einen Schlag gibt man. Oder man bekommt ihn. Oder man gibt ihn zurück. Oder man bekommt ihn zurück. Wenn Tewje auch Pete Mönkmeier allerhand zutraut; zum Lehrer läuft dieser Blassschnabel mit seinem dicken Nasenbein nicht. Nicht zu Lehrer Hagen Breegen oder zu Direktor Karl Döns.“

Erstmals 1989 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Vier Wochen eines Sommers“ von Siegfried Maaß: Cornelia, sechzehn Jahre alt, liebt Manuel aus Mocambique, doch nicht immer ist es für sie leicht, zu dieser Liebe zu stehen und sich gegen die Vorurteile von Eltern und Freunden zu behaupten. Manuel gehört zur FRELIMO und seine Heimat kämpft noch für die nationale Unabhängigkeit. Endlich sind die vier Wochen um, in denen Manuel seine Eltern in Mocambique besuchen durfte. Doch er steigt nicht aus dem Bus, der vom Flugplatz Berlin-Schönefeld kommt. Und so kommentiert Cornelia die Situation:

Sonntag, 13. Juli

Obwohl ich in der vorigen Nacht schlecht geschlafen hatte, wurde ich schon sehr früh wach. In der ganzen Wohnung war es noch still.

Manuel befand sich nun schon in Maputo. Ich stellte mir vor. wie er langsam und bedächtig aus dem Flugzeug trat, ganz oben auf der Gangway stehen blieb und sich neugierig umsah, als wollte er gleich mit dem ersten Blick alles in sich aufnehmen, was ihm bekannt war und was er drei Jahre nicht gesehen hatte.

Wer mochte Manuel und die anderen Schüler auf dem Flugplatz empfangen? Sicherlich eine offizielle Delegation. Und einige, die aus Maputo oder der näheren Umgebung kamen, wurden vielleicht von ihren Angehörigen erwartet. Manuels Eltern konnten nicht dort sein, bestenfalls sein älterer Bruder, der in der Hauptstadt studiert. Manuel hatte ihm mitgeteilt, wann die Maschine eintreffen würde.

Bis nach Hause zu seinen Eltern hat er es noch sehr weit, über eintausend Kilometer, und wahrscheinlich wird er zwei oder drei Tage in Maputo bleiben und warten müssen, bis ein Flugzeug nach Norden startet. Und dann, hat er gesagt und über mein Erstaunen gelacht, muss er wenigstens noch zwei Tage und Nächte fahren, mit dem Bus oder auf einem LKW, das würde sich finden ... Erst dann hätte er sein Dorf erreicht, das sich im Nordwesten des Landes befindet. Wenn ich nun diese Tage und die gleiche Zeit für die Rückfahrt von seinem Urlaub abziehe, bleiben eigentlich nur zwei Wochen übrig, die er bei seiner Familie verbringen konnte.

Bei dem Gedanken an sein Heimatdorf überfiel mich plötzlich eine Hitzewelle. Dort gab es ein Mädchen, das ihm sein Vater schon vor Jahren zur Frau bestimmt und mit dem Vater des .Mädchens bereits den Brautpreis ausgehandelt hatte - lobolo nennen sie das. Der Vater des Bräutigams muss dem des Mädchens einen Preis zahlen - Geld oder der was weiß ich ... Wenn nun Manuels Vater jetzt darauf bestand, die Hochzeit auszurichten?

Ich darf gar nicht weiter denken, sonst ...

Während meiner Überlegungen war ich im Zimmer umhergelaufen und stand plötzlich vor dem Spiegel in der Schranktür. Da entdeckte ich ein schlankes Mädchen mit blonden Haaren und einer zierlichen Nase, um die sich auffällig viele Fältchen gebildet hatten. Auch auf der Stirn hatten sich welche angesammelt und erweckten den Eindruck, als gehörten diese Furchen einfach dorthin, wie die Strähnen, die immerzu herabhängen.

Bildest du dir etwa ein, Cornelia Asmuß, sagte das Spiegelbild, dass du irgendeine Chance hast, Manuel an dich binden zu können? Du weißt doch, dass es unmöglich ist.

Ich trat einen Schritt vom Spiegel zurück, riss drohend meinen Zeigefinger hoch und erwiderte: Was weiß ich denn?

Nichts … Nur dass ich Manuel liebe. Das ist nicht wenig, sage ich dir. Aber was daraus werden soll, weiß ich nicht. Ich brauche Zeit. Genau vier Wochen verbleiben mir, um mir Klarheit zu verschaffen.

Welche Klarheit? fragte es aus dem Spiegel zurück, wo das Gesicht zu lächeln schien, denn die Falten und Furchen glitten mit einem Mal in die Höhe.

Hör auf zu grinsen. Ich will wissen, ob meine Liebe zu ihm so stark ist, dass ich alles auf mich nehmen kann, egal, was auch kommen mag.

Du bist naiv, Cornelia Asmuß. Was willst du denn auf dich nehmen? Manuel muss in seine Heimat zurück, wenn seine Ausbildung hier beendet ist. Das weißt du! Glaubst du vielleicht, sein Staat ließe zu, dass er hierbleibt, wenn er als Fachkraft zu Hause dringend benötigt wird?

Das werden wir sehen ... Außerdem könnte ich doch mit ihm nach Mocambique gehen. Wäre das vielleicht keine Lösung?

Du machst dir was vor, Conni! Dort könntest du gar nicht leben, nicht für immer. Denk an die Verhältnisse, an das Klima und an die ständige Trennung von deiner Familie ... Ich wandte mich um und war froh, dieses kritische und strenge andere Ich loszusein. Warum ist es so stark? Immer stellt es in Zweifel, was ich mir vorstelle und wünsche. Dass Manuel als verheirateter Mann zurückkehren würde, brauchte ich jedenfalls nicht zu befürchten. Oder doch? Zwar hat er vor unserer ganzen Familie erklärt, dass er diese alte Sitte seines Volkes ablehne und sich nicht von seinem Vater die zukünftige Frau aussuchen ließe. Dieser alte Brauch wäre in der neuen Ordnung, die sie in Mocambique errichteten, nicht mehr zu vertreten. Doch wird er sich damit durchsetzen können?

Damals, als er davon berichtete, kannte ich ihn kaum. Er war zum ersten Mal bei uns und saß mir an der Festtagstafel gegenüber, sodass ich ihn unauffällig beobachten konnte. Er gefiel mir, aber meine Blicke sollten mich nicht verraten, was gar nicht so einfach war. Ich beteiligte mich auch nicht an dem Gespräch, das mein Vater mit einigen mehr oder weniger geschickten Fragen lenkte. Dazu schien er sich verpflichtet zu fühlen, denn es war seine Idee gewesen, Manuel einzuladen.

Eines Tages hatte er nämlich überraschend zu uns gesagt: „Zu Weihnachten werden wir einen Gast haben. Ich hoffe, es macht euch nichts aus.“

Elke wusste natürlich Bescheid und blickte uns neugierig an. Es war bei uns nicht üblich, Weihnachten Besuch zu haben. Wir sind schließlich sieben Personen.

„Einen Gast?“, fragte ich. „Wen denn? Haben wir plötzlich nahe Verwandte?“

„Nein.“ Elke lachte. „Es hat sich kein unbekannter reicher Onkel gemeldet.“ Sie sah Vater an, als wolle sie ihn auffordern, dieses Rätsel für uns zu lösen.

„Wir wollen einen Schwarzen einladen, einen aus der Völkerfreundschaftsschule.“

„.Prima!“, rief Gert begeistert. „Der kann uns unterm Weihnachtsbaum von Afrika erzählen!“

Wenn Gert sich äußerte, konnte natürlich auch Evchen nicht still bleiben. „Aber ein Mädchen! Bitte, Vati, ein Mädchen! So eine mit Antennenfrisur ..."

„Was ist denn das?“, fragte Vater und nickte, nachdem ihm Evchen erklärt hatte, dass manche der schwarzen Mädchen ihre Haare zu vielen kleinen Zöpfen zusammendrehen, die dann wie Antennen aussehen würden.

„Wie beim Sputnik“, fügte Gert hinzu.

Vater schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht versprechen. Es sind nun mal mehr Jungen an dieser Schule, und ich kann nicht sagen, ich will keinen haben, weil mein Evchen ... Nein.“ Vater nahm nun seine Erklärerhaltung ein: Drückte seinen Rücken steif gegen die Stuhllehne und legte die Hände auf dem Tisch übereinander. Das war für uns immer das Zeichen dafür, dass wir genau hinhören mussten - gleich würden wir etwas Wichtiges erfahren. Und wie immer, wenn er sich auf solche Bekanntmachung eingerichtet hatte, begann er auch dieses Mal: „Seht mal. das ist so …“ Pause. Auch wie immer. „Ich will gar nicht wissen, wer es ist. Im Betrieb haben sie gefragt, wer bereit wäre, zu Weihnachten Mocambiquer bei sich aufzunehmen ..."

„Damit sie dann nicht so allein sind“, wagte Gert zu sagen, und mein Vater blickte ihn streng an, denn er liebt es nicht, bei einer wichtigen Erklärung von seinen Kindern unterbrochen zu werden. Aber schließlich nickte er und sagte: „Damit sie nicht so allein sind, und weil sie etwas von unseren Bräuchen kennenlernen sollen. Versteht ihr?“

Wir stimmten alle zu. Das war doch einfach. Wenn ich einige Jahre in Mocambique leben würde, würde ich auch gern wissen wollen, wie es in ihren Familien zugeht und wie sie ihre Feste feiern.

„Aber warum denn kein Mädchen?“, fragte Evchen wieder und machte einen Schmollmund, mit dem sie oft erreichte, was sie wollte. „Sie sind doch so hübsch ..."

„Ausgesucht wird nicht“, meinte mein Vater sehr entschieden. „Das wäre ja wie auf dem Markt, wo ich mich zwischen mehreren Kohlköpfen entscheiden kann ... Nein!“ Er zog seine Hände an den Körper zum Zeichen dafür, dass er seine Erklärerhaltung aufgeben wollte. „Wer kommt, soll uns willkommen sein. Einverstanden?“

„Moment“, sagte Elke und hob beschwichtigend ihre Hände. „Nichts überstürzen, Walter. Ich würde schon ganz gern vorher wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen sein wird. Schließlich ist Weihnachten, und ich muss mich vorher um ein Geschenk kümmern.“

Mein Vater sah Elke erstaunt an und begann dann zu lachen. „Ein Glück, dass ich dich habe ...“ Er strich sanft über ihre Hand. „Daran hätte ich nun überhaupt nicht gedacht ... Gut, ich frage im Betrieb nach ...“

Zwei Wochen vor Weihnachten wussten wir jedenfalls, dass ein Junge zu uns kommen würde. Mir sollte es recht sein. Mit Jungen bin ich schon immer besser ausgekommen als mit Mädchen, die oft so zickig sind. Wie zum Beispiel Roswitha ...“

Erstmals 1998 lieferte der Arena Verlag Würzburg „Big City Rap“ von Maria Seidemann aus: An diesem Nachmittag beschlossen wir eine Band zu gründen, Simon und ich. Natürlich kam nur HipHop in Frage, was sonst. Simon dachte sich die Rhymes aus, er konnte besser rappen als ich, jedenfalls am Anfang, und er machte perfekt Beat Box. Ich war fürs Mixen zuständig und für die Scratches. Tame Birds sollte unsere Band heißen. Denn Tame Birds hieß der Song, den Simon gemacht hat, bevor er das erste Mal bei unserer Gang auftauchte. Zahme Vögel singen von der Freiheit. Wilde Vögel fliegen. Ein vielschichtiger und authentisch erzählter Roman, in dem es um Musik, Freundschaft, Nächstenliebe, Verantwortung und den Wunsch nach Freiheit geht. Hier der Beginn des Buches:

1. Kapitel

Wir haben unsere Zeugnisse eingesteckt und sind nach Hause gegangen, Silly und ich. Unterwegs haben wir kein Wort geredet. Gab sowieso nichts zu sagen. Freitag, vierter Juli. Unabhängigkeitstag - haahaa. Abhängigkeitstag hätte besser gepasst. Der Fahrstuhl war wieder mal kaputt. Wir stiegen die acht Stockwerke hoch. Oben holten wir unsere Schlüssel raus. Jeder schloss seine Türe auf. Silly rechts und ich links.

Mom war noch nicht da. War heiß in der Wohnung. Auf dem Tisch stand ein Kuchen. Der war für mich, sah ich sofort, weil er mit lauter Schokolinsen bestreut war. Mindestens hundert Schokolinsen. Neben dem Kuchen lehnte das kleine Nebel-Bild, das Mom vorige Woche gemalt hatte. Ich hatte ihr gesagt, dass es mir gefiel, und jetzt stand es hier auf dem Tisch, für mich, zum Abschluss der Neunten. Ich schluckte, meine Kehle war trocken. Auf dem Zettel stand: Herzlichen Glückwunsch, Abel! Den Rest schaffen wir auch noch. Und unter dem Zettel lag ein Geldschein für die Party in der Glasfabrik. Das Bild roch nach frischem Firnis, der Kuchen roch nach warmer Schokolade. Mir wurde schlecht.

Ich machte alle Fenster auf und ging unter die Dusche. Danach war mir besser.

Ich trug das Bild in mein Zimmer und stellte es auf mein Regal. Lange starrte ich auf die verschwimmenden Farbflächen, ohne etwas zu sehen. Ich erinnerte mich an den Nachmittag, als das Bild fettig geworden war. Damals fragte mich Mom, wie ich es nennen würde. Ich überlegte, und dann sagte ich: „Klee vertreibt den Nebel.“

Ich dachte, Mom würde mich auslachen oder irgendeine Erklärung verlangen. Aber sie nahm den dünnsten Rundpinsel und schrieb mit winziger Spinnenschrift dicht über den unteren Bildrand: Klee vertreibt den Nebel. Das war ein besonderer Augenblick. Einer von denen, wo ich mich mit meiner Mom ohne ein einziges Wort total verstehe. Als wir so standen und schwiegen und das Bild anschauten, kam Gernot. Er wollte wissen, was das werden sollte, auf dem Bild. Er tut immer so, als ob ihn Moms Bilder interessieren. Vielleicht interessieren sie ihn ja wirklich, was weiß ich.

„Gerri! Das Bild ist doch fertig!“, sagte Mom und lachte. Gernot guckte von einem zum anderen und fragte, ob wir ihn vielleicht verschaukeln wollten. Dann entzifferte er den Titel.

„Ich sehe auf dem ganzen Bild kein bisschen Klee, und neblig ist es da auch nicht“, sagte er.

„Klee war ein Maler, Mann!“, stöhnte ich. Und vorsichtshalber erklärte ich ihm auch, dass Paul Klee schon lange tot ist. „Das Bild heißt so, weil man sich an ihn erinnert, wenn man das Bild sieht. Und dass irgendwie Klarheit herrscht.“

„Irgendwie Klarheit, klar!“ Gernot grinste. „Ich warte ja immer noch darauf, Suse, dass du ein einziges Mal etwas malst, was ein einfacher arbeitender Mensch wie ich verstehen kann.“

Suse, so heißt meine Mom. Susanne Abel. Der Name passt zu ihr. Damals hatte sie noch die langen Haare. Rotblond und wellig, bis über die Schultern.

Sie sollte nicht nur Linien und bunte Kleckse malen, meinte Gernot, sondern irgendwas, was so aussieht wie die Wirklichkeit. Dann würde sie vielleicht als Künstlerin berühmt und müsste nicht mehr Kulissen pinseln.

Na ja, Gernot hat keine Ahnung. Dafür kann er nichts. Ist eben ein Bulle, und Bullen verstehen nichts von Bildern. Ich konnte mir einfach nicht erklären, was Mom an ihm fand. Ich dachte, sie braucht ihn, um sich zu trösten. Weil sie nicht allein sein wollte, nur mit mir. Aber sie hätte sich 'n besseren Typen raussuchen können. So wie sie aussieht, und wie sie denkt und redet. Sie ist 'ne Superfrau. Ausgerechnet einen von der Polizei, 'n Spießer mit Bausparvertrag und Kegelabend. Ätzend. Gernot ist vierzig, fast so alt wie Sillys Vater. Und Sillys Eltern haben gegen Mom schon immer wie 'n Rentnerehepaar gewirkt.

Als ich an Silly dachte, fiel mir die Schule wieder ein. Und natürlich das Zeugnis. Das war so ein Tag, an dem nicht mal Klee den Nebel vertreiben konnte, ehrlich. Ich ging auf meinen Balkon und stützte mich auf die Brüstung. Als wir vor zwei Jahren in die größere Wohnung gezogen waren, hatte ich das Balkonzimmer bekommen. Fand ich echt Klasse. Bei allen anderen Familien, die ich kannte, war das Kinderzimmer das kleinste. Auch Konrads hatten Silly den mickrigsten Raum gegeben. Bei uns war das kleine Zimmer neben der Küche das Malzimmer, das Atelier. Dort war genau das Licht, das Mom zum Arbeiten braucht.

Ich starrte hinunter in den Innenhof. Der Hof war so groß wie ein Stadion. Überall Autos und ganze Armeen von Mülltonnen. Im vorigen Jahr hatten sie zum zweiten Mal kleine Bäume gepflanzt. Aber sie waren wieder nicht angewachsen. Die Sonne knallte auf die Steinplatten, Auf den Balkons hing massenhaft Wäsche. Blasmusik dröhnte aus irgendeinem der tausend Fenster. Der Hof war ziemlich menschenleer, wie meistens. Die Leute blieben in ihren Wohnungen, jeder vor seinem Fernseher oder an seinem Staubsauger oder in seinem Bett. Nur vor dem Silo stand eine Gruppe Vietnamesen. Sie lachten und debattierten so laut, dass ich jedes Wort hätte verstehen können. Aber ich kann kein Vietnamesisch. Ich kann gar nichts. Im Wasserbecken, in dem nie Wasser war, tobten 'n paar Kiddys mit ihren Skateboards rum.

Ich konnte gar nicht daran denken, was ich nun machen sollte. Mom hatte gefragt, ob es mir was ausmacht, wenn wir über den Sommer hier bleiben. Sie wollte in den Theaterferien einen Kurs an der Akademie machen. Gernot verdrehte immer die Augen, wenn Mom davon redete, dass sie vorhatte, irgendwann ihr Studium abzuschließen. Der Job im Malsaal müsste ihr eigentlich reichen, meinte er. Jetzt hatte ich plötzlich Angst davor - die ganzen Ferien in Beton-City, irgendwie war das kein Ding. Aber noch mehr Angst hatte ich vor dem Ende der Ferien. Wenn ich nicht mehr jeden Tag neben Silly in der Klasse sitzen würde. Was sollte ich nach dem Sommer machen? Vielleicht würde Mom heulen, wenn sie mein Zeugnis sah. Nicht versetzt.

Ich legte das Zeugnis neben den Kuchen, nahm das Geld vom Tisch und ging aus der Wohnung.

War noch keiner da. Ich holte den Schlüssel aus dem Versteck und schloss den Bauwagen auf. Ich kramte in den Farbdosen rum, aber ich hatte keine richtige Lust zum Sprayen. Die Graffiti am Wagen waren sowieso okay, kein Grund dran rumzubessern. Die Dosen fassten sich warm an, wie frische Brötchen.

Plötzlich dröhnte vor dem Wagen Grandmaster Flash los, volle Lautstärke. Draußen stand Scheuni. Er hatte einen brandneuen Ghettoblaster dabei.

„Was sagstn dazu, Alter?“

Ich nickte nur. Geiles Teil, logisch.

Den Blaster hatte Scheuni für sein Zeugnis gekriegt. Zehnte Klasse, Realschulabschluss, dafür hatten seine Großeltern was springen lassen.

Manchmal wünsche ich mir auch eine Oma oder einen Opa. Meine Großeltern kenne ich nicht. Wollten mich nie sehen. Haben ihre Tochter Suse rausgeschmissen, als sie mit mir schwanger war. Wie im Mittelalter. Mom ging damals noch in die Schule. Hätte jede Menge Hilfe gebraucht. Meine Mutter war immer stolz drauf, dass sie mich ganz alleine groß gekriegt hat.“

Und nun möchten Sie sicher wissen, wie es mit Gerri und Mom und Simon weitergeht. Und was man heute über Elisabeth von Thüringen weiß. Und was Albrecht über die fünf Schriftsteller zu erzählen hat. Und wie das Alkibiades-Experiment ausgeht. Und ob die Liebe zwischen Cornelia und Manuel aus Mocambique eine Chance hat. Und nicht zuletzt, was die „Expedition Mikro“ erreicht.

Und für all das haben Sie aktuell mehr Zeit und Gelegenheit, schließlich ist es jetzt länger hell. Viel Spaß beim Lesen, einen schönen Sommeranfang und bis demnächst.

DDR-Autoren: Newsletter 21.06.2019 - Nachforschungen über eine Heilige, ein Lügendetektor auf höchstem