Frostiger Empfang bei den Centauren, Alarm für Jul Roth, Anzeichen von Leben sowie Wodka mit Kirschsaft – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 09.08. 2019) Fast könnte man diesen Newsletter als eine Art Alexander-Kröger-Festival bezeichnen. Denn vier der insgesamt fünf aktuellen Angebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 09.08.19 – Freitag, 16.08.19) zu haben sind, stammen von Dr.-Ing. Helmut Routschek – so der bürgerliche Namen des Schriftstellers, der sich zu DDR-Zeiten und in den Jahren nach der Wende vor allem auf dem Gebiet der Science-Fiction-Literatur oder auch der Phantastik, wie sie hierzulande auch bezeichnet wurde, einen Namen gemacht hat. Neben dem Reiz der Technik ging es Kröger wie auch anderen Autoren dieses Genres in den damaligen sozialistischen Ländern immer auch um menschliche und gesellschaftliche Themen. Hier zunächst jeweils eine Kürzest-Info zu den vier Kröger-Titeln und zu dem einen kriminalistischen Ausreißer von Jan Eik.
In „Energie für Centaur“ setzt Kröger den wiederum spannenden Schlusspunkt hinter seine Trilogie über die Zusammenarbeit von Menschen und Centauren.
„Der erste Versuch“ und „Das zweite Leben“ stehen in einem engen inhaltlichen Zusammenhang: „Der erste Versuch“ gibt Antworten auf die Frage nach den Ursachen der Apokalypse, deren Folgen die Überlebenden in Krögers Roman „Das zweite Leben“ schmerzlich spüren.
Am Anfang von „Das Kosmodrom im Krater Bond“ sorgt ein plötzlicher Alarm für Verwirrung. Was hat er zu bedeuten?
In seinem Krimi „Wer nicht stirbt zur rechten Zeit“ lässt Autor Jan Eik Kommissar Timm misstrauisch sein – aus gutem Grund.
Und das waren die fünf E-Books, die in dieser Woche zum Sonderpreis zu haben sind.
Zum Normalpreis dagegen ist der aktuelle Beitrag der Rubrik Fridays for Future zu kaufen. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Aus Anlass der 80. Wiederkehr des Beginns des von Hitler angezettelten Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 befasst sich der Fridays-for-Future-Newsletter gegenwärtig mit dem Thema Krieg und Frieden: Wie und warum „entstehen“ eigentlich Kriege? Wie kann man sie verhindern? Und welche Auswirkungen haben Menschen im Krieg zu ertragen? Was gibt ihnen die Kraft, schrecklichsten Umständen zu wiederstehen? Eine ganz besondere Sicht auf dieses Thema bietet in dieser Woche erneut ein Buch von Hans Bentzien, der erstmals 1968 im Militärverlag der DDR erschienene Titel „Festung vor dem Strom. Ereignisse, Tatsachen, Zusammenhänge der Stalingrader Schlacht“: Der Zufall fügte es, dass Hans Bentzien während seines Studiums in Moskau das Zimmer mit einem Mann teilte, der in der Sowjetunion großes Ansehen genießt, dessen Tat in die Annalen der Stalingrader Schlacht eingegangen ist: Jakow Fedorowitsch Pawlow. Unter dem Kommando des ehemaligen Sergeanten verteidigte eine Handvoll Soldaten 58 Tage lang ein strategisch wichtiges Gebäude bis zum Äußersten. Gestützt auf die Erlebnisberichte seines Studiengefährten ist Hans Bentzien den Spuren der Verteidiger gefolgt. In seinem fesselnden Tatsachenbericht schildert er das Kampfgeschehen detailliert - auch auf Seiten der deutschen 6. Armee - und lässt den Leser mit den Verteidigern vertraut werden. Die enge persönliche Bindung des Autors zu Jascha Pawlow verleiht dem Buch einen besonderen Reiz, Unmittelbarkeit und Frische. Bentzien hatte von 1955 bis 1958 an der Parteihochschule der KPdSU in Moskau mit dem Abschluss als Diplom-Gesellschaftswissenschaftler studiert. Hier ein Ausschnitt, der belegt, wie sehr sein Zimmergefährte in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der damaligen Sowjetunion verehrt wurde:
Eines Tages fragte mich Jascha, ob wir uns „Schwanensee“ ansehen wollten. Natürlich gern, aber es sei so schwer, in Moskau Karten zu bekommen. „Für mich nicht“, meinte er, und ich scherzte, sicher habe er ein Verhältnis mit der Primaballerina am Großen Theater.
Wir gingen los - ohne Karten, ohne Vorbestellung. Ich fragte mich, wie wir in die Vorstellung gelangen sollten. In der Vorhalle hieß mich Jascha warten und verschwand hinter einer Tür mit der Aufschrift „Administrator“. Er kam bald wieder, begleitet von einem würdigen Herrn, der ihn achtungsvoll behandelte, sich mit Händedruck und einer Verbeugung verabschiedete und der Schließerin einen Wink gab. Die Frau begrüßte ihn mit einem Satz, in dem die Worte „Viel Vergnügen, Genosse Pawlow“ vorkamen. Man kannte ihn im Großen Theater?
In der Pause kauten wir Weißbrotschnitten mit Kaviar. Jascha verlangte die mit roten Kaviareiern; seine Erklärung war knapp: Der so genannte Bauernkaviar sei von Bauern früher zwar nie gegessen worden, die Bezeichnung käme von hochmütigen Aristokraten, aber er sei schmackhafter als der schwarze, und mit Sekt sei der leicht salzige Nachgeschmack gut zu überwinden. So ging ich zum Büfett und besorgte das Nass zur Bekämpfung des Nachgeschmacks. „Siehst du“, ulkte Jascha, „so sollten wir Bauern immer leben. Aber leider geht das vorläufig nur, wenn wir uns das deutsche Märchen 'Schwanensee' ansehen.“
Ich kannte kein deutsches Märchen „Schwanensee“. Jascha zog den Programmzettel aus der Tasche und zeigte mir die betreffende Angabe. Obgleich das Märchen aus Deutschland kam, fand ich keinen besonderen Geschmack daran. Das gestand ich meinem Begleiter auch. Überhaupt war ich völlig ungeschult, was die Ballettkunst anging, und ich muss gestehen, auch heute noch gehe ich nicht ohne zwingenden Grund in getanzte Geschichten, obwohl ich die brillante Artistik der Tänzer im Großen Theater bewundernd anerkannte. Die enthusiastischen Beifallskundgebungen, in die auch Jascha einfiel, hielt ich für übertrieben.
Als wir hinausgingen, sagte er mir, er habe die Uljanowa schon mindestens zehnmal gesehen, fast immer in „Schwanensee“.
Wie das? Wie kommt ein Kreissekretär so oft von Waldai nach Moskau? „Wohl in Ballettfilmen?“
„Nein“, entgegnete er, „nicht im Kino, sondern hier im Bolschoi.“
Schließlich fuhren wir, weil es sich so ergab, im Taxi nach Hause. Jascha setzte sich neben den Fahrer, der ihn eindringlich musterte und ihn dann zu vertraulich - wie ich meinte - mit Jakow Fedotowitsch ansprach. Als es ans Bezahlen ging, wollte er kein Geld nehmen. Wortreich und gestikulierend wehrte er Jaschas Versuche ab, ihm die Scheine in die Hand zu drücken. Schließlich fuhr er grüßend davon. Was war denn da los?
„Ach, mir passiert das nicht das erste Mal“, sagte Jascha verlegen.
Das Thema war ihm unangenehm, er mochte sich nicht dazu äußern, und so bekam ich auf meine naive Frage „du bist wohl ziemlich bekannt?“ nur die knappe Antwort: „Ja, leider.“
Wir gingen oft ins Theater, und überall spielte sich das gleiche ab: Ein Gang ins Zimmer des Administrators - freundliche Behandlung - sehr gute Plätze, meist in der Loge oder auf den Sesseln der Intendanten.
Als Jascha an einem Sonntag nicht mitgehen konnte, rief er beim „Kleinen Theater“ an und bat, zwei Karten zu reservieren. Zu mir sagte er: „Erkläre einfach, dass du die Karten für Pawlow abholen willst. Nimm dir einen Kumpel mit. Ihr werdet sehen, alles geht glatt.“
Damit hatte er allerdings nicht ganz Recht. Der Genosse in der Verwaltung hielt mich für Jascha. Nach ein paar Minuten des Gespräches fragte er, ob ich denn aus einer der baltischen Republiken stamme, mein Akzent klinge so. Ich gab mich nicht zu erkennen, so dass der gute Mann wahrscheinlich heute noch glaubt, er hätte Pawlow die Hand gedrückt.
Als mich Jascha fragte: „Na, war alles in Ordnung?“, erzählte ich ihm von dem Missverständnis mit seinem Namen. Aber er lachte nur und meinte: „Die Generalprobe hat geklappt, nun können wir weiter so verfahren. Ich mache mir nämlich gar nicht soviel aus Theater.“
Nun ist es vielleicht an der Zeit zu beichten, dass die für Pawlow reservierten Plätze immer häufiger von zwei deutschen Genossen in Anspruch genommen wurden, die sich glücklich preisen können, dadurch fast alle begehrten, bedeutenden Aufführungen des Theater- und Konzertlebens im Moskau der Jahre 1955 bis 1958 gesehen zu haben. Doch ich habe mich nie mit falschem Namen vorgestellt. Das wurde auch gar nicht erwartet, denn Pawlow brauchte sich nicht vorzustellen; jedermann in der Sowjetunion kannte ihn. Er steht in jedem Geschichtsbuch über den Großen Vaterländischen Krieg.
Dabei war er der einfachste Mensch, den man sich denken kann. Sprach man über ihn und seine Verdienste, dann blickte er immer etwas erstaunt, woher der Redner das wissen konnte, er hatte es ihm doch gar nicht gesagt.
Sobald er erkannt wurde, begrüßte man ihn. Als wir eines Tages im eng besetzten Trolleybus durch die Gorkistraße fuhren, fragte ihn ein älterer Mann, augenscheinlich ein Offizier im Ruhestand: „Sind Sie nicht der Stalingrader Pawlow?“
Jascha antwortete: „Eigentlich bin ich nicht aus Stalingrad.“
„Aber ist es nicht Ihr Haus am Platz des 9. Januar?“
„Nein, es gehört der Kommunalen Wohnungsverwaltung.“
Während dieses nicht ganz ernsten Dialogs drehten sich alle im Bus zu Jascha um. Rufe und Feststellungen kreuzten sich: „Ja, er ist es.“ – „Wir erkennen Sie, Ihr Bild war in unserem Schulbuch.“ – „Wie geht es Ihnen, was machen Sie?“ – „Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie alles Gute“, verabschiedeten sich Passanten, die wahrscheinlich schon ein paar Stationen vorher hatten aussteigen wollen.
Der alte Offizier fuhr weiter mit, und es entwickelte sich eine Unterhaltung, wie ich viele mit Jascha erlebt habe: „Weißt du, ich lag im Nebenabschnitt ...“
Auch heute glaube ich noch, dass Pawlow diese Gespräche nicht mochte, obwohl er immer freundlich, wenn auch wortkarg war. Sie rissen alte Wunden auf. Später hat er mir einmal gesagt, dass er hoffte, bei Soldatenbegegnungen ein paar Anhaltspunkte über seine Kameraden zu erfahren, von denen er während der Kriegsereignisse getrennt worden war. Viel war allerdings noch nicht dabei herausgekommen, doch man durfte zehn Jahre nach dem Kriege die Hoffnung nicht aufgeben. Afanasjew hatte sich gemeldet, warum sollten andere nicht auch überlebt haben? Welche Schicksale hatte das Land gesehen! Jeden Tag kamen noch Menschen zu ihren Familien zurück.
So nahm er immer wieder Einladungen zu Foren und Vorträgen an, obwohl es ihm unmöglich war, den Wünschen auch nur annähernd nachzukommen.
Jascha studierte angespannt in den Nachmittagsstunden, doch ein paar Mal in der Woche zog er abends los in eine der Moskauer Schulen oder Hochschulen oder zu einer Militäreinheit, um von den Kämpfen des Jahres 1942 zu berichten.
Einmal bat ich ihn, er möge mich mitnehmen. Ich würde mich ganz still hinten in die letzte Reihe setzen. Ganz recht schien ihm mein Anliegen nicht zu sein, aber schließlich willigte er ein. „Ich denke, jeder Genosse hat die Pflicht, als Propagandist zu wirken. Zwar bin ich kein Theoretiker, aber ich kann der Jugend etwas erzählen. Die Partei erwartet es auch von mir“, fügte er, gleichsam sich entschuldigend, hinzu.
Wir zogen los. Jascha wurde bereits an der Tür des Institutes von der Leitung der Komsomolgruppe erwartet. Die jungen Leute führten uns in den überfüllten Saal. Jascha wurde herzlich begrüßt und gebeten, im Präsidium Platz zu nehmen. Der Sekretär stellte ihn vor und bat ihn dann, mit seinen Ausführungen zu beginnen.“
Und damit sind wir bei den heutigen fünf Sonderangeboten – vier von einem Autor, von Alexander Kröger. Den Anfang macht sein erstmals im Verlag Neues Leben Berlin erschienenes Buch „Energie für Centaur“, der 3. Teil seiner Centauren-Trilogie. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2009 im Projekte-Verlag Cornelius Halle herausgekommen war: Sechs Jahre lang sind dreihundert Menschen zum fernen Planeten Centaur geflogen, um dort mit einheimischen Ingenieuren eine gewaltige Energieerzeugungsanlage zu errichten, denn der Planet scheint ohne diese dem langsamen Untergang geweiht. Der Empfang der Gäste von der Erde ist jedoch alles andere als herzlich, und bald gibt es auch Schwierigkeiten bei der gemeinsamen Arbeit. Da wird die Transportkolonne mit dem Orbitalflugzeug von einer Gerölllawine verschlungen, erheben sich schwere Lastfahrzeuge plötzlich in die Luft, tauchen unvermittelt seltsame Bauten auf, die dann spurlos wieder verschwinden. Die Expedition soll deshalb vorzeitig beendet werden. Doch Gernot Wach, ein junger Wissenschaftler, will nicht aufgeben und glaubt einen Weg gefunden zu haben, das Projekt zu retten. Zunächst aber muss er sich mit Josephin versöhnen, die zusammen mit ihm den Schlupfwinkel des geheimnisvollen Lim entdeckt hat. Mit „Energie für Centaur“ endet die Trilogie um den Kontakt und die mitunter schwierige Zusammenarbeit der Menschen mit den Centauren. Hier ein Stück zur Einstimmung:
„Das gedämpfte Tosen war verstummt. Und obwohl in den letzten Tagen von nichts anderem als von eben dieser Landung gesprochen wurde, regte sich nun niemand. Jeder verharrte an seinem Platz, als müsse er mit sich selbst einen letzten Rat abhalten, alles noch mal überdenken, das auffrischen, was in den sechs Flugjahren während des >Winterschlafs< im Gedächtnis an Prägung verloren hatte. Und in irgendeiner Weise teilte sich dieser Zustand jedem mit, übertönte die Erregung, das Warten auf das Neue.
Dann klang Mens Stimme über den Funk: „Wir sind da, Freunde.“
Aber erst als die üblichen Landekommandos durch das Schiff liefen, löste sich die Verkrampfung. Scherzworte kamen auf, Freude. Nur hier und da konnte der Eindruck entstehen, als spräche man sich gegenseitig Mut zu. Das Deprimierende der langen Reise durch den leeren Raum, beim Start sehr optimistisch angegangen, und die Gewissheit einer ebenso tristen Rückreise, konnten von der Freude, das Ziel endlich erreicht zu haben, nicht mit einem Schlag weggewischt werden.
Das Aussteigen verlief gemäß Instruktion zügig, aber ohne Eile.
Jercy Kamienczyk und Nora befanden sich in der letzten Hundertschaft. Jercy betrat die Schleuse mit gemischten Gefühlen.
Oh ja, die lange Reisezeit war gut genutzt worden. Das Projekt überarbeitet, berechnet auf centaurischer Basis, Bauablaufpläne, Objektlisten, endlose Register für Material und Leistungen, Pläne des Arbeitskräftebedarfs und der Qualifizierung. All das bestand nunmehr, geprägt von seinem Willen. Schon in den nächsten Tagen würde sich eine Flut von Informationen über den Planeten ergießen als zweite Etappe der konkreten Vorbereitung.
Und dennoch fühlte Jercy sich nicht wohl. Er hatte Vertrauen zu seiner Arbeit, zu der der Freunde und Kollegen. Er wusste nicht, ob es Angst war, was ihn nachts schlecht schlafen ließ, Angst wie vor einer großen Prüfung - oder, ob es einfach nur die Spannung war, das Neue, Unbekannte.
Nora stand gelöst neben ihm, bereit, Eindrücke zu empfangen, in vollen Zügen die Einmaligkeit der Reise zu genießen.
Jercy betrachtete sie von der Seite. Es war wieder schön geworden mit Nora, das wach verbrachte eine Jahr der Reise glich beinahe dem allerersten gemeinsamen. Da er mehr eingespannt und beschäftigt war als sie, hatte sie ihn umsorgt, ihm Behaglichkeit bereitet. Sie waren freundlich miteinander und zärtlich.
Gernot Wach stand einige Meter hinter Nora und Jercy. Erst jetzt wieder kam ihm zum Bewusstsein, dass er nur durch Jercys Fürsprache Teilnehmer der Reise geworden war. Er hätte sich gewünscht, dass die Wahl seines Könnens, Fleißes und Eifers wegen erfolgt wäre, nicht durch Protektion. Zeitweise, noch während der Vorbereitungen auf der Erde, war ihm der Gedanke so zuwider gewesen, dass er sein Mandat am liebsten zurückgegeben hätte. Aber dazu konnte er sich auch nicht entschließen, die Aufgabe, die Ferne, das Fremde lockten zu sehr. Er hatte versucht, durch besonderen Elan und ein riesiges Arbeitspensum seine Teilnahme im Nachhinein zu rechtfertigen, obwohl ihm bekannt war, dass höchstens vier Menschen an Bord um die Zustimmung zu seiner Nominierung wussten.
Vorn ertönte das Signal zum Öffnen des Schleusentors. Gernot gewahrte, wie Nora nach Jercys Hand griff. Schade, dachte er, dass Josephin nicht dabei ist. Er stellte sich vor, dass es sehr schön sein könnte, mit ihr gemeinsam diesen fremden Planeten zu betreten, ihn mit zu erforschen, auf ihm zu leben. Und der Gedanke, dass sie in einem halben irdischen Jahr nachkommen würde, tröstete ihn im Augenblick nur wenig.
Das emporfahrende Schleusentor gab den Blick frei auf eine gleichmäßige graue Fläche. Dann, nach der Order, das Schiff zu verlassen, gewahrten sie, dass es ein Ausschnitt des centaurischen Himmels war.
Eisige Kälte ließ die Menschen zusammenschauern, obwohl der Informator natürlich darauf hingewiesen hatte.
Das Raumschiff stand auf einer riesigen, kahlen Fläche, die durch nichts unterbrochen wurde, kein Gebäude in der Nähe, kein Baum, kein Berg am Horizont, kein Grashalm unter den Füßen. Nur ganz in der Nähe des Landeplatzes standen an drei großrädrigen Wagen drei vermummte Gestalten, die Augen hinter enganliegenden Brillen verborgen. Die zwei bereits ausgestiegenen Hundertschaften schien der Erdboden verschluckt zu haben.
In Ermangelung eines anderen Zieles gingen die an der Spitze schreitenden Menschen auf die Wagen zu. Jedes der Gefährte hatte acht große, übermannshohe Speichenräder, vier auf jeder Seite, und ihre Achsen spießten mitten durch den Kasten, der zwischen diesen monströsen Rädern hing.
Fast selbsttätig teilten sich die hundert Menschen in drei annähernd gleich große Gruppen auf, die eilig den Wagen zustrebten.
Gernot erinnerte sich, solche Wagen oder wenigstens Abbildungen davon bereits gesehen zu haben. Auf dem Mars wurden sie ebenfalls eingesetzt.
Er schauderte. Die Kälte durchdrang seine Kombination. Ihm war, als würden die Gelenke steif. Er lief schneller, überholte einige der Gefährten. Der Schritt auf dem wie aus gefrorenem Sand bestehenden Boden klang dumpf.
Sie erreichten den Wagen. Eine am Kasten klappbar angebrachte Leiter mit wenigen Sprossen verband den Boden mit einer niedrigen Luke. Gernot stieg nach oben, folgte den vor ihm Einsteigenden. Bevor er die Luke passierte, drehte er sich um, sah zum Horizont. Überall gleiche öde Trostlosigkeit. Der Untergrund ging scheinbar in den grauen Himmel über, verschmolz mit ihm. Fröstelnd trat Gernot in den Kasten. Er musste noch einen Augenblick verharren. Düsternis und eine spürbare Enge umfingen ihn. Wenig Licht fiel von der einen Schmalseite durch eine runde, milchige Scheibe ein. Dann gewahrte er zwei Längsbänke, auf denen sich die Gefährten mit den Knien stießen. Man empfing Gernot frotzelnd, er solle sich dünn machen, spitze Gelenke mit den Händen abdecken. In der Tat, er saß dann unbequem eingepfercht. Das einzig Angenehme war, dass der enge Kontakt nach links und rechts wärmte.
Als sich die Luke schloss, wurde es noch finsterer. Später gewahrte Gernot mit gemischtem Gefühl, wie primitiv der gesamte Innenraum des Gefährts ausgestattet war. Nicht die Spur einer Verkleidung, kein Quadratzentimeter aufgebrachter Farbe. Aber, und darüber sinnierte er nach, die Luke hatte sich automatisch geschlossen. Gänzlich aus der Fassung wurde er gebracht, und nicht nur er, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte und offenbar schnell an Fahrt gewann. Die Menschen nahmen es heiter. Sie lachten und riefen sich Scherzworte zu. Und auch die ständige Suche nach einem Halt löste Späße aus. Jede Bodenunebenheit, über die das Vehikel rollte, übertrug sich, wie es schien, völlig ungedämpft auf die Insassen. Sie wurden empor geschleudert, durch Fliehkräfte aneinandergepresst. Als es aufhörte, Spaß zu sein, man die Tortur als solche empfand, ließ das Gerüttel etwas nach. Offenbar hatte das Gefährt den Platz verlassen und einen befestigten Weg eingeschlagen. Aber es blieb schlimm genug, sodass jede Unterhaltung verstummte, man bemüht war, durch Muskelanspannungen die größten Schläge abzufangen. Aber eigenartig leise verlief die Fahrt. Weder ein Motorengeräusch ließ sich vernehmen noch ein überlautes Rollen der Räder. Gernot begriff nicht. Er vermutete, dass vielleicht auch dieses Fahrzeug durch einen Antigravitationsmotor angetrieben wurde. Und jeder Mensch wusste um den hohen technischen Stand der Centauren. Wie also ließ sich da erklären, dass daneben eine solche Primitivität existierte?
Es war eine Erlösung, als das Fahrzeug endlich hielt. Sie stiegen aus, reckten, dehnten sich, Worte gingen hin und her. Dann, als sie sich umsahen, verstummten sie: erdrückende, trostlose Öde. Gernot schien, sie sei körperlich fühlbar.
Der graue Himmel hatte sich nicht um eine Nuance verändert. Die hundert Menschen standen in einem verlorenen Häuflein inmitten einer Anzahl grauer Pyramidenstümpfe, die vielleicht 200 Meter im Quadrat am Fuße maßen und 20 Meter hoch waren, die Begrenzungsflächen stark abgeschrägt. Rings um diese Bauwerke wieder Ödnis.
Die Menschen hatten eine große Anzahl Filme gesehen, Berichte gelesen, hatten eine Vorstellung vom Leben auf Centaur. Diese Vorstellung hatten sie nicht. Nicht ein Bild hatte eine solche niederschmetternde Eintönigkeit, dieses erdrückende Grau vermittelt.
Gernot sah es den Gefährten an, dass auch sie mehr als verwirrt dieser Umgebung gegenüberstanden, dass sie sich wie er verloren und irgendwie hintergangen fühlten. Dann zwang er sich zur Vernunft, mahnte sich, nicht vorschnell zu urteilen. Ich bin keine Stunde auf dem Planeten. Und er muss an anderen Stellen freundlicher sein. Aber wenn irgendwer auf der Erde Besuch bekommt, empfängt er ihn dort, wo man sich am unwohlsten fühlt? Gernot durchströmte Wärme, als er an seine Großmutter im Ungarischen dachte. In ihrem kleinen Häuschen gab es eine gute Stube, die das ganze Jahr zu drei Ereignissen genutzt wurde: Zu Weihnachten, bei Familienfeiern im engsten Kreise und - wenn Besuch kam.“
Erstmals 2001 veröffentlichte Alexander Kröger im Eigenverlag KRÖGER-Vertrieb Cottbus seinen Science-Fiction-Roman „Der erste Versuch“. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2011 im Projekte-Verlag Cornelius Halle erschienen war: Wer Krögers Roman „Das zweite Leben“ kennt, weiß, er endet nach einer 300-jährigen Odyssee seiner Helden in einer scheinbaren Katastrophe, dem Scheitern des ersten Versuchs der Menschheits-Evolution. In seinem Roman „Der erste Versuch“ aus dem Jahre 2001 schildert der Autor in einer spannenden Parallelhandlung, welche menschlichen Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, abenteuerlich verknüpft mit dem Schicksal seiner handelnden Personen, schließlich zur Apokalypse führten. Die erfolgreiche Forscherin Alina entdeckt Lebensformen auf dem Mars und arbeitet an dessen Renaturierung. Sie wird in die Machenschaften um ihren ehemaligen Gefährten, der im Dauerschlaf sein wollte, und einem zweiten, dem anderen sehr ähnlichen Mann verwickelt. Trotz störender Einwirkungen wird auf einer Mittelmeerinsel eine risikobehaftete Anlage errichtet, deren Beherrschung fragwürdig erscheint. Krögerscher Optimismus setzt Hoffnung auf den zweiten Versuch. Der spannende Science Fiction-Roman gibt Antworten auf die Frage nach den Ursachen der Apokalypse, deren Folgen die Überlebenden in dem Roman „Das zweite Leben“ schmerzlich spüren. Hier der Anfang des 2. Kapitels:
`„Es gibt also drei Möglichkeiten, wenn ich Milan richtig verstanden habe“, resümierte Anna Mohl. „Wir machen dicht, gehen damit auf Kuler ein, oder wir protestieren, wie auch immer. Zum Beispiel, indem wir deren Verlangen einfach ignorieren.“
„Drittens?“, unterbrach Richard Collins.
„Wir gehen in die Illegalität.“
„Du redest, als hättest du das vergangene Jahr verschlafen“, konterte Collins. „Vor zehn Monaten gehörte Mike noch zu unserer Runde. Diese Leute pflegen ihren so genannten Bitten durchaus Nachdruck zu verleihen. Ich glaube, es hat keinen Zweck; früher oder später müssen wir aufgeben. Lasst es uns jetzt einigermaßen mit Würde tun. Sie würden uns hetzen.“
Milan hatte nach seinem kurzen Bericht geschwiegen, den Gefährten Gelegenheit gegeben, sich dazu zu äußern. Für ihn stellte sich der Sachverhalt ziemlich klar dar. Die Drohung Kulers war deutlich. Dieser Generalanwalt zählte mit Sicherheit zur weltumspannenden Mafia oder war ihr zumindest hörig. Dagegen anzutreten, fehlten Kraft und Unterstützung, insbesondere aber mittlerweile der Wille. Nahm man bislang an, die militanten Akte gegen die Vereinigung seien spontane Aktionen einzelner Gruppen, so war nunmehr klar, dass Mächte dahinter standen, die ihre Ziele durchzusetzen imstande waren, wenn auch Milan die Art dieser Ziele verborgen blieb. Sie konnten mannigfaltig sein: zum Beispiel aus kommerziellen Gründen die kleinen Quietscher ausschalten, um selber die Methode im großen Stil zu vermarkten. Oder der Klerus fürchtete um seine ohnedies schwindende Macht, oder ... Gruppierungen also, die, unterstützt von korrupten Leuten in den Verwaltungen, sich ihres Erfolgs sicher sein konnten. Und dagegen sollte man aufstehen?
„Was meinst du, Milan?“, fragte Anna.
„Wir berufen eine Vertreterversammlung ein und stimmen ab. Schließlich muss entschieden werden, was im Sektor mit den Schläfern geschehen soll. Ich selber bin noch unentschlossen.“
Nach weiterem, im Ganzen ergebnislosem Diskutieren stimmte der Vorstand Milans Vorschlag zu. Sie versandten umgehend den Aufruf an die Sektorengruppen, in einer Woche kompetente Vertreter zu einer äußerst wichtigen Beratung in Konferenz zu schalten.
Milan hielt seine Meinung noch zurück: Auflösung der Vereinigung. Niemand sollte in Bedrängnis gebracht, keiner einer Gefahr ausgesetzt werden. Zu nachhaltig wirkte der mysteriöse Tauchunfall Mikes und das anschließende läppische Verhalten der Polizei. Schließlich gab es eine Reihe von Drohnachrichten an einzelne Mitglieder, die insbesondere nach diesem Gespräch mit Kuler durchaus sehr ernst zu nehmen waren. Aber Milan befürchtete, dass seine Meinung andere möglicherweise stark beeinflusst hätte. Deshalb sein Vorschlag, eine Vertreterzusammenkunft einzuberufen. Bis dahin blieb auch noch Zeit, in die Daten zu schauen, um vielleicht doch noch die eine oder andere Hintergrundinformation herauszufinden. >Nützen<, so dachte er, >wird es aber kaum.< Widerstand hielt er für selbstmörderisch, und illegal weiter zu wirken für den Einzelnen für viel zu gefährlich. >Die etwas über dreihundert Schläfer im Sektor zu wecken, ist kein Problem. Aber etliche werden Regress anmelden, schließlich wären wir vertragsbrüchig. Vielleicht jedoch lassen sich die Ansprüche gegen die Gefahr eines Endlosschlafes aufrechnen ... Spekulation.<
*
Die Rolltreppe war zum Spätnachmittag wie immer beträchtlich beansprucht. Die Hastigen, denen die Maschine nicht schnell genug lief, stiegen rechts in langer Reihe an den anderen vorbei.
Milan, nicht in Eile, hatte es sich im Sesselteil bequem gemacht und blickte hinunter in die Stadt, deren überschaubarer Ausschnitt sich scheinbar kontinuierlich vergrößerte. Schon waren in den Straßen die Fahrkabinen der Sitzzüge nicht mehr einzeln auszumachen, einige Freifahrer hatten bereits die Scheinwerfer eingeschaltet.
Milan genoss den lauen Abend, es wehte kaum ein Lüftchen, und das Gemurmel der sich auf der Treppe unterhaltenden Leute unterstrich die Ruhe eher, als dass es sie störte.
Milan erreichte die 37., seine Etage. Er stieg ab und schlenderte an der Buchsbaumhecke entlang, die bis zum nächsten Stock emporwucherte. Vom Weg zweigten die Zugänge zu den einzelnen Wohnungen ab.
Schon als er zu der seinen einschwenkte, spürte er es, ohne dass er zunächst zu sagen vermocht hätte, was es war. Durch den Duft des Jasmins und frisch geschnittener Zweige zog plötzlich ein Hauch, ein äußerst übler. Und Milan erinnerte sich: Damals mit Alina auf der Karpatenwanderung - abseits von jedem Touristenbegängnis - hatten sie mühsam, als es schon dunkelte, das neue Zelt aufgeschlagen und es sich gerade davor gemütlich gemacht, als der leichte Wind umschlug und sie plötzlich mit einem bestialischen Gestank überfiel, der sie bestimmt bewogen hätte, den Stellplatz zu wechseln, wäre es nicht mittlerweile finster gewesen. Am Morgen sahen sie es: Wenige Meter entfernt wucherte ein Hexenring verwesender Stinkmorcheln.
Der Gestank nahm zu, je näher Milan seiner Haustür kam. Als er sie aufgeschlossen und geöffnet hatte, verschlug es ihm fast den Atem. Das Üble drang aus seiner Wohnung!
Im ersten Schreck schlug er die Tür heftig zu, trat etliche Schritte zurück, überrascht und fassungslos. Was, zum Teufel, war das! Er überlegte fieberhaft, welches Ereignis der Auslöser sein, was das Infernalische erzeugt haben konnte.
Milan verhielt noch einen Augenblick, stieg dann die wenigen Stufen zu seiner Terrasse empor, befeuchtete am Wasserhahn sein Taschentuch, hielt es sich vor Mund und Nase und drang rasch in die Wohnung ein. Er eilte in die Räume, riss Fenster und Türen sperrangelweit auf und schaltete die Klimaanlage auf die höchste Stufe.
Milan inspizierte gründlich - noch meinend, er habe selbst das Missliche verursacht. Er stellte zunächst fest, alle Textilien hatten das Üble angezogen, sodass das Lüften nur bedingt half. Er verbrachte die Stücke zum Ausdünsten auf die Terrasse. Aber was, zum Teufel ...?
Auf seinem altertümlichen Schreibtisch dann - einen der modernen Kommunater wollte er sich noch nicht leisten - fand sich des Rätsels Lösung, die Milan ebenso überraschte wie wütend machte: Ein gewöhnlicher Ausdruck in großen Buchstaben lag da - vermutlich auf seinem eigenen Texter geschrieben - mit den Zeilen: >Es könnte sein, dass du, Milan Nowatschek, deinesgleichen und eure Schläfer bald ebenso - duften wie gegenwärtig deine Wohnung. < Unterschrieben war der Wisch mit >Die Gutmeinenden<.
Eine Weile saß Milan unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ekel hatte ihn ergriffen und eine ohnmächtige Wut, dazu gesellte sich ein klopfender Kopfschmerz, wohl eine Nebenwirkung des Gestanks. Dann sagte er laut: „Sie machen Ernst, die Schweine.“
Wenig später wurde es Milan übel, der penetrante Geruch nahm nur langsam ab, sodass Milan einige persönliche Dinge zusammenpackte und die Wohnung verließ.
*
Als Echo auf die Einladung zum Vertretertreffen baten mehrere Teilnehmer, dafür keine Konferenzschaltung zu nutzen, sondern sich in Eimsen zu treffen. Der Vorschlag wurde damit begründet, dass sich jeder einigermaßen fachlich Beschlagene in die Beratung einwählen könne.
Milan horchte auf: Beschlösse man die Auflösung, könnten das die heimlich Interessierten durchaus miterleben. Dass nunmehr ein persönliches Treffens favorisiert wurde, deutete wohl darauf hin, dass nicht für jedermann Bestimmtes zu besprechen war.
So war es dann auch.
Milan begrüßte kurz, legte den Sachverhalt dar und wiederholte, was zu entscheiden wäre.
Björn Arnesund, ein couragierter Verfechter der Ziele der Vereinigung, nahm sogleich das Wort: „Direkt hast du es nicht gesagt, Milan. Wenn man aber zwischen deine Sätze gehört hat, kann man meinen, dass du unserer Mission keine Chance gibst und kompromisslos auflösen willst.“
„Du hast ein gutes Gehör“, warf Milan scherzend ein.
Einige lachten.
„Ich glaube, im Grunde sind die meisten von uns, nach Lage der Dinge, für eine Auflösung. Es sollten keine neuen Schläfer gewonnen werden - zu Ausnahmen komme ich noch. Aber wir dürfen keinen Schlafenden im Stich lassen. Das heißt, wir müssen aktiv sein, bis der Letzte erwacht ist. Jeder weiß, was das bedeutet. Entweder wir wecken sofort oder betreuen, bis alle Verträge ausgelaufen sind.“
„Da müssten wir dafür sorgen, Björn, dass die Vereinigung noch mindestens hundertfünfzig Jahre ...“
„Das ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen ausgeschlossen“, warf Anna erregt ein.
„Das meine ich natürlich auch. Also die Schläfer wecken! Aber auch das wird eine Zeit lang dauern. Und ich glaube, da dürften selbst die erbittertsten Widersacher nichts dagegen haben.“
„Da bin ich nicht so sicher“, warf Nicole Doux, die Vertreterin aus Straßburg, ein. „Es sind mehr, als bislang je erweckt wurden. Wenn auch nicht jeder in seine vertraglich vereinbarte Zukunft gerät, so doch in ein zweites Leben. Und das, Freunde, macht keine Reklame für den Klerus. Er ist früher nicht davor zurückgescheut, so genannte Ungläubige massenhaft hinzuschlachten. Und seine militanten Vertreter heute, ich weiß nicht ...“
„Ein Vorschlag:“ Tatjana Chlebkov meldete sich zu Wort. „Wir bilden eine Gruppe, einen Kern sozusagen, dem insbesondere unsere Techniker angehören. Sie sollten die automatischen Stationen so weit perfektionieren, dass wir damit wenigstens die Langzeitverträge erfüllen, auch wenn eine personelle Betreuung nicht mehr stattfindet. Den anderen Schläfern wird es auf einige Jahre früheres Erwachen wahrscheinlich nicht ankommen. Sie werden dieses gegen das Sicherheitsrisiko, womöglich überhaupt nicht geweckt zu werden, gern tauschen.“
„Und hoffentlich auf Sanktionen verzichten“, warf Eduardo el Costa ein.
„Ja“, bestätigte Björn. „Ich komme auf das zurück, was ich vorhin angedeutet habe. Wie immer wir uns entscheiden, einige Aktivitäten mit großer Verantwortung bleiben, sie werden über kurz oder lang in die Illegalität führen. Wir brauchen eine straffe, zuverlässige, gut geführte Organisation.“
„Na, die haben wir doch!“, rief Fernando Citos, der Spanier.
„Ja“, fuhr Björn fort. „Unser Vorstand hat hervorragend gearbeitet. Dennoch bin ich dafür, ihn der Sache wegen abzulösen!“ Er hob Hände und Stimme gegen den allgemeinen Protest. „Auf keinen von uns werden die Gegner in der nächsten Zeit so ein Auge haben wie auf die Mitglieder des Vorstands. Ich erwähne nur den Anschlag auf Milans Wohnung. Unsere Oberen müssten ihre Kraft darauf richten, der Observation zu entgehen, sie wären dadurch hochgradig arbeitsbehindert. Wir brauchen Leute, die bislang öffentlich nicht oder kaum in Erscheinung getreten sind. Und wir sollten sogar die Ausnahme zulassen: Wenn einer von unseren Verdienstvollen den Wunsch hat, vorerst aus diesem Leben zu verschwinden - insbesondere auch aus Sicherheitsgründen oder um einfach auf ein zweites, besseres zu hoffen -, dann sollten wir das unbedingt ermöglichen, allerdings mit hohem Risiko: Er muss sich auf eine Automatik verlassen, die über Jahrzehnte störfrei funktioniert. Außerdem muss er zuverlässig geschützt untergebracht sein mitsamt der Apparatur - vorzeitig entdeckt, und es wäre aus.“
Es herrschte Schweigen. Björns Argumenten konnten sich die Zuhörer nicht entziehen.
Da sagte Milan: „Björn hat recht. Ich stimme seinem Vorschlag unbedingt zu und gebe den Vorsitz ab.“
Spontan bekundeten auch Anna und Richard ihr Einverständnis.
Es entstand eine Art Verlegenheitspause. Offenbar hatte keiner der zwölf Vertreter mit einem solchen Verlauf der Debatte gerechnet.
„Bliebe - wer übernimmt?“, fragte Jan Marschewsky aus Warschau.
„Wir treffen uns in zehn Tagen an gleicher Stelle. Ihr schlagt vor und entscheidet. Gestattet diesen Vorschlag als meine letzte Amtshandlung.“ Milan lächelte. „Und dann, Björn, lasst mich einer von denen sein, die eine Weile, ich denke an fünfzig Jahre, aus diesem Leben verschwinden, wie du dich ausgedrückt hast. So bin ich für die weitere Arbeit der Vereinigung die geringste Last.“
Wieder herrschte Schweigen.
„Das hast du dir wirklich gut überlegt, Milan?“, fragte Nicole.
„Ja - gut!“ Milan sah nicht auf. Er ordnete die wenigen Gegenstände auf dem Schreibtisch und klappte den Schirm seines Merkers zu.“
Erstmals 1998 erschien im Eigenverlag KRÖGER-Vertrieb Cottbus der Science-Fiction-Roman „Das zweite Leben“ von Alexander Kröger. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2011 im Projekte-Verlag Cornelius Halle veröffentlicht wurde: Sieben Menschen sind zu unterschiedlichen Zeiten in Anabiose versetzt worden und gleichzeitig unter rätselhaften Umständen in einem verrotteten Bergwerk erwacht. Eigene Lebenserfahrungen aus mehreren Jahrhunderten lassen sie eine begrenzte Überlebenschance nutzen; die Ausgänge aber sind verschüttet.
Auf der scheinbar aussichtslosen, gefährlichen und entbehrungsreichen Suche nach Rettung entdecken sie unheimliche und unheilvolle Spuren menschlichen Wirkens. Klone unter ihnen - mit welchem Auftrag? Nach Verrat in den eigenen Reihen wird fraglich: Finden sie zurück in eine menschliche Gesellschaft - und wenn: Was erwartet sie in ihr? Im Hintergrund der spannenden Handlung des Science Fiction-Romans vom Ende des vorigen Jahrhunderts skizziert Alexander Kröger ein Zukunftsbild der Menschheit. Hier ein Auszug aus dem 1. Kapitel des Buches, in dem Helen Überlebenschancen erkundet – während einer „Überdenkungsfrist“:
„Helen blieb bei ihrem Entschluss. Der frühe Morgen - sie richtete sich einfach nach der Anzeige der Uhr, um ihren Tagesablauf zu regeln - fand sie in der Zentrale. Sie studierte die Aufschriften, rief sich die Funktionen der einzelnen Geräte, seinerzeit von den Zweitlebensjüngern in einer Art Technikrausch ausführlich erläutert, ins Gedächtnis, und sie war sich im Klaren darüber, dass ein Fehler, der ihr unterlief, den Schlaf der unbekannten Schläfer da draußen in einen ewigen verwandeln konnte. Einmal dachte sie flüchtig daran, dass es womöglich deren Schade nicht sein müsste. Denn ob man ihr unbedingt Dank entgegenbrächte, wenn das Wiedererwecken gelingt, blieb ohnehin zu bezweifeln. Nichtsdestotrotz - es soll jeder selber entscheiden können.
Für ihr weiteres Handeln blieb Helen eine Überdenkensfrist: Der Prozess des Aufweckens würde zehn Tage dauern, zehn Tage, die sie in konzentriertem Funktionieren würde verbringen müssen, die sie ihr Leben fristen und ihr Umfeld weiter erkunden ließen. Denn außer bei den Lebensmitteln hatte sie längst keinen detaillierten Überblick über das Vorhandene, das vielleicht noch Brauchbare und das, was Schrott war. Und es wäre wohl nicht unvorteilhaft, fänden die anderen eine verlässliche Bilanz vor.
Überhaupt, je mehr sich Helen gedanklich mit ihren noch imaginären Gefährten befasste, desto gespannter wurde sie. Sie hätte gern vorgegriffen, sich gewissermaßen auf das Begegnen vorbereitet, allein, so intensiv sie auch abermals suchte, es fanden sich keinerlei Unterlagen über die Schläfer. Was sie allerdings entdeckte und sie für die nächsten Schritte sicherer machte, waren Angaben zum Weckvorgang, insbesondere mit Hinweisen auf die Zeitfolgen.
Helen gönnte sich zwei Tage intensiven Studiums und des Trockenübens. Sie ging gedanklich immer wieder die einzelnen Vorgänge durch, lernte einige Bedienschritte auswendig, war dann zuversichtlich, den Prozess einigermaßen fehlerfrei steuern zu können. Sie hoffte nur inständig, die desolate Installation möge noch soweit intakt sein, dass die Kammern ausnahmslos anzusteuern wären.
Am Morgen des sechsten Tages ihres zweiten Lebens - Helen konnte über einen solchen Gedankengang amüsiert lächeln, was sie für ihre Gemütsverfassung als einen Fortschritt empfand - leitete sie für zwölf Kammern den Weckvorgang ein.
Aber nur von sieben kam eine Rückmeldung.
Aus den Kammern 3, 4, 9, 21 und 22, die nach der Matrix belegt sein sollten, kam kein Antwortsignal, so oft Helen auch den Ruf wiederholte. Das konnte dreierlei bedeuten: Entweder waren die Kammern entgegen der Anzeige leer, oder die Verbindung war gestört, oder die Schläfer ...
Helen spekulierte nicht und gab alsbald das Probieren auf, in der Gewissheit, ohnehin nichts ausrichten zu können, wollte sie nicht Gefahren für die Schläfer heraufbeschwören. So oder so müsste sich alsbald einiges klären. Natürlich war sie sich bewusst, dass Fachleute Möglichkeiten eines Eingriffs gesehen hätten. Aber ...
Helen kontrollierte auch des Nachts. Sie hatte ihr Lager in der Zentrale aufgeschlagen und nutzte die Signalautomatik, ihren flachen Schlaf alle zwei Stunden unterbrechen zu lassen. Der elektronische Weckruf in die sieben Kammern pulste problemlos.
In der Zwischenzeit sichtete sie Vorräte, noch brauchbare Materialien und registrierte. Dabei bediente sie sich mangels einer anderen Möglichkeit einer uralten Methode. Sie ritzte in die Lackschicht der Schränke die Daten in Fünferkolonnen. Der Computer, der im Arbeitsraum stand, befand sich zwar äußerlich in einem tadellosen Zustand - was Helen zu allerlei Hoffnung Anlass gab -, aber er tat keinen Mucks. Später fand sie ein Bündel Bleistifte, mit denen sie zunächst auf wenig korrodierten Metallplatten aus dem Materiallager vorzüglich schreiben konnte. Das meiste vorgefundene Papier war spröde und zerbröselte schon bei leichter Berührung. Erst später entdeckte sie brauchbare Bögen, die offenbar jüngeren Datums waren.
Es war in der vierten Nacht. Der Automat hatte gerade geweckt, und Helen benötigte noch wenige Augenblicke, um in die Wirklichkeit zu finden, als ein lauter, dumpfer Knall sie geschockt zusammenfahren ließ. Nach der ersten Schrecksekunde sprang sie zur Tür, horchte hinaus. Einen Augenblick war ihr, als höre sie entferntes Poltern, dann umfing sie wieder die bekannte unheimliche Stille ...
Zunächst erfüllte sie das Ereignis mit Furcht, ein wenig Hoffnung auch. Aber dann reimte sie sich zusammen, dass das Entstehen der Trümmer, das Ablösen der Schalen, eine Folge gespeicherter Spannungen im Gebirge sein könnte, die sich mit solchem Knall entladen. Dass sie richtig vermutet hatte, zeigte sich am Morgen: In der Nähe des Füllorts hatte sich aus der Firste eine 30 Zentimeter dicke, mindestens sechs Quadratmeter große Platte gelöst, die nun, da sie auf anderen Trümmern lag, ein weiteres Hindernis bildete. Die Abbruchstelle an der Firste aber zeugte davon - ein breiter Riss klaffte -, dass für jeden, der sich darunter befände, äußerste Gefahr bestand.
Am achten Tag des Weckvorgangs erlosch das Echo aus Kammer 19. Es kamen wieder zwei Ursachen in Betracht: Die Technik oder - der Tod ...
Helen traf das Ereignis hart. Für sie waren die sieben Anzeichen von Leben beinahe wie das Leben selbst. Die Kontrollleuchten, Ziffern, die Skala, die den Lauf des Programms anzeigten, waren bereits so etwas wie ihre Gefährten. Und jetzt, da eines dieser Lebenszeichen ausblieb, wurde Helen sich überdeutlich und schmerzhaft bewusst, wie sehr sie sich nach den Menschen aus den Kammern sehnte, wie sie sich auf ihr Erscheinen freute. Es war, als sei mit dem Erlöschen des Platzes 19 ein Freund gegangen ...
Je näher der Weckzeitpunkt rückte, desto nervöser wurde Helen. Und sie konnte sich zehnmal am Tag sagen, dass das ganz normal sei. Sie fand keine Ruhe, versuchte, sich durch eine verstärkte Kontrolltätigkeit in den Vorratsbereichen abzulenken, rannte aber fast jede halbe Stunde in die Zentrale, um nachzusehen, ob ja alles noch normal verlief.
Am neunten Tag redete sie sich eine dringende Tätigkeit ein, die sie neben der Wache unbedingt ausführen müsse: Ein von der Hauptstrecke abzweigender Querschlag, hinter dem sie einen Abbau vermutete, schien nicht gänzlich durch Geröll versperrt. Das Licht aus der Hauptstrecke aber reichte nicht aus, sich Gewissheit zu verschaffen. Im Materiallager hatte sie einen Bottich mit verharztem Fett vorgefunden. Durch Erhitzen verflüssigt, gab dieses Brennstoff für eine primitive Fackel, die zwar stark qualmte aber immerhin ein Umfeld von sechs bis sieben Metern Durchmesser erhellte.
Aber Neues erfuhr sie nicht in jener Strecke. Überrascht wurde sie jedoch, als sie zurück in die saalartige Diele kam: Der Qualm ihrer Fackel stieg nicht etwa senkrecht empor, er bog vielmehr, bevor er die Firste erreichte, leicht hin zur Kammerstrecke aus und wälzte sich gleichsam, langsam zwar, dorthin.
Behutsam, um nicht selber Turbulenzen zu erzeugen, aber aufs Höchste gespannt, begleitete Helen den ziehenden Rauch, bis er, stets an der Firste kriechend, im die Strecke verschließenden Geröll verschwand.
>Die Grube wird bewettert! Sie muss also Verbindung mit der Außenwelt haben, ohne jeden Zweifel!< Helen hätte es jubelnd hinausschreien mögen. Bislang war ihr der Gedanke, dass eine Anzahl Menschen auch Luft zum Atmen benötigt, nicht gekommen. Freilich, der Rauminhalt ihres unterirdischen Reiches war groß, aber ohne frischen Nachschub war der Sauerstoff endlich.
Doch nicht die Lösung dieses bislang noch gar nicht erkannten Problems versetzte Helen in Euphorie: Wo Luft hindurchkommt, könnte letzten Endes auch ein Mensch ... Der Weg wäre vorgezeichnet.
Helen ging systematisch-gründlich vor, und beinahe hätte sie darüber sogar die nächste Kontrolle vergessen. Sie begab sich mit ihrer Fackel den Weg zurück - dem Luftzug entgegen -, um den Ursprung des Windchens zu entdecken. Er lag überraschenderweise nicht, wie sie vermutet hatte, am Schacht, sondern in jenem Querschlag, dessen Zugang in der Tat nicht bis obenhin verfüllt war. Zwischen Geröllberg und Firste befand sich ein Zwischenraum, der einem Menschen zum Hindurchkriechen genügend Platz bot.“
Erstmals 1983 veröffentlichte Alexander Kröger im Verlag Neues Leben Berlin
„Das Kosmodrom im Krater Bond“, der 2. Teil seiner Centauren-Trilogie. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2008 im Projekte-Verlag Cornelius Halle erschienen war: Jul Roth hat sich auf diesen Tag gefreut; er selbst leitet die erste Landung eines Raumschiffes im neuen Kosmodrom auf dem Mars. Dazu die Aussicht, bald Urlaub zu haben, Urlaub mit Betty auf der Erde ... Plötzlich jedoch schrillt die Alarmanlage. Eine große Raumflotte außerirdischer Herkunft nähert sich unserem Sonnensystem. Doch die Fremden sind gar keine Unbekannten, sie kommen aus dem System Alpha Centauri, und vor vielen Jahren waren sieben von ihnen in Südamerika notgelandet. Diesmal aber ist die Begegnung nicht freundschaftlich. Die Centauren fordern von der Menschheit den Mars zur Besiedlung und lehnen Verhandlungen ab ... Ein fieberhaftes Treiben beginnt, Menschen werden evakuiert, und Jul Roth wird zum Verantwortlichen auf dem Mars ernannt. Er soll versuchen, die Fremden zur Umkehr zu bewegen. Aber darf man die Centauren, die anscheinend einen neuen Heimatplaneten dringend benötigen, einfach wegschicken? Jul Roth macht sich die Entscheidung nicht leicht. Sein Handeln wird noch erschwert, als die attraktive Editha van Vorst auftaucht. Hier der Beginn des 1. Kapitels:
„Der Himmel färbte sich allmählich fahlgelb. Langsam trat schwarz wie die Rückenpanzerung eines Fabelungeheuers der gezackte Rand des Kraters hervor. Wenig später drangen übergangslos die matten Strahlen der Sonne durch die an den Gipfeln hängenden Staubschleier. Die Schatten des Ufergebirges flossen verwischt in die zunehmende Helle auf dem weiten, ebenen Grund des Kraters. Am jenseitigen Ufer schluckten Dunstschwaden wie lang gezogene Wattebausche das schüttere Licht. Aber kaum stand die Sonnenscheibe sichtbar über dem Horizont, begann der Kamm an einer Stelle scheinbar zu glühen. Dort fraß es sich wie Feuer in die Felsen, im roten Beugungsschein von Infras, der zuvorderst umlaufenden künstlichen Sonne.
Jul Roth stand in einem Gebüsch von subtropischen Pflanzen unmittelbar dort, wo die gläserne Kalotte, die den Wohntrakt überspannende Kuppel, in den Boden tauchte. Oft hatte er das faszinierende Farbspiel zwischen den Auf- und Abgängen der sieben Sonnen genossen. Heute fehlte ihm dafür der Sinn. Er starrte in die Dunstwolke am jenseitigen Kraterrand, wissend, dass Infras in wenigen Minuten den Nebel aufgeleckt und das, was dieser verhüllte, entschleiert haben würde.
Dann glomm drüben hoch oben ein Punkt auf, ein Leuchten, als brenne ein Licht in einem Seidenkokon. Die Kanzel des Leitturms trat aus dem Brodem. Ihre Verglasung sandte den Reflex. Vor dem rötlichen Hintergrund des jenseitigen Kratergebirges drängten sich, wie von einem Zauber beschworen, die Bauwerke des Kosmodroms hervor, funktionelle Kunstwerke aus Stein, Plasten, Metallen und Glas.
In wenigen Minuten verflüchtigten sich letzte Schleierfetzen. Greifbar plastisch stand der Komplex vor Jul. Er konnte sich in dieser Sekunde weniger denn je dem Reiz dieses Anblicks entziehen: Vor dem gleichförmigen Himmel in grautönigem Rosé stieg ohne Übergang aus der ebenen Kratersohle das dunkelschründige braunrote Gebirgsmassiv. Davor lag der filigrane, jetzt im Schein Infras gleißende Hafen, umgeben von einer dunkelgrünen, tauglitzernden Parklandschaft, die sich gleichsam aus der öden Ebene majestätisch löste.
Nichts rührte sich dort. Die im Park angesiedelten kleinen Vögel, Hörnchen und Insekten ließen sich auf diese Entfernung nicht ausmachen. Eines nicht mehr fernen Tages jedoch würden hier stündlich vier Raumer landen und starten, ständig Zubringerflugzeuge einschwirren oder schwerfällig ihre voll gestopften Rümpfe von den Pisten heben. Es würde lebendig werden im Krater Bond - und nicht nur in der Luft.
Juls Blick glitt die metallene Röhre entlang, die sich irgendwo links von seinem Standort aus dem Untergrund löste, sich in einem leichten Bogen zum Kosmodrom wand, dort an der Südbegrenzung verschwand, aber, vom Auge fortgesetzt, im Norden wieder auftauchte und sich von rechts erneut der Kuppel näherte: Ein gigantischer Ring, der die Schnellbahn barg.
Was sollte dagegen die lächerliche Straße ausrichten, die jetzt noch, staubig und holprig, die 20 Kilometer von der Siedlung zum Raumhafen überbrückte.
Ja, hier wird Leben sein, ausgedrückt in technischer Bewegung, und diese gesteuert von Menschen ..., dachte Jul Roth. Und ich werde dazu heute den Auftakt geben! Zum ersten Mal werden die Leitstrahlen in den Kosmos schießen, wird das Schwerefeld pulsieren. Die Leitstände werden wie später im täglichen Einsatz besetzt sein, durch 100 000 Kabelbäume fließen Ströme, Schaltkreise werden geöffnet und geschlossen.
Der erste, seit drei Tagen in der Umlaufbahn fertig montierte Großraumer der Menschen würde, geleitet vom Kosmodrom, automatisch landen und starten. Heute - in wenigen Stunden! Jul Roth lächelte. Wenn auch das Band über dem Steuertisch - gestern Abend hatte er es eigenhändig mit gespannt - vom Sekretär der Sektion Mars, Tamar, zerschnitten werden wird, wenn ich dann in der Rangfolge der Honoratioren ziemlich hinten stehen werde, ich, Jul Roth, leite die Manöver ein! Obwohl er sich sicher war, dass alles aufs Genaueste funktionieren würde, fühlte er seinen erhöhten Pulsschlag, seine Aufregung, die ihn viel zu früh auf die Beine getrieben hatte.
Er schalt sich töricht deswegen, doch sobald er an das Bevorstehende dachte, durchrieselte es ihn in der Magengegend.
Das Bild draußen hatte sich verändert. Das Gebirge hinter dem Kosmodrom schien flächenhafter, die Konturen der Türme und hohen Gebäude verwischten im beginnenden Flirren der Atmosphäre. Es würde ein heißer Tag werden. Des Tests wegen würde es keinen Regen, keine schattenspendenden Wolkenbänke geben. Die Klimatechniker hatten heute Pause, vorsichtshalber in der gesamten Äquatorzone.
Ein Feiertag! Jul dachte flüchtig, nur einen Augenblick, an die fünf Jahre, die ihn zum Gefangenen dieses Kraters namens Bond gemacht hatten. Von jenem Namen wusste er lediglich, dass der einem Astronomen gehörte, der zum ersten Mal von der Erde aus an dieser Stelle der Marsoberfläche einen verschwommenen Ring gesehen und kartiert hatte.
Das Schwere dieser Jahre schien mit diesem Tag in weite Ferne zu rücken. Was bedeuteten Havarien, Unglücksfälle, Materialfehler, Marskoller ... Jetzt zählte einzig und allein, dass sich in kurzer Zeit ein Koloss minutiös in den Krater senken würde.
Ab heute beginnt überhaupt erst die Eroberung des Mars! Jul lächelte erneut. Dann spürte er wieder die Unruhe.
Jul Roth hörte die Rede Tamars nicht, das heißt, er nahm sie nicht auf. Er ging in Gedanken noch einmal die Reihenfolge der Hauptvorgänge durch, schaltete, unbeachtet von der Menge Menschen, die in der großen ausladenden Schaltzentrale - beinahe ehrfürchtig - das Ereignis genossen, Videoverbindungen zu den angeschlossenen Dispatcherpunkten. Nein, es konnte nichts passieren! Dann kam Bewegung in die Menge. Jul, der am Steuertisch stand, sah auf. Sein Blick glitt über die Gesichter.
Nur ein Viertel der Anwesenden, so schätzte er, war ihm bekannt. Das wird sich wohl nie ändern, dachte er, dass große Ereignisse im Wesentlichen solche der Unbeteiligten sind. Und in diesem Augenblick sehnte er sich nach dem Normalfall, der je Schicht lediglich zwei Mann in der Zentrale vorsah ...
Tamar trat auf den Steuertisch zu, hielt ungeschickt eine Schere, zerschnitt im zweiten Ansatz das Band, das sich über die Bedienelemente zog, und klopfte mit der Linken Jul ein wenig gönnerhaft auf die Schulter.
Jul nickte, drückte mit dem Daumen den roten Startknopf, beugte sich zunächst über den Tisch, dann setzte er sich und sagte mit großer Ruhe: „Hier Bondkosmodrom, CONT eins, bitte kommen. Am Leitstand Roth!“ An der Übersichtstafel blitzte der Schirm auf. Ein rundes Männergesicht erschien, dem anzusehen war, dass im Ernst der Situation offenbar auch Lächerliches mitschwang, wie stets, wenn einfach zu Sagendes - in deklamatorische Formel gepresst - zum ersten Mal vorgetragen wird.
„C... CONT eins hier. Anfliegen Bondkosmodrom, bitten um Landeerlaubnis. Kommandant der ersten Transportflotte - Mirror.“ Jul sprach weiter Formeln, betätigte Schalthebel und Knöpfe. Er hatte die Leute ringsum vergessen. Aufgeregt fühlte er sich längst nicht mehr. Routine, wie sie sein muss, wie er sie an Metejew, den Jungenhaften, der mit gerötetem Gesicht neben ihm stand, weitergeben würde.
Schade, dachte Jul, dass die Zeit hier vorbei ist. Man hatte sich aneinander gewöhnt, wusste, was man voneinander zu halten hatte, kannte gegenseitig Schwächen und Stärken; was half’s. Eine neue Etappe, ein Neubeginn. Man würde das hier Erfahrene anwenden, Fehler vermeiden, neue begehen ... Dass ein zweites Kosmodrom gebraucht wird, steht außer Zweifel. Dass ich es wieder errichten soll, ist praktisch. Was einem solche Jahre abverlangen, ist nebensächlich.
Einen Augenblick dachte Jul an Ruhe, an langes Ausspannen, wurden ihm die Entbehrungen und der Ärger bewusst, die unweigerlich und bei allem guten Willen der Versorger und Betreuer wieder da sein würden, zermürbend, permanent belastend. Nun, diesmal würde Betty von Anfang an dabei sein! Aber Jul, wenn du dann erneut vor dem roten Knopf stehst ...
Jul wurde in seinen Gedanken durch das Einschwenken des Raumers in eine Landeparabel unterbrochen. Der Koloss hatte programmgemäß seine Triebwerke abgeschaltet, fiel nun auf die Marsoberfläche zu, wurde im entgegen gesandten Antigrav-Impuls gebremst und auf den vorgesehenen Platz dirigiert.
Das Schiff lag jetzt voll in der Automatik des Hafens. Dann erfassten es die Wellenfinger des Fernholografen. In einem Leitkäfig aus vier Strahlen, die, von Jul auf dem Schirm sichtbar gemacht, wie grünliche Nadeln den Transporter berührten, sank der Raumer.
Obwohl sicher niemand im Raum am positiven Ausgang des Tests zweifelte, herrschte atemlose Spannung. Die Blicke der Anwesenden hingen am Schirm; Juls leise Kommandos wurden kaum von den unmittelbar neben ihm Stehenden wahrgenommen.
Dann setzte das Raumschiff auf, unmerklich, ohne einen Ruck, ohne Staub aufzuwirbeln. Jul lehnte sich zurück - als Zeichen, dass der erste Teil der Vorführung beendet war. Beifall brandete auf, man murmelte anerkennende Worte, Freude stand in den Gesichtern.
Unprogrammgemäß ging ein Ruf in die Zentrale, im Bild erschien der runde Kopf des Raumschiffkommandanten.
„Gratuliere!“, sagte Mirror. „Das war gekonnt. Vom Aufsetzen haben wir nicht das Geringste bemerkt. Wenn die Piste nicht zu unseren Füßen läge, wir glaubten es nicht. Wenn ihr uns auch wieder so wegbringt ...“
„Das wird sein, Kommandant, verlass dich darauf!“, entgegnete Jul lächelnd. „Können wir?“ Die Frage richtete er gleichzeitig an den Sekretär und den Hauptdiensthabenden.
Mit einer Geste stimmte Tamar zu. Der Hauptdiensthabende sagte: „Start frei!“ und schaltete sich vom Monitor.
Jul wurde sachlich. Wieder sprach er Formeln. Auch der Kommandant, noch einen Augenblick auf dem Schirm zu sehen, gab sich wieder dienstlich.
Ein wenig bang wurde es Jul. Beim Start wurden die Schwerkraftgeneratoren auf’s Äußerste belastet. Jul dachte an die ungeheuren Kräfte, die er mit dem nächsten Schalterdruck freimachte, die den Koloss da draußen in die erste kosmische Geschwindigkeit schleudern würden.
Dann schaltete Jul. Wenige Augenblicke später hob sich das Schiff, unmerklich wieder, schwankte leicht wie in einem Trickfilm, beschleunigte, wurde schneller, scheinbar kleiner - wie von Geisterhand geschoben.
Einige der Zuschauer wandten sich ab, der Test war gelaufen, erfolgreich gelaufen.
Plötzlich ein durchdringender Summton. Aufflammen eines grellroten Leuchtschildes über dem Display ... Das Wort „Alarm“ pulsierte. Die Menschen erstarrten.
Jul blickte erstaunt, ungläubig. Er fühlte sich unfähig, irgendwie zu reagieren.
Sekundenbruchteile später knüpften seine Gedanken Zusammenhänge, flossen die Alarmregeln ein. Das Auf und Ab des auf die Nerven gehenden Summtons verriet die höchste Alarmstufe.
Dann handelte Jul. Er drückte zwei Tasten, eine, die ihn mit dem Hauptdiensthabenden verbinden würde, eine zweite, die optisch und akustisch den Befehl auslöste, die Zentrale zu räumen. Unbeteiligt forderte der Computer: „Nichtdiensthabende räumen die Zentrale. Bereitschaft nach Alarminstruktion eins. Anweisung des Hauptdiensthabenden abwarten. Wahrt Disziplin!“ Jul sah zur Uhr. Das Raumschiff musste, um auf die Umlaufbahn zu gelangen, noch fünf Minuten beschleunigen. Die Instruktion sah bei höchster Alarmstufe vor: Kommunikationsstopp, Senkung des Energieverbrauchs auf Notversorgung ... Beides im Augenblick undurchführbar, ging es ihm durch den Kopf.
Er schaltete erneut, rief, obwohl auf seinem Monitor der Ruf des Hauptdiensthabenden bereits anstand, beherrscht: „CONT eins, kommen ... CONT eins, kommen ...“ Und als ihn das Empfangszeichen erreichte: „Höchste Alarmstufe. Landung im Sektor drei, Informationsstopp! Ende!“ So wird der Energieverbrauch wenigstens gedrosselt, dachte Jul. Müssen ganz schön durcheinander wirbeln dort draußen - beschleunigen, stoppen, fallen, verzögern. Und nicht wissen, was eigentlich los ist. Jul drückte Empfangsbereitschaft. Auf seinem Monitor im Pult erschien das ernste Gesicht des Hauptdiensthabenden. „Ist der Sekretär noch bei dir?“, fragte er hastig.
„Was bedeutet der Alarm?“, gab Jul ebenso zurück.
„Den Sekretär, verdammt noch mal!“
Jul sah auf. Die Menschen, bis auf einige wenige, hatten die Zentrale verlassen.
Tamar stand abwartend, offenbar unentschlossen, einige Meter von Jul entfernt, mitten im Raum. Jul fühlte Ärger. Was sollte schon sein, das irgendeiner von hier nicht wissen durfte? Dann zuckte er mit den Schultern.
„Für dich“, forderte er Tamar auf, und er machte eine einladende Bewegung zum Tisch hin.
„Vertraulich für den Sekretär“, wies der Diensthabende an.
Jul verzog die Mundwinkel, öffnete eine Schublade und hielt dem neben ihm Stehenden Ohrmuscheln hin.
Der Hauptdiensthabende schaltete sich sogar aus dem Bild. Trotz des Ernstes der Situation lächelte Jul spöttisch. Gleichzeitig aber fühlte er die Spannung. Eine Vorstellung von dem, was vorgefallen sein könnte, hatte er nicht. Probealarm? Dagegen sprachen die Geheimnistuerei, die Wichtigkeit des Tests und die vielen Gäste.
Der Test! Jul beruhigte sich sofort wieder. Sein Blick glitt über die Funktionalinstrumente. Die Automatik regelte den komplizierten Vorgang da draußen. In dieser Sekunde erreichte CONT I die Nullgeschwindigkeit. Die Geräte arbeiteten normal.
Nein, aus dem Test resultierte der Alarm nicht! Alle Menschen auf dem Mars und viele auf der Erde wussten, dass in dieser Minute das erste Marskosmodrom in Betrieb genommen wurde. Die Vorgänge ohne jede Vorwarnung durch einen Probealarm zu unterbrechen, wäre sträflich. Wenigstens mich hätten sie dann einweihen müssen! Nein, etwas Außergewöhnliches, Ungeheures war eingetreten! Jul zwang sich zur Ruhe. Noch hing draußen das Schiff in den Richtstrahlen mit drei Menschen an Bord, die nicht wussten, wie ihnen geschah. Als er feststellte, dass CONT I in den verzögerten Fall übergegangen war, atmete er erleichtert auf. Neben ihm nahm der Sekretär die Kopfhörer ab. Sein Gesicht war ernst, er sah abwesend aus. Auf Juls forschende Blicke reagierte er nicht.“
Erstmals 1991 konnten Leserinnen und Leser Bekanntschaft mit dem spannenden Krimi „Wer nicht stirbt zur rechten Zeit“ von Jan Eik machen. Er erschien als Band 142 in der ebenso bekannten wie beliebten DIE-Reihe des Verlages Das Neue Berlin. DIE stand für Delikte – Indizien – Ermittlungen. Von 1970 bis zur Wende lagen 130 dieser Krimis im Taschenbuchformat vor. Es handelte sich um Neuerscheinungen, Wiederveröffentlichungen und Übersetzungen zeitgenössischer Schriftsteller sowohl aus der DDR als auch aus den sozialistischen, osteuropäischen Ländern und aus dem westlichen Ausland. Nach der Wende übernahm die Eulenspiegel Verlagsgruppe Das Neue Berlin. Zwischen 1990 und 2001 wurden weitere Titel veröffentlicht. Als allererster Titel war 1970 „Der Fall Fatima“ von Fritz Erpenbeck herausgekommen, dem Großvater väterlicherseits der Regisseurin und Schriftstellerin Jenny Erpenbeck (unter anderem „Dinge, die verschwinden“, „Aller Tage Abend“ und „Gehen, ging, gegangen“). Als letzter Band der DIE-Reihe erschien mit der Nr. 224 „Banknoten für Portugal“ von Günther Prodöhl. Und damit zurück ins Jahr 1991 und zu Jan Eik, der mit seinem Buch auch die damals erst nur kurz zurückliegende Vorwende- und Wendezeit aufgriff: Auf einem kleinen Podest, unter einem seiner überdimensionalen Gemälde, liegt die Leiche des Malers Seibold. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er „gesoffen hat wie ein Loch“. Starb er an den Folgen seiner Alkoholsucht? Oder hat jemand nachgeholfen? Vogelsang, ein berühmter Berufskollege, hasste ihn. Seine schöne Lebensgefährtin Lola, die bei ihm nicht gerade den Himmel auf Erden hatte, verfügt nun über sein Bankguthaben. Kommissar Timm hat allen Grund, misstrauisch zu sein. Der Autor hat seinem spannenden Krimi eine aufschlussreiche Bemerkung vorangestellt: „Personen und Handlung sind erfunden, die Zeitumstände und die Zitate nicht.“ Und jetzt zum Beginn des 1. Kapitels und zu Kommissar Timm, der sich nicht gerade in der besten Verfassung befindet – wie das Land, in dem er lebt und ermittelt:
„Der Leichenwagen bahnte sich seinen Weg durch die menschenleere Allee und kam nicht von der Stelle. In dem schwarzen Metallbehältnis auf der Ladefläche klapperte es hohl. Der Motor dröhnte, und das Signalhorn jaulte ununterbrochen.
Ganz allmählich nur glitt Dietmar Timm in die Wirklichkeit des trüben Oktobermorgens. Direkt unter dem Fenster polterte das Mahlwerk des Müllfahrzeugs, ein Geräusch, gegen das der Wecker mit seinem schrillen Piepsen vergeblich ankämpfte. Ein Wunder, dass er den überhaupt eingeschaltet hatte. Schwerfällig richtete er sich auf. Sein Kopf schmerzte. Im Mund spürte er einen pelzigen Belag. Die Luft im Zimmer war grau wie Zigarettenrauch und schmeckte auch so. Vorsichtig schüttelte er die Schachtel auf dem Couchtisch. Sie war leer. Die Wodkaflasche daneben enthielt noch eine daumenbreite Neige.
Angeekelt zog Timm die Schulterblätter zusammen, gab sich einen Ruck und erhob sich. Er trug noch die Unterwäsche vom Vortag. Unsicher tappte er zum Fenster und riss es auf. Im Nu füllte ein Schwall von Dieselgestank den Raum. Das Müllauto schepperte unerträglich laut. Übelkeit überkam ihn. Er schloss das Fenster mit einem harten Knall.
Erst mal unter die kalte Dusche, dachte er. Wenn er sich nicht beeilte, war das Bad besetzt.
Er hatte kein Gefühl dafür, ob das Wasser zu heiß oder zu kalt auf ihn herabprasselte. Die Haut brannte, und er schloss die Augen, bis eine Stimme in sein Bewusstsein drang.
„Spritz bitte nicht alles voll!“
Er wandte seiner Frau den Rücken zu und antwortete nicht. Das eisige Wasser rann durch sein dichtes schwarzes Haar und kühlte schmerzhaft angenehm die Stirn.
Als er wieder ins Wohnzimmer trat, war sie dabei, das Bettzeug zusammenzulegen und in der Schlafcouch zu verstauen. „Guten Morgen“, sagte er so freundlich wie möglich.
„Räum deinen Schnaps weg“, antwortete sie rau und beugte sich weit vornüber. Ihr Nachthemd war sehr kurz.
„Heike ...“, sagte Dietmar Timm tonlos, aber sie reagierte nur mit einem unwilligen Laut. Für einen Moment war er versucht, sie anzufassen, sich an sie zu drängen, doch er beherrschte sich. Statt dessen griff er gehorsam nach Flasche und Glas, knüllte die Zigarettenschachtel zusammen und trottete in die Küche. Er goss den Wodkarest in den Ausguss und schob die Flasche hinter den Mülleimer. Wenn er jetzt auch noch zu saufen anfing, würde sie überhaupt nie wieder mit ihm schlafen.
Dabei hatte er den Wodka gekauft, um sich mit ihr auszusprechen und zu versöhnen. Wodka mit Kirschsaft, bei dem Getränk hatten sie sich kennengelernt. Sogar Kirschsaft hatte er aufgetrieben.
Und dann war sie während der Aktuellen Kamera durchs Zimmer in die Küche gefegt, nur mit einem Seitenblick auf den Bildschirm, auf dem der gerade gewählte Staatsratsvorsitzende die Zähne bleckte, und hatte durch die offenstehende Tür gerufen: Der muss auch noch weg! So schnell wie möglich!
Timm war nicht einmal zusammengezuckt. In den vergangenen Wochen hatte er sich von ihr noch ganz andere Sprüche anhören müssen. Außerdem mochte er den Mann auch nicht.
Man muss ihm wenigstens eine Chance geben, sagte er dennoch, so laut, dass sie es hören musste.
Sie steckte den Kopf durch die Tür. Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff, sagte sie in dem sarkastischen Ton, der ihn verletzte. Mit dem und deiner Partei wird das nie was. Wie lange willst du da noch mitmachen?
Gar nicht mehr, hätte er am liebsten entgegnet, aber so einfach war das alles nicht, und so sagte er, um sie wenigstens ein bisschen zu beruhigen: Ich habe schon seit zwei Monaten keinen Beitrag bezahlt.
Es war falsch, damit zu prahlen. Der gemütliche Abend endete in einer Auseinandersetzung mit Türenknallen und Heikes endgültigem Auszug ins Kinderzimmer. Ihm war der Wodka geblieben.
Er stand vor dem Kühlschrank und kämpfte gegen eine neue Welle von Übelkeit an. Er war es nicht gewohnt zu trinken. Und noch weniger war er es gewohnt, sich sein Frühstück selber zuzubereiten. Lustlos biss er in ein trockenes Knäckebrot. Er musste etwas essen, sonst würde ihm in der Straßenbahn schlecht werden.
Seit drei Wochen ging das so. Genauer: seit er über den 40. Jahrestag drei Tage und drei Nächte nicht nach Hause gekommen war. Ständige Bereitschaft. Dafür hatte sie bis dahin immer Verständnis gehabt. Sie wusste ja, dass sie nicht mit einem Buchhalter verheiratet war.
Aber auch nicht mit einem Schläger, hatte sie wütend gesagt, als er am 10. Oktober endlich todmüde zu Hause aufgetaucht war, und ihn für die Verletzten verantwortlich gemacht, die in der Praxis behandelt worden waren.
Eigentlich war es schon vor diesen Ereignissen nicht mehr gut gegangen in ihrer Ehe. Seit August vielleicht, oder seit Juli. Jeden Abend hatte Heike sich das angeguckt, wie die Leute die Zäune der Botschaften überkletterten, wie sie die Grenzsperren zu Österreich stürmten. Und sie hatte begonnen, von einer Ungarnreise zu schwärmen.
Oder hatte es bereits vor einem Jahr im November angefangen, als er noch versucht hatte, ihr das SPUTNIK-Verbot zu erklären?
Das kannst du deinen Toten erzählen, oder deinen Genossen, die keine Krempe am Hut haben! Ich habe den ganzen Tag mit normalen und lebendigen Menschen zu tun. Die lassen sich nicht länger für dumm verkaufen!
Gewiss, in so einer Arztpraxis verkehrten ganz durchschnittliche Menschen. Aber zu viele Rentner für einen repräsentativen Querschnitt. Und der Doktor selber, von dem Heike unaufhörlich sprach, das war auch kein ganz gewöhnlicher Bürger. Ein eingebildeter Fatzke und ein Reaktionär, wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was Heike erzählte.
Timm blies in den heißen Tee und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war nicht gut, dass dieser Doktor einen so starken Einfluss auf Heike ausübte.
„Bringst du Steve zur Schule?“
Ihre Stimme ließ jede Spur von Freundlichkeit vermissen. Hätte sie nicht wenigstens fragen können: Warum setzt du dich nicht hin beim Frühstück?
„Ich fahre nicht mit dem Auto“, sagte er. „Das entspricht doch deinen grünen Ambitionen, oder?“
Sie bedachte ihn mit einem Seitenblick und schwieg.
Der Junge hatte die Absage gehört und drängte sich an ihr vorbei in das Küchenkabuff. „Och, Pappa“, bettelte er, „bloß heute mal, ja?“
Timm stellte den Teetopf ab und beugte sich zu seinem Sohn. „Heute geht es wirklich nicht, Stevie.“
„Dein Vater ist noch besoffen“, sagte Heike in ihrer charmanten Art. Sie hatte sich einen Morgenmantel übergezogen und begann Brot zu toasten.
Der Junge guckte seinen Vater ungläubig an. Er hatte kupferrotes Haar und die gleiche volle Unterlippe wie seine Mutter. Die schob er jetzt vor, als wolle er in Tränen ausbrechen.
„Schtewe!“, mahnte Timm, doch der Junge fand das gar nicht komisch. Er hatte sich längst an diese Aussprache seines Namens gewöhnen müssen, wie Timm das von Anfang an befürchtet hatte. Er hatte Heike nachgegeben, die blass und schön in den Kissen gelehnt und auf Steve beharrt hatte. Von Georg, seinem Vorschlag, war nicht mehr die Rede gewesen.
Als er im winzigen Flur vor dem Spiegel seinen dunklen Schlips umband, tauchte unerwartet Heike neben ihm auf. In ihren Augen war zu viel Weiß zwischen der grünlichen Iris und dem unteren Lid. Das machte diesen besonderen Blick aus, der über alles hinweg in die Ferne gerichtet schien und dem Timm auch nach sieben Jahren Ehe noch verfallen war wie am ersten Tag ihrer Bekanntschaft. „Gib diesen Scheißjob auf, Didi. Das nimmt kein gutes Ende!“
Er griff nach seinem dunklen Trenchcoat und sagte, ohne sie anzusehen: „Was soll ich denn machen?“ Dass er gelernter Schweinezüchter war, wusste sie. Besamungsfacharbeiter. Hielt sie das in diesen Zeiten für eine Existenzgrundlage?
Sie wandte sich wortlos ab. Aus dem Zimmer krähte der Junge: „Aber morgen bist du nüchtern?“ Er wartete nicht auf den Fahrstuhl und stieg die drei Treppen hinunter. Im Kasten steckte die BERLINER ZEITUNG.
Das Zentralorgan hatte Heike abbestellt, ohne ihn zu fragen.
Er schlug die Zeitung auf. Der neue Vorsitzende blickte himmelwärts in die Zukunft. Um ihn herum standen die alten Figuren.“
Und falls es jemand in dieser Textstelle nicht oder nicht mehr entschlüsseln konnte, mit dem Begriff Zentralorgan, das Heike Timm abbestellt hatte, ohne ihren Mann zu fragen, war das „Neue Deutschland“ gemeint, das damals tatsächlich noch als „Zentralorgan des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED) firmierte. Alles Weitere ergibt sich dann aus dem durchaus geschichtsträchtigen Krimi, der gerade auch wenige Woche vor dem 30. Jubiläum der Wende (s)eine Lektüre lohnt. Zumal er auch noch spannend geschrieben ist.
Spannung, wenn auch auf ganz andere Art, versprechen auch die vier Titel von Alexander Kröger, der sich von Cottbus aus in kosmische Höhen aufschwang (also gewissermaßen zwischen Cottbus und Kosmos) und seine begeisterten Leserinnen und Leser sehr häufig weit weg mit in die Zukunft nahm.
Es lohnt sich, diese Einladung anzunehmen. Viel Spaß beim Lesen, weiter einen schönen Sommer und bis demnächst.