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Eine Katastrophe im Kosmos, Krieg gegen Außerirdische und was Männer und was Frauen wollen – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 23.08. 2019) Das Hauptthema der Literatur sind Menschen und ihre Schicksale – egal, ob sie sich nun auf der Erde oder weit entfernt von der Erde, im Kosmos, spielen. Das gilt auch für die insgesamt fünf aktuellen Angebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 23.08.19 – Freitag, 30.08.19) zu haben sind.

 

Mit einer schrecklichen Katastrophe im Kosmos beginnt „Die Kristallwelt der Robina Crux“ von Alexander Kröger. Wie geht es weiter? Hat die junge Kosmonautin noch irgendeine Chance?

 

Ebenfalls von Alexander Kröger stammt „Die Engel in den grünen Kugeln“. Allerdings verhalten sich diese „Engel“ gar nicht engelhaft, sondern sehr kriegerisch.

 

In „Lea – Ein Leben im Sperrgebiet“ erzählt Dorothea Iser von einem Mädchen, dass es im Leben nicht leicht hat und sich gegen viele Widerstände durchsetzen muss.

 

Jan Flieger lässt seinen Helden in „Sternschnuppen fängt man nicht“ eine schwere Zeit durchleben und über die Liebe und den Sinn des Lebens nachdenken.

 

Ganz Ähnliches passiert einer Ärztin und dem Fahrer eines schwer verunglückten Kombinatsdirektors in dem Roman „Die Neigung“ von Uwe Berger.  

 

Soweit die aktuellen Sonderpreisangebote. Zum Normalpreis dagegen ist der aktuelle Beitrag der Rubrik Fridays for Future zu kaufen. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Aus Anlass der 80. Wiederkehr des Beginns des von Hitler angezettelten Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 befasst sich der Fridays-for-Future-Newsletter gegenwärtig mit dem Thema Krieg und Frieden: Wie und warum „entstehen“ eigentlich Kriege? Und was erleben Menschen im Krieg? Eine bemerkenswerte Antwort darauf gibt in dieser Woche ein neues, sehr berührendes Buch von Manfred Kubowsky, das auf authentischen Dokumenten beruht und das als Mahnung an den Beginn des Zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren zwischen dem 30. August und dem 1. September im E-Book-Shop www.edition-digital.de kostenlos heruntergeladen werden kann.

 

Erstmals Mitte dieses Jahres veröffentlichte Manfred Kubowsksy als Eigenproduktion  der EDITION digital seinen Briefroman aus der Zeit der Schlacht um Moskau (1941) „Hellblaue Blitze vor rotem Himmel“ – sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: 23 Original-Feldpostbriefe, die eine junge Berliner Pianistin ihrem Liebsten an die Front vor Moskau schickte, haben sich von 1941 bis heute erhalten. Erschütternde Zeugnisse tiefer Liebe, verbunden mit angstvoller Sorge um den geliebten Mann, der zunächst noch in naivem Vertrauen, bald aber erfüllt von Zweifel und Wut, für Hitlers Wahnsinns-Blitzkriegs-Idee vor Moskau in Dreck und Schnee steckt …

 

Die Briefe reflektieren zunehmend und erstaunlich offen auch die Gräuel des Naziregimes und Kriegserscheinungen wie Rationierung von Lebensmitteln und Bombenangriffe an der „Heimatfront“ Berlin. Die Kapitel zwischen den Briefen aber erzählen realistisch und packend vom Frontgeschehen, vom siegessicheren Beginn des Moskau-Feldzuges bis zu seinem sehr bitteren Ende nach nur wenigen Monaten. Hier der Anfang dieses berührenden Buches, in dem Autor Manfred Kubowsky die Hintergründe dieses Projektes erklärt und seine Hoffnung auf ewigen Frieden: 

 

1 Die Briefe. Ein Prolog

Sie wären fast vermodert, zusammen mit dem uniformierten, leblosen Körper des Soldaten. Nicht mehr liebevoll ans Herz gedrückt, sondern verfault, zerfallen in der blutgetränkten Erde vor Moskau.

Sicher hatte der tote Soldat die Rufe des deutschen Exil-Schriftstellers nicht gehört, der von der sowjetischen Seite aus mittels eines Megafons die Deutschen aufforderte, den sinnlosen Kampf zu beenden

Nun kniet der Autor vor ihm …

Er nimmt dem toten Gefreiten die Erkennungsmarke ab.

Der Soldat hat nichts dagegen …

Sanft zieht er dann die Hand aus dem Innern der Uniformjacke.

Die starre Hand umklammert ein Päckchen kleiner, hellblauer Feldpostbriefe.

Der Autor entnimmt die Briefe der starren Hand, ganz sachte, sanft, aber mit notwendiger Kraft. Der tote Soldat hat nichts dagegen …

Feldpostbriefe:

An den Gefreiten

Hans Treskatis

07862 D

Feldpost, keine normale Post. Das hat nichts mit dem Feld zu tun, das der Bauer bestellt. Hier geht es um das Feld der sogenannten Ehre.. .es ist das Feld, auf dem nur einer Ernte hält: der Tod.

Der tote deutsche Soldat wird begraben werden, irgendwie, man hofft es.

Der deutsche Schriftsteller in Filzstiefeln und wattiertem weißem Mantel schaut kurz in den ersten Brief.

Der tote Soldat hat auch dagegen nichts …

 

Geheimnisse. Süße Geheimnisse. Liebesbriefe, Sorgenbriefe aus Berlin. Die Briefe der fleißigen Schreiberin vom Pariser Platz.

 

Im Augenblick des Todes hatte Hans in die Uniformjacke gegriffen, die Briefe umklammert, vielleicht mit einem letzten hoffnungsvollen, sinnlosen Gedanken:

Eli, du und deine süßen, lieben Briefe, lasst mich nicht sterben für diesen Wahnsinn, lasst mich leben für euch, für dich, bitte …

Der Autor mit dem weißen Mantel konnte Hans und seine Kameraden nicht retten.

Aber er rettet die Briefe.

Verlässt das „Feld der Ehre“.

Verwahrt sie sorgfältig unter seinem Mantel. Nimmt sie mit nach Moskau.

 

Feldpostbriefe.

Hellblaues Schreibpapier und ebensolche Umschläge in kleinem Format, kauften die Lieben in der Heimat in den Schreibwarengeschäften. Konnten die Briefe portofrei an die Front schicken. Portofrei! Welch ein Vorzug! Nur leider wurden die meisten dieser portofreien Briefe zerfetzt oder verbrannt mit ihren Empfängern. Die an Hans Treskatis geschriebenen blieben erhalten.

2015, siebzig Jahre nach Kriegsende, als ich dieses Buch schrieb, sahen die Briefe noch wie neu aus. Auch heute, fast achtzig Jahre seit dem Beginn des 2. Weltkrieges, liegen die Briefe vor mir wie gerade geschrieben: saubere Blätter, eng bedeckt mit der klaren, steilen Handschrift der Elisabeth Hoernemann, der jungen Pianistin, die in Berlin am Pariser Platz wohnte, ziemlich nahe an Reichskanzlei und Führerbunker …

 

Hitler hatte eine Woche vor Beginn des Moskau-Feldzuges zu seinen Generälen gesagt:

Was ich von Ihnen verlange, ist nur eins: die Tür mit einem kräftigen Stoß einzutreten. Das Haus fällt dann ganz von allein zusammen!

 

So begann der Blitzkrieg.

Es ging tatsächlich alles recht schnell.

Stalin zog sich zurück. Sammelte Kräfte. Entwickelte Strategien. Nach einem halben Jahr hatte Hitler die Blitzkriegsschlacht verloren. Das Haus war nicht zusammengefallen. Die Deutschen zurückgeworfen. Zurückgelassen auf der blutgetränkten Erde: unzählige Gefallene, deutsche Soldaten, von Kugeln durchsiebt, von Granaten zerfetzt, von Panzern zermalmt, in Schnee und Eis begraben; manchmal ragten Teile von den Gefallenen heraus aus dem Eis, ein Arm, ein Fuß, bis „General Winter“ sie mit neuem, barmherzigen Schneefall bedeckte.

 

Der deutsche Schriftsteller Willi Bredel, gebürtiger Hamburger, ehemaliger Häftling im KZ Hamburg-Fuhlsbüttel, Pazifist, Emigrant, Frontagitator gegen den Krieg, rettet Elisabeths Briefe aus der Hand des toten Gefreiten …

Wieder in Moskau, liest er sie, ist erschüttert: Dreiundzwanzig Briefe, eng beschrieben, zwischen Juli und Oktober gesendet an ihren geliebten Hans an der Ostfront.

 

Die junge Berlinerin bangt um ihren Geliebten, spricht ihm Mut zu, ist überzeugt, sie werde ihn wiedersehen, ihn gesund in die Arme schließen; all das Schreckliche wird Vergangenheit sein und vergessen, auch jene furchtbaren Ereignisse in Berlin …

Ja, vom ersten bis zum letzten Brief schreibt sie nicht nur von ihrer Liebe und von einfachen Dingen des Tages, nicht nur von ihrer Angst und Sorge um ihren Liebsten; sie schreibt auch zunehmend offener über Dinge, die sie hier im „friedlichen Berlin“ erlebt: von Rationierung der Lebensmittel, von der Diskriminierung von Juden, der Häufung von Todesanzeigen in den Zeitungen, schreibt von bekannten Leuten, die plötzlich einfach verschwunden sind, von beginnenden Bombenangriffen und angstvollem Ausharren in Luftschutzkellern …

Manchmal schreibt sie so offen in ihrer gewachsenen Verzweiflung, dass man sich wundert, dass die Briefe die Zensur passierten …

 

Nach der Kapitulation Nazideutschlands im Mai 1945 kehrt der Schriftsteller Willi Bredel zurück in die Heimat; er kommt über Rostock nach Mecklenburg-Vorpommern, mit ihm die Briefe.

 

Er gründet in Schwerin zusammen mit dem Pfarrer Karl Kleinschmidt und dem Grafiker Herbert Bartholomäus und anderen antifaschistischen Kulturschaffenden den „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“. In den folgenden Jahren sind seine Tage durch unglaubliche Arbeitsfülle gekennzeichnet; die Briefe geraten zunächst in Vergessenheit. Doch um 1950 herum recherchiert er intensiv, um eventuell Elisabeth und ihre Angehörigen zu finden, vergeblich.

 

Bredel geht später nach Berlin, wird Präsident der Akademie der Künste der DDR, gerät zunehmend in Widerspruch zur Doktrin der Ulbricht-Partei, regt sich oft sehr auf über Engstirnigkeit und Intoleranz auf, erleidet 1964 mit nur 62 Jahren einen tödlichen Herzinfarkt.

Seine schwedische Ehefrau May, nun Witwe, lebt jetzt allein in der großen Wohnung in der Berliner Ifflandstraße, umgeben von Bredels riesiger Bibliothek, in der irgendwo Elisabeths Briefe schlummern.

 

Fast dreißig Jahre später.

May ist in einem Pflegeheim, die Tochter muss die Wohnung auflösen. Ich werde gebeten, Bredels Bibliothek zu katalogisieren und nach Schwerin, der langjährigen Wirkungsstätte des Autors, zu schaffen. Am letzten Tage meiner Berliner Arbeit halte ich die Feldpostbriefe in der Hand. Ich frage die Tochter: Was soll damit geschehen?

Nimm sie an dich,

meint sie,

der Vater wollte etwas draus machen, ist nicht dazu gekommen; vielleicht gelingt es dir …!

 

Ich nehme die Briefe nach Schwerin mit. Lese sie, bin erschüttert. Lege sie weg. Andere, immer neue Aufgaben bewegen mich, unter anderem meine Arbeit im Kulturbund in Mecklenburg, dem ich später einige Jahre als Präsident vorstehe, bis zum Jahre 1990 …

Wieder vergeht viel Zeit, 25 Jahre!

Wieder mahnen, erinnern mich die Briefe, sie irgendwie zu veröffentlichen, doch erst 2015, nachdem meine Frau mich nach schwerer Krankheit verlassen hatte, nahm ich sie wieder zu Hand.

Ist es die Verzweiflung über den Verlust, ist es das wieder erwachte Trauma aus der zerbombten Berliner Kindheit, was mich nun treibt? Vielleicht auch das Wissen und Erleben, dass immer noch Gewalt und schreckliche Kriege diese Welt erschüttern?

 

Die steile Handschrift der Elisabeth Hoernemann muss in den Computer übertragen werden. So erfasse ich erneut die ganze Tragik zweier Liebender inmitten eines verbrecherischen Krieges. Die literarische Nachempfindung der Geschehnisse an der Moskauer Front ergibt sich fast wie von selbst.

Liebe, Hass, Angst, Verbrechen, Hoffnung, Glauben und Irrglauben; und doch immer wieder Hoffnung durch die Liebe …

 

Inzwischen sind 77 Jahre vergangen, seit die Briefe der eisstarren Hand eines toten deutschen Soldaten vor Moskau entnommen wurden.

Und in diesem Jahre, am 1. September, wird es 80 Jahre her sein, seit der Verbrecher Hitler den schlimmsten Krieg begann, den die Welt bisher gesehen hat.

So bin ich wieder erschüttert.

Bin auch froh, darüber geschrieben zu haben. Glaube, dass das Buch seine Leser finden wird. Hoffe auch, dass so etwas nie mehr geschieht, dass überhaupt alle Kriege aufhören.

 

Aber wer weiß das schon?

 

Februar 2019                                                 Manfred Kubowsky“

 

Und damit zu den fünf aktuellen Sonderangeboten. Erstmals 1997 erschien als Band 137 der Reihe „Spannend erzählt“ im Verlag Neues Leben Berlin „Die Kristallwelt der Robina Crux“ von Alexander Kröger. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2004 im Eigenverlag KRÖGER-Vertrieb Cottbus veröffentlicht worden war: Wie ein gewaltiger Spiegel ragt plötzlich die Fläche eines Riesenkristalls vor Robina auf. Und obwohl die junge Kosmonautin das Höhenruder zurückreißt, erfolgt Sekundenbruchteile später ein schmetternder Aufprall. Das Beiboot ist auf jenem geheimnisvollen Kristallboliden havariert, den die Besatzung der REAKTOM auf der Heimreise zur Erde entdeckt hat. Bestürzt sucht Robina Kontakt zum Raumschiff, um die Bergung zu veranlassen, doch die Funksignale bleiben ohne Antwort. Etwas Unfassbares ist geschehen. Die REAKTOM ist verschwunden, und Kernstrahlung deutet auf eine Katastrophe. Niemand wird Robina retten können; sie ist allein in dieser unwirtlichen Kristallwelt, viele Lichtjahre von der Erde entfernt. Tiefe Verzweiflung ergreift die junge Kosmonautin, der nur ein Hoffnungsschimmer bleibt: Da ist jenes fremde Funkfeuer, dessen kalte Lumineszenz den Boliden in rhythmischem Abstand aus der Schwärze des Alls reißt. Auch in diesem Falle präsentieren wir den Anfang des Buches – ein schreckliches Unglück geschieht:

Prolog

In dem Augenblick, als der Pilot offenbar die Gefahr erkannt hatte und das Landeboot zu einem riskanten Durchstart vor der spiegelnden, schrägen Wand zwang, durchbrach ein greller Blitz das pulsierende Dämmerlicht. Ein ungeheurer horizontaler Schub schmetterte das Heck des Bootes auf die glatte Fläche. Das Flugzeug glitt nach oben, und der Rumpf wurde gegen das Spiegelnde geschleudert. Die Trümmer rutschten ein Stück empor, dann, nach dem toten Punkt, die Schräge immer schneller nach unten, wobei sich der verbeulte Rumpf so drehte, dass er längs der Kante zu liegen kam, dort, wo der Kristall aus der Ebene wuchs. Eine der Stabilisierungsflächen schob sich über das Boot, die zweite prallte vor dem Rumpf auf, überschlug sich und schlitterte einige Meter in die Ebene hinein.

Dann herrschte Ruhe.

Rhythmisch pulsierte die kalte Lumineszenz aus unbestimmter Quelle, überzog die bizarre Welt aus reflektierenden Flächen von Kuben und Oktaedern, Quadern und Rhomboedern mit prachtvollem Farbspiel.

Scheinbar rasch zogen in tiefster Allschwärze funkelnde Sonnen.

Das im Lumineszieren matt schimmernde Wrack lag still, würde Teil werden der toten Materie ringsum, eingerieselt von splittrigem Kristallschutt.

1. Kapitel

Zuerst fühlte Robina das Pochen in den Schläfen, danach den Drang des Blutes zum Kopf. Der übrige Körper erfühlte sich, als ob er schwebe.

Dann gelangten Bilder ins Bewusstsein, wirr und ungeordnet: Boris winkt - die Mundwinkel leicht nach unten gezogen, als blicke er geringschätzig, die Augen, als sähen sie längst anderes - wie in jenen Tagen, als ihn die Gemeinsamkeit ungeduldig werden ließ ...

Da steht Ed, gebeugt, lächelnd unter dem Schmerz des kranken Wirbels. Er streicht über ihren Arm beim Abschied, Ed, den sie lange nicht sehen und nur durch 100 Ohren wird sprechen können.

Und da beugt sich Frank zu ihr, klopft vor dem Ausschleusen auf den Schutzanzug: „Mach’s gut, Robi!“ Die Trennung wird nur kurz sein.

,Mein Kopf - zu tief - der Druck ... Was ist ...?’

Robina durchfuhr es siedendheiß: ,Frank!’

Und dann etwas anderes: Der Bolzplatz. Knapp vor dem Gesicht wischt der Boden aus gewaschenem Sand und glasklaren Plast-Oolithen vorbei. Die langen Haare ziehen eine feine Spur.

Empörte Passanten lösen den Knoten des Strickes, der die Füße des baumelnden Mädchens verbindet und der dazu diente, hängend über das Seil zu hoppeln. Und sie bedauern das ach so zarte, hübsche und jetzt wütend weinende Kind, dem das Blut zu Kopfe gestiegen ist, und sie schimpfen auf die rüden Bengel, die aus sicherer Entfernung grinsend die Szene beobachten.

Dabei hatte Robina gar nicht geweint, weil sie mit dem Kopf nach unten hing, wie die Leute annahmen; sie wäre allemal in der Lage gewesen; bis zur Seilstütze zu hoppeln und sich dort empor zu hangeln. Nein, Ed, der liebe Bruder, hatte, ihre Lage schamlos ausnutzend, ihrer Sportpuppe den Akkumulator entnommen und ihn seinem Maulwurf einverleibt, der beim Wettgraben am langsamsten schaufelte.

Natürlich gab es beim Hoppeln einen Blutandrang zum Kopf hin - wie im Augenblick ...

Langsam, ganz langsam formte sich die Frage: ,Wo bin ich? Was, was ist geschehen?’

Robina öffnete die Augen; sie spürte Schmerzen im Nacken; das Pochen lief durch Hals und Kopf. Was sie sah, war wenig. Sie benötigte Sekunden, um sich zu orientieren. Dann begriff sie: Sie lag vor dem Steuersitz des Beibootes, der beängstigend schräg über ihr hing. Ihr linkes Bein klemmte verdreht zwischen Steuerung und dem Schalenrand des Sessels, der Helm stieß gegen die Pedale. Robina übersah ein Stück der Kabinendecke, des Sessels und die Armaturenverkleidung von unten. Platzangst überfiel sie. ,Aufstehen!’, befahl sie sich, ,sehen!’ Aber auch als sie sich mühevoll aufgerichtet hatte, überblickte sie nur wenig mehr.

Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es sich bei der grau glänzenden Wand vor der Bugscheibe um einen Teil des Bootes selbst, eine der Stabilisierungsflächen handelte. Rhythmisch zuckten darüber Streulichter der geheimnisvollen Lumineszenz des Boliden.

Robina durchlief abermals ein Angstschauer. Sie wandte sich zum Mikrofon und musste dazu den Kopf in eine unbequeme Lage drehen. Betont forsch sagte sie: „Hallo, Frank?“ Sie konnte nicht verhindern, dass die Stimme zitterte, der Ruf belegt klang.

Und noch etwas irritierte: Sie hörte ihre eigene Stimme nicht über das Außenmikrofon des Anzugs. Wieder ergriff sie eine Angstwelle, als ihr bewusst wurde, dass die Hermetik der Kabine gestört sein musste.

,Die Gefährten holen mich hier weg!’

Sie lauschte auf das beruhigende Summen der Sprechanlage des Anzugs. Hier schien alles in Ordnung zu sein.

„Hallo, Frank!“

Stille. Außer diesem feinen Summen - Stille ...

Robinas Blick glitt unstet über die Armaturen. Die Zeiger standen auf Null. Die Signallampen, unheimlich dunkel, tot in den Fassungen, beschworen abermals Bangigkeit herauf.

„Hallo, Frank, Stef!“

Robina spürte, wie Schweiß ausbrach, wie die Kopfhaut zu prickeln begann.

„Mandy?“

Sie lauschte nicht mehr, ob das leise Summen von einer vertrauten Stimme durchbrochen würde. Sie schrie: „Frank, zum Teufel, so melde dich doch!“

Nichts.

Plötzlich klatschte sich Robina die behandschuhte Linke an den Helm. „Drehst durch, Robi“, sagte sie laut, und sie hielt sich die Uhr vor das Helmfenster. „Sie können dich nicht hören, absoluter Funkschatten - noch siebenunddreißig Minuten, Mist!“

Erleichtert atmete Robina auf. ,So ein Unsinn. Ein wenig havariert, und gleich spielt man verrückt. Es hätte doch schlimmer kommen können. Ich lebe, bin wohlauf, in dreißig Kilometer Entfernung sind die Gefährten, die schön verschnupft sein werden über den Schrotthaufen, den ich fabriziert habe.’

Robina betätigte Schalter, zuckte mit den Mundwinkeln, als sie den implodierten Bildschirm wahrnahm. ,Nichts mehr zu machen mit dem schönen Boot’, dachte sie. ,Zeit, dass wir heim kommen!‘

Aber warum? Wie konnte das überhaupt geschehen?’ Robina versuchte sich zu erinnern. Zunächst ließen sich die Bilder nur schwer ordnen bei dem dumpfen Gefühl im Kopf: Unversehens hatten sich die Konturen des Landezeichens aus der strengen Geometrie der Kristalle gelöst. ,Na, setze ich eben ein wenig später auf; zieht sich doch weit, diese ebene Landefläche. Dort das Massiv. In dem befindet sich die Grotte. Da werde ich eben wenden, hinfahren, ausladen ...’

Da - Robina fühlt, wie ihr die Haare zu Berge steigen. Von vorn, gleichsam aus dem Boden, stürzt ein Beiboot wie das ihre auf sie zu, kommt rasend näher.

Ohne Überlegung reißt sie am Höhenruder. Das Boot reagiert.

„Jawohl, es hat reagiert!“, rief sie laut, aus ihrer Erinnerung auftauchend.

Auch das zweite Boot vor ihr stieg, sie sieht deutlich die Unterseite des Rumpfes und die Stabilisatoren.

,Mein Spiegelbild!’, durchfährt es sie.

Da kam die Lichtwoge, der verdammte Schub ...

Robina fand in die Wirklichkeit zurück.

,Blitz? Hatte es überhaupt einen Blitz gegeben? Oder entstand der nur beim Aufprall - so wie Sterne bei einem Schlag auf den Kopf? Jedenfalls habe ich das Boot an die Fläche eines dieser miesen Riesenkristalle gesetzt. Schweinerei! Das werde ich wohl verantworten müssen.’

Die Aussicht auf ein Disziplinarverfahren wurde von dem Glücksgefühl, die Havarie unbeschadet überstanden zu haben, verdrängt.

,Nur schade um das Boot. Aber es wäre schon dumm gewesen, jetzt, da wir auf dem Heimweg sind, sich noch etwas zuzuziehen oder den Gefährten gar eine Leiche zu bescheren.’

Robina probierte systematisch ihre Gliedmaßen durch und stellte abermals erfreut fest: außer einem leichten Ziehen im Nacken und einem dumpfen Brummen im Kopf fühlte sie keinen Schmerz.

,Ich müsste aussteigen’, dachte sie, ,mir das Ganze von draußen betrachten.’

Sie musterte die Kabine eingehend: Großflächige Beulen, die von außen die Verkleidung deformierten, Geräte aus den Halterungen gerissen. Die Tür zum Laderaum stand halb offen. Robina hangelte hin. Die Sauerstoffflaschen lagen durcheinander, Konservenboxen dazwischen, einige geplatzt, ihr Inhalt klebte an Kanistern und Dosen.

Dann blickte Robina ungeduldig zur Uhr. Es fehlten noch zehn Minuten. Erfahrungsgemäß kam aber, wenn auch qualitätsgemindert, in einer solchen Konstellation die Funkverbindung bereits zustande, wenn es keine Überlagerungen durch das fremde Funkfeuer gab.

Robina nahm eine bequemere Haltung ein und war fest entschlossen, nun zu senden, bis die Verbindung stand. Stereotyp rief sie im Abstand von je einer halben Minute. Sie lauschte in der Gewissheit, dass sie trotz des eigenartigen Knatterns eine Antwort nicht überhören würde.

Jedoch wuchsen nach Minuten vergeblichen Rufens Erregung und Konzentration. Sie spürte unwillkürlich Unruhe aufsteigen. Die augenblickliche Konstellation zwischen dem Boliden und dem Raumschiff verhinderte wohl die Verbindung, vielleicht schirmte auch die über das Wrack geschobene, abgebrochene Stabilisierungsfläche zu sehr ab, oder aber der Rumpf lag so ungünstig, dass zusätzlicher Funkschatten entstand, oder der Kristall selbst ...

Robina zwang sich zur Ruhe. „Hallo, Frank!“, rief sie gleichförmig.

Dann drängten sich ihr die Namen der anderen Gefährten in den Sinn: Sie rufen! Frank hatte mit ihr Verbindung zu halten. Aber jeder andere, der sie hörte, würde sich ebenfalls melden.

Aufreizend langsam tropften die Ziffern der Uhr. Dann kam die Zeit, zu der Funkmaximum herrschen musste. Robinas Stimme begann zu zittern. Unter großer Beherrschung ließ sie noch einige Minuten verstreichen, danach rief sie, rief ...

Dann dachte sie abermals: ,Ich muss hier raus, es ist doch klar, dass hier etwas nicht stimmt, etwas nicht funktioniert. Sie können mich nicht hören! Sicher rufen auch sie bereits.’ Noch bevor sie erwogen hatte, ob sie die Funkkonstellation noch bis zu deren Ende abwarten oder sofort aussteigen sollte, zwängte sie sich zur Schleuse. Ihre Bewegungen wurden hastiger, dazwischen rief sie, nun lauter, weil sie sich von der Bordsprechanlage entfernte, ungeachtet dessen, dass in der Kabine der Schall nicht mehr übertragen wurde.

Sie kam trotz der Schräglage ohne Schwierigkeiten in die Schleuse, und dort stellte sie fest, dass die Außenluke klaffte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihr Ruf in den letzten Minuten die Gefährten gar nicht hatte erreichen können: Mit neuer Hoffnung schaltete sie die Funkanlage des Raumanzugs ein und rief mehrmals hintereinander. Aber auch jetzt als Antwort nur das leise Summen und das eigenartige Knattern, die im Geräusch ihres Atems fast untergingen.“

 

Elf Jahre vor „Robina“, erstmals 1986, hatte Alexander Kröger ebenfalls im Verlag Neues Leben Berlin und zwar als Band 199 dessen Reihe „Spannend erzählt“ seinen Wissenschaftlich-phantastischen Roman „Die Engel in den grünen Kugeln“ herausgebracht. Dem E-Book liegt die Originalausgabe von 1986 zugrunde. Bei der Wiederauflage wurde lediglich auf neue Rechtschreibung umgestellt: Dicht presst sich Igor Walrot an den Boden, während ringsum die todbringenden blauen Blitze aufzucken. Etwas Unbegreifliches ist geschehen. Da sind in Nordeuropa fremde Raumschiffe gelandet und überziehen die Erde mit Krieg. Viele meinen, dass es sich bei den Auseinandersetzungen um ein Missverständnis handelt, und wollen die Fremden wie Gäste begrüßen, doch Igor glaubt nicht an die Friedfertigkeit der Besucher aus dem All. Bestärkt wird er in seiner Meinung von Dagmar, jenem dunkelhaarigen Mädchen, das immer in der vordersten Kampflinie zu finden ist. Und so übernimmt er auch den gefährlichen Auftrag, der ihn bis in die Basis der Außerirdischen führt, die seltsamerweise wie Engel aussehen. Kriege sind zum Zeitpunkt der Handlung auf der Erde Geschichte. Es dauert lange, bis die Menschen wirksamen Widerstand leisten können. An einem packenden Einzelschicksal schildert Kröger das leidvolle abenteuerliche Geschehen um die Eindringlinge. „Die Engel in den grünen Kugeln“ ist ein utopischer Roman von 1986, der im Jahre 2000 als überarbeitete Neufassung unter dem Titel „Falsche Brüder“ erschien. Er ist gleichzeitig eine Parallelhandlung zu „Robinas Stunde Null“ von Alexander Kröger. Hier ein Auszug aus dem spannenden Buch, in dem es ziemlich militärisch  zugeht:

„Am Spriegelgerüst hatte man eine großmaßstäbliche Karte des Gebiets, in dem wir uns befanden, befestigt, und der Offizier begann zu erläutern, wie der weitere Rückzug taktisch so gelenkt werden sollte, dass der Gegner, der auf einer Front von etwa fünfundzwanzig Kilometern vorrückte, von besiedelten Gebieten und der Straße Utsjoki-Inari weiterhin abgelenkt würde. Die ständige Feindberührung der letzten Tage hätte gezeigt, dass ein solches Vorgehen nicht hoffnungslos zu sein brauchte. „Das Ziel der Angreifer ist offenbar Inari“, er zeigte die Siedlung im Süden der Karte, einen Ort unter fünfhundert Einwohnern, „hier sind wir im Augenblick, und hier entlang wollen wir sie haben. Freilich, wir müssen mit weiteren Verlusten rechnen. Aber ihr begreift, dass es um mehr geht.“

Er erläuterte konkrete Handlungen, die bei diesem und jenem Verhalten des Gegners eingeleitet werden sollten, und dann wurde die Mittagsmahlzeit ausgegeben.

Die Erläuterungen wurden von den Kämpfern widerspruchslos aufgenommen. Doch ein Blick in die Gesichter hätte jedem klargemacht, was sie von der Wirksamkeit all dessen, was da geplant wurde, hielten.

Ich zog mich mit meiner Assiette in den Schatten zurück, saß neben Hugh, vor mir hockten drei meiner Kameraden, die mit mir am Vortag zur Truppe gestoßen waren.

„Was aber ist, wenn sie sich nicht beirren lassen?“, fragte einer, es war jedoch ungewiss, ob er überhaupt eine Antwort erwartete. Wer von den Kameraden hätte sie ihm auch geben sollen.

„Wenn wir nur ausreißen, haben sie nicht die geringste Veranlassung, auf ihr Ziel zu verzichten. Sie müssten in eine Wut geraten, die sie hinter uns hertreibt, mit dem Willen, uns zu vernichten.“

„Wenn alles stimmt, was man über sie sagt, haben sie den. Und immerhin, seit wir vor ihnen herlaufen, sollen sie ja langsamer vorrücken. Auch das ist schon etwas, da bleibt mehr Zeit, die Bevölkerung zu evakuieren.“

„Und wenn sie nicht alles besetzen?“

Hugh mischte sich in das Gespräch der Neulinge mit großem Ernst, der im merkwürdigen Gegensatz zu seiner heiteren Gesamterscheinung stand. „Unser einziger Vorteil ist, dass sie so langsam sind. Aber was ihnen in die Hände - weiß der Teufel, ob sie welche haben - fällt, ist erledigt, kaputt oder tot. Nach ihnen gibt es keine Menschen mehr, Jungs, ich habe es oben in Leppälä gesehen. Wenn sie leben bleiben, willenlose, vegetierende Wesen ... Und das kann man in diesem langsamen Tempo mit der ganzen Erde machen, sukzessive, ein Dorf, eine Stadt. Lass es zehn, fünfzig oder hundert Jahre dauern. Vielleicht begnügen sie sich mit einem Kontinent.“ Hugh machte eine Pause. Dann setzte er hinzu: „dass sie niemanden in ihre Gewalt bekommen, deshalb sind wir hier. Ich fürchte nur, sie werden unsere Taktik durchschauen, denn wer von dort anreist“, er wies mit einem Kopfheben in den hellen Himmel, „den sollte man nicht unterschätzen.“

Er holte tief Luft. Offenbar überstieg diese lange Rede seine Norm.

„Eben!“ Ein junger Mann, noch neuer als ich, rief es unbeherrscht. „Ein Missverständnis ist das, die größte Dummheit, sich ihnen entgegenzustellen. Ihr werdet sehen ..." Er blickte, nach Bestätigung heischend, um sich.

Niemand sprach.

Dann fragte Hugh: „Wer bist du?“

Irritiert antwortete der Junge: „Seppo, Vitala Seppo. Es wird euch leid tun, ihr werdet sehen ... “

Ich aß ohne Appetit, lustlos. Zu sehr noch saß mir das Geschehen - noch keine dreißig Minuten her - in den Knochen. Und dieser Hugh hielt hier einen Vortrag wie vom Katheder, zugegeben, zur Sache ... Wir sitzen herum, essen Frikassee aus der Assiette, während unterdessen, keine fünfhundert Meter entfernt, ein teuflischer, unerbittlicher Feind, in seinen Absichten und Fähigkeiten nicht erkannt, lauert, vielleicht in diesem Augenblick auf seine schleichende, fast lautlose Art vorrückt, mit Waffen vorrückt, denen nichts entgegenzusetzen ist.

Und überhaupt, dieses lächerliche Häuflein! Ich blickte den Waldrand hinauf und hinunter. Dreißigtausend sollen insgesamt eingesetzt sein - und täglich kommen mehr -, dreißigtausend, die den Feind ständig eingeschlossen halten. In früheren Kriegen bedeutete das im Regelfall dessen Untergang. Hier? Sozusagen ein wandernder Kessel, ein aufwendiges Beobachten mit Menschenopfern. Mehr nicht!

Und dort, wo die Eindringlinge durchgezogen sind, ist alles vernünftige menschliche Leben ausgelöscht. Wir dürfen dies feststellen, versuchen, den Unglücklichen, die leben, zu helfen. Und niemand und nichts konnte es bisher verhindern.

Diese Weisheiten hatte ich aus den „Pausengesprächen“, aus den paar Brocken, die die „Alten“ fallen ließen, die Alten, die nun schon fast vier Wochen „kämpften“. Offiziell erfuhr man nichts Zusammenfassendes, man wusste nicht, was hinter dem Kessel wirklich geschah, wie viele Verluste an der Front eingetreten und wie viele Opfer unter der Bevölkerung zu beklagen waren. Vielleicht funktionierte nicht einmal eine zentrale Berichterstattung. Und niemandem, das wusste ich auch, konnte daraus ein Vorwurf erwachsen. Das Stadium der Verwirrung, der Überraschung, des Unfasslichen war noch nicht überwunden, und dennoch musste man handeln ...

Ich hatte meine Portion aufgegessen, wenn auch ohne jeden Appetit. Der gesunde Menschenverstand sagte mir, dass in Situationen wie der meinen die Gelegenheit entscheidend sein konnte. Wer weiß, wann es das nächste Mal etwas zum Essen gab?

Plötzlich klang jenseits des Waldstreifens wieder das knallende Bersten auf. Trotz der Sonnenhelle zuckte blauer Schein über die Fahrzeuge, die Gesichter. Wer noch das Foliengeschirr auf den Knien hatte, warf es von sich, ließ sich zu Boden fallen.

„Aber, aber, Jungs“, rief Hugh in das Geknalle hinein. „Ihr müsst sie doch nun schon kennen. Jetzt legen sie - zugegeben, ein wenig eher als erwartet - ihren Teppich. Zum Glück für uns jenseits des Waldstreifens. Wenn sie aufgehört haben, kommen sie. Bis dahin ist nichts zu befürchten.“ Er kratzte mit dem Löffel letzte Soßenreste aus dem Aluminiumblech und schleckte sie mit Behagen.

Ein wenig beschämt setzte ich mich auf, klopfte Erdklümpchen und Moosteile von meiner Bluse. Andere taten es mir gleich, aber nur soweit sie Hughs Stimme vernommen hatten. Im weiteren Umkreis lagen die meisten, wie ich beim vorigen Angriff gelegen hatte, flach auf dem Boden, als wollten sie sich hineinquetschen. Ein beschämendes und gleichzeitig ein Furcht einflößendes Bild, sinnfällig für die Ohnmacht.

„So“, sagte Hugh, indem er sich mit dem Handrücken den Mund wischte, ganz, als beendete er auf einer Landpartie ein vorzügliches Picknick. Dann stand er auf, spähte durch die Baumreihen, horchte.

„Dacht ich mir’s doch!“, sagte er. Was er sich gedacht hatte, behielt er jedoch für sich.

Durch Hughs Verhalten aufmerksam geworden, lauschte ich. Ja, das musste es sein. Das Bersten klang in dichter Folge, aber einmal links, einmal rechts auf. Sie schossen nicht mehr in diesen vorausschaubaren Linien. Verdammte Hunde! Immerhin hielten sie noch den Streifen ein.

Die Hundertschaftsführer wurden zusammengerufen. Offenbar galt es, der neuen Situation Rechnung zu tragen. Der Befehl lautete dann auch: Rückzug auf anderthalbfache Entfernung zum nächsten zu erwartenden Vorstoß des Feindes, um nicht wie vordem in die Feuerlinie zu geraten.

Na also, dachte ich bitter, das ist doch wieder einmal eine Aktion!

„Komm mit!“, forderte mich Hugh unvermittelt auf.

Als ich verständnislos blickte, wies der Kamerad nach vorn in das Wäldchen hinein. „Du hast sie doch noch nicht gesehen, vielleicht klappt es.“

Einen Augenblick schwankte ich zwischen Angst und Neugier. Schließlich überwog der Wille, die permanente Furcht einfach zu unterdrücken.

Während wir wie Pilzsucher in den Wald eindrangen, war es mir, als nickte Hugh einigen seiner Gefährten zu, auch „alten Hasen“ wie er, und diese schickten sich ebenfalls an, indem sie ihre Waffen aufnahmen, Hugh zu folgen.

Hinter uns klangen Befehle auf, die Truppe rüstete zum weiteren Rückzug.

Mir war, als hemmte etwas meinen Schritt. Ich blieb einen Augenblick stehen, sah mich unschlüssig um.“

Erstmals 1983 erschien im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik der Roman Lea – Ein Leben im Sperrgebiet“ von Dorothea Iser: Erzählt wird die Geschichte des Mädchens Lea, das in einem Gebirgsdorf an der Grenze aufwächst. Bei einem Unfall, den sie dort als Fünfjährige hatte, wurde ihr Arm schwer verletzt. Sie weiß, irgendwann wird er steif sein. Das will sie nicht erleben müssen. Sie träumt sich weg. In einer Kinderstadt möchte sie alle, die kein Zuhause haben, aufnehmen. Der Nachbarjunge Josse sagt, was auch werden wird, ich halte immer zu dir. Aber sie müssen sich trennen, weil jeder in einer anderen Stadt studieren wird. Am pädagogischen Institut begegnet Lea Henning Soremba, der als Unteroffizier in ihrem Heimatort gedient hat. Er ist froh und unruhig zugleich, als er Lea wieder trifft. Er will ihr die Angst vor kommenden Jahren nehmen. Sie soll nicht rücksichtslos gegen sich selbst sein, sich nicht abfinden und aufgeben. Sie steigen auf zu neuen Träumen. Da kommt Josse und holt Lea zurück. Er braucht sie, denn er ist völlig verzweifelt, nachdem sein Vater als Kriegsverbrecher entlarvt wurde. Josse kämpft um Lea. In dem folgenden Textauszug begegnen wir Lea auf dem Wege ins pädagogische Institut:

 

2. Kapitel

Auf dem kleinen Bahnhof im Thüringischen sammelten sich die Studenten des neuen Kurses. Lea suchte in ihren Gesichtern nach Neugier auf den anderen, Lust auf das Lernen, auf die Arbeit. Sie sah Frau Schmitt, wie sie lächelnd nickte und mit dem Finger über Namen auf der Liste fuhr, die ein Student eingetragen hatte, sah sie wieder lächeln und nicken. Nicken, daran erkennst du sie, hatte Hanne gesagt, die gute Schmitt, stellvertretende Direktorin soll sie inzwischen sein. Stimmte. Immatrikulation also wie jedes Jahr. Zwei Wochen würde Lea in der Burg wohnen, die sie von einer Ansichtskarte kannte. Die hatte ihr Hanne vor sieben Jahren geschickt. Hanne gehörte zu den letzten, die Kindergärtnerin bei der Schmitt wurden. Auch sie hatte ihre Ausbildung auf der Burg begonnen. Das Institut änderte alle paar Jahre das Programm. Zuerst bildete es Unterstufenlehrer aus und bekam danach seinen Namen. Dann zogen künftige Kindergärtnerinnen ein, und nun sollten hier Erzieher ausgebildet werden, solche für Kinder und solche für Jugendliche. Alle zusammen trafen sich, um in dieses Lager zu fahren.

Zwölf Kilometer bis zur Burg, hörte Lea sagen und Stimmen wie, die hat’s gut, als Frau Schmitt zu den Männern in den grünen Wartburg stieg. Der Bus verspätete sich. Wer waren die Männer im Auto?

Rüssel, natürlich. Lea hörte den Namen, und eine Stimme sagte, viel zu gutmütig soll er sein, unser Jumbo. Ich muss schon bitten, war seine Rede, wenn er hilflos vor der Klasse stand.

Wetzel ist der andere, der schlanke, sagte die Schwarzhaarige, die Gundula hieß. Sie strich sich dabei das Haar aus der Stirn. Der soll noch nicht lange dabei sein.

Einen Werkhof wollen sie uns zeigen, war eine andere Stimme zu hören.

In Lea spannte sich die Erwartung bei dem aufregenden Gedanken, zu jenen zu gehen, die in ihrem Leben wenig Halt fanden, geschlagen worden waren, gestoßen, verstoßen, die sich wehrten, indem sie selber schlugen, stießen und verstießen, die nichts glaubten und niemandem trauten. Sie würde irgendwann vor ihnen stehen und nicht sagen können, die Welt ist schön — hört ihr? Sie ist trotzdem schön. Lea könnte sie nicht rütteln, als müssten sie aus einem Albtraum geweckt werden, nicht rütteln, wie sie es mit sich tun musste, wenn sie es selbst vergaß. Wie oft stand sie vor einer Tiefe, ein Schritt nur hätte genügt. Sie ließ auch mal die Arme über dem Abgrund hängen oder die Beine pendeln, vorsichtig rutschend, wie das wäre, dieses endgültige Fallen. Sie zog sich zurück, drückte das nasse Gesicht ins Gras oder wärmte es auf kaltem Stein. Was wir durchhaben mit ihr, hörte sie die Mutter, wozu das alles. Wer will schon nutzlose Sorge gewesen sein. Es ist, als kann man mit diesem Gedanken nicht Ruhe finden.

Kraftverkehr anrufen, sagte einer zu dem Studenten, der auf die Uhr sah. Der antwortete, fünf Minuten warten wir noch.

 

In diesen fünf Minuten hatte der grüne Wartburg die Vorläufer des Höhenzuges erreicht. Die Straße stieg an und ließ sich dann weich fallen. Noch lag nicht einmal die Hälfte des Weges hinter ihnen.

Hoffentlich klappt es mit den Bussen, sagte Wetzel, während er seine Augustäpfel verteilte. Er wusste, wann die Studenten auf der Burg sein mussten. Danach hatte er seinen Plan entwickelt, präzise, natürlich, so arbeitete er, so lebte er.

Ich denke, auf Ihren Studenten Romma kann man sich verlassen, sagte Frau Schmitt lächelnd. Und wenn’s schiefläuft, muss ihm was einfallen. Eine gute Bewährung für einen, der im nächsten Jahr schon mit eigener Gruppe unterwegs sein kann. Es wird nicht immer alles glattgehen.

Sie wird doch nicht ...? Wenn sie die Busse gar nicht bestellt hatte ... Ein Verdacht wuchs in Jumbo.

Wetzel dachte, das darf sie nicht, nicht ohne uns zu informieren. Außerdem wäre das Romma gegenüber unfair. Er konnte nicht lange darüber nachdenken, denn er wurde von ihr nach seinen Plänen befragt. Darauf hatte er gewartet, dass er seine Konzeption darlegen könnte. Aber jetzt ärgerte er sich. Warum tat sie überlegen, lächelte ihn an, als wüsste sie längst, was er ihr sagen wollte? Darum fragte er noch einmal nach dem Zeitplan. Wird er zu halten sein?

Warum denn nicht? Frau Schmitt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Wir sind auf alles vorbereitet.

Jumbo stellte sich vor, wie die Studenten sich durch die Stadt zum Busbahnhof schleppen. Wie Sonne auf den kahlen Platz brennt und alle auf den Bus hoffen.

Auch Wetzel dachte an die Studenten. Drei Stunden werden sie mindestens brauchen. Ob das der richtige Auftakt ist, bleibt zu bezweifeln. Da kann er das Manuskript in der Tasche lassen, da wird nichts mit seiner Rede.

Frau Schmitt lachte. Als könnte sie Gedanken lesen, sagte sie, es fährt ein Linienbus. Mindestens das wird Romma herausfinden. Wir müssen sie nicht wie Kinder behandeln. Manchmal sind ein paar Härten ganz gut. Den Studenten muss man auch körperlich etwas abverlangen.

Ehe das Lachen aus Jumbos Gesicht verschwand und ehe Wetzel spitze Worte fand, hielt der Fahrer auf dem grünen Randstreifen.

Verdammter Mist, schimpfte er, hätte längst in die Werkstatt müssen.

Er stieg aus, klappte die Motorhaube auf, hoffentlich nicht das Getriebe.

Endlose Pause, ehe er einsteigen ließ.

Wieder aussteigen. Wie lange sie schon festsaßen.

Beunruhigende Frage Frau Schmitts, was, wenn ...

Gewissheit dann und Entschluss Jumbos. Laufen!

Halt, der Bus, sagte Wetzel.

Natürlich. Frau Schmitt lachte. Zwei Kurven abwärts die letzte Haltestelle.

Also vorwärts, in diesem Falle rückwärts. Lachte sie denn immer? Tempo, Tempo. Ängstlichkeit kam in Wetzel auf, zu spät zu kommen, den Motor zu hören, der sich mit der Auffahrt quält. Anderes in ihm trat zurück, wurde unwichtig. Er war nur da, um jedes Geräusch wahrzunehmen, das aus dem Tal heraufkam, um es einzuordnen. Hinter ihm die beiden. So erreichten sie die erste Kurve, und dem Ziel nah, bangte er um jedes Motorengeräusch, verärgert vom Lachen hinter sich.

 

Auf derselben Straße zur selben Zeit sagte die dicke schwarzhaarige Studentin, die Gundula heißt, zu Lea: Wenn das so weitergeht, prost Mahlzeit! Lea blieb stehen, um die Tasche abzusetzen. Ihr Körper schien nur Arm zu sein, an dem die Tasche hing, die sie in den Asphalt ziehen wollte.

Mein Koffer dagegen, die Schwarze stöhnte, und noch den Beutel. Sie wischte sich übers Gesicht. Lea winkte einem Auto.

Hier doch nicht, sagte die Schwarze.

Ich kann nicht mehr, dachte Lea. Diese Tasche, immer an derselben Hand. Die Handfläche brannte ihr von den Griffen. Wenn Josse jetzt mit seiner Jawa käme wie gestern. Sie sah auf ihren Verband. Er war durchblutet.

Sieht schlimmer aus, hatte Josse gesagt. Im ersten Augenblick sieht es immer schlimmer aus, als es ist. An diesen Satz erinnert sie sich gut, obwohl viele Jahre inzwischen vergangen sind, auch an die Stimme, die das fünfjährige Mädchen Lea Kaiser damals damit in die Wirklichkeit zurückholte. Die Wirklichkeit war das Sofa in der guten Stube, auf das sie Lea gelegt hatten. Und die Stimme gehörte Manfred Neubert. Keiner antwortete ihm. Nur Lea schrie, als sie ihn sah. Da fragte er, ob er was für sie tun könne. Den Arzt rufen, ein Auto schicken. Woher sollte er das nehmen? Vater und Mutier standen um Lea herum und schwiegen.

Dafür kann niemand, sagte Neubert. Das ging so schnell.

Was war schnell gegangen? Da war Sonne, ja. Und ein Feuer - ja, Feuer brannte, und Josse, natürlich war Josse dabei. Er röstete Kartoffeln. Qualm zog über das Feld und biss in den Augen. Vater hob mit der Forke Stauden aus, Mutter sammelte und sortierte. Den Eimer für Schweinekartoffeln durfte Lea weitersetzen, bis sie ihn umkippte.

Weil du nicht aufpasst. Erika zog Lea an den Zöpfen und schüttelte sie. Los. Aufsammeln!

Otto dachte, was macht sie denn mit dem Mädchen. Er sagte nichts. Erziehung überließ er ihr.

Dann sollte Lea gehen. Aber nach Hause wollte sie nicht. Hanne würde sie Gänse hüten schicken. Das war langweilig. Zu Josse mit seinen verbrannten Kartoffeln war sie gern gelaufen. Er stocherte in der Glut. Manchmal hörte sie ihn husten. Einfach über den Feldrain hin zu ihm, wo Mutter sie sah? Josse hieß eigentlich Josef, wie sein Vater Sepp und sein Onkel Juschko. Er musste schon morgens in die Kirche, manchmal zweimal am Tag, und er redete ein komisches R und verdrehte die Worte beim Sprechen wie alle seine Verwandten. Am Sonntag trug er weiße Kniestrümpfe — na, wenn die Eltern sie mit dem auf dem Acker sahen. Mutter sagte, Josse verdirbt das Mädchen. Er war ein Jahr älter und traute sich schon zu rauchen, aber an dem Sonntag nicht. Ja, Sonntag war. Er blieb auf seinem Feld und Lea auf ihrem. Mutter jagte sie nicht weg, aber es war langweilig wie bei den Gänsen. Bei Lene Liersch war es nie langweilig. Da gab es den Dackel Hexe mit krummen, kurzen Beinen und die kleinen Katzen. Was macht Sie, Jungfer Katze, schläft Sie oder wacht Sie, piepste Lea, wenn sie zur Lene Liersch kam, die ihr mit tiefer Stimme antwortete:

Da ging die Katz die Tripp die Trapp, da schlug die Tür die Klipp die Klapp.

Dann das helle Lachen der Lene Liersch, die das Mausejunge hinter der Tür hervorzog, auf den Arm nahm, in die Luft warf und wieder auffing. Zu ihr durfte Lea auch nicht mehr, weil Lene Liersch ein raffiniertes Weibsstück war, das sich die Brust hochschnallte. Das hatte Mutter zu Vater gesagt.

Man müsste wie die gelben Blätter fliegen können, die der Wind aufwirbelte und bis in die Wolken trieb. Lea würde ihnen gern folgen. Sie kletterte über volle Säcke auf den Kartoffelwagen. Fliegen, fliegen. Die Mutter drohte. Otto dachte, was verlangt sie denn von dem Mädchen. Er sagte, lauf nur.

Lea rannte mit ausgebreiteten Armen über das Feld, umkreiste den Rain und lief dem Wald zu.“

Sternschnuppen fängt man nicht“ – so der poetische Titel des Buches von Jan Flieger, das erstmals 1987 ebenso wie vier Jahre zuvor der Lea-Roman von Dorothea Iser ebenfalls im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik Berlin erschien: Ein Matrose, der auf einem Raketenschnellboot der Volksmarine dient, bekommt einen Abschiedsbrief von seinem Mädchen. Mareike, so heißt das Mädchen, das er liebt, schreibt ihm, dass er sie vergessen solle und dass sie ihren Polterabend mit einem anderen feiern wird. Doch das will sich Brinkmann nicht gefallen lassen. Er bittet um außerplanmäßigen Urlaub und begibt sich auf die lange Reise von der Küste bis zu Mareike und zu diesem Polterabend. Fast verpasst er den Termin, aber dann steht er in dem Saal, wo der Polterabend schon im Gange ist, sieht Mareike und sieht den anderen …

Sternschnuppen aber fängt man nicht, heißt es. Zunächst aber sind wir noch auf dem Schnellboot der Volksmarine und schon bald in einer heftigen Diskussion darüber, was Frauen wollen:

 

Mädchen

1. Kapitel

Brinkmann blickte auf das Meer, auf die rollenden Berge mit den Schaumköpfen. Grauweiß wird die See gepeitscht vom Sturm. Das Wasser schäumt auf am Bug, und ein breiter weißer Schaumstreifen bleibt zurück hinter dem Boot.

Weiter!

Wogen überschwemmen die Back.

Das Boot fliegt dem Wind entgegen.

Hellwach steht Brinkmann, unter ihm wiegt sich das Boot.

Und wieder Handsteuerung bei einer Kursänderung. Brinkmann kennt das Boot, fühlt sich verwachsen mit ihm, er weiß, wenn er das Handrad hält, dass es nur ihm gehorcht. Das ist ein gewaltiges Gefühl.

Lärmend prallt die See heran.

Wolkenberge türmen sich am Horizont wie ein Gebirge, weiße Wolken, graue Wolken.

Weiter!

Das Meer dröhnt.

Neue Wellen, neuer Wind ...

Und die See wirft den weißen Gischt hoch. Brinkmann fühlt die Augen Wenigers auf sich ruhen. Dann vernimmt er die Meldung von unten. „Backbord zehn drei Schnellläufer!“

Und er hört die aufgeregte Stimme von Fingerloos: „Steuerbord fünfzehn drei Fahrzeuge über fünfundvierzig Meter!“

Näher und näher kommen die Schnellläufer, Boote der Bundesmarine. Sie umkreisen so dicht ihr Boot, dass Brinkmann die Gesichter auf den Schnellläufern erkennen kann.

Und ein Boot jagt in tödlicher Nähe vorbei, wühlt das Wasser auf, sodass Brecher die Back überschütten.

Sie provozieren, denkt Brinkmann. Mit höchster Fahrstufe auf Kollisionskurs, Wahnsinn!

In Wenigers Gesicht ist keine Regung zu erkennen.

Die Schnellläufer jagen davon, werden kleiner, verschwinden am Horizont.

Nachdenkliches Schweigen folgt. Selbst von Fingerloos kommt kein spöttisches Wort. Zu nahe war die Gefahr.

2. Kapitel

Brinkmann starrt zu Weniger hinüber. Was ist dieser Kapitänleutnant für ihn?

Vorgesetzter?

Freund?

Eine Mischung von beidem, an die er nie geglaubt hätte?

Wer weiß das ....

Brinkmann wendet sich um.

Fingerloos steht neben dem Mast und blickt durch das Doppelglas. Er wirkt wie erstarrt. Hinter der Visiersäule hebt Old Marx kurz die rechte Hand, als er Brinkmanns Blick bemerkt.

Und Knochenhauer? Der kauert in seinem Sitz, gähnt.

Sie alle, die Matrosen auf der Außenbrücke und die unter Deck, ahnen, woran Brinkmann denkt. Sie haben ihm von der Fahrt abgeraten oder ihn in seinem Vorhaben bestärkt.

Bangen sie wirklich mit mir? fragt sich Brinkmann. Von Bodendieck glaubt er es zu wissen, Moritz ist eine ehrliche Haut. Auch Old Marx. Und Knochenhauer hat für diesen Ausnahmefall seinen Kurzurlaub angeboten. Wer tut das schon? Nur Fingerloos hatte ihn in der Kammer spöttisch angeblickt. „Du willst sie von einem Polterabend wegholen? Mann, bist du naiv. So etwas geht nur in Büchern gut, und die schreiben weltfremde Schriftsteller ...“

Aber Brinkmann kennt Fingerloos zu gut. Seine Worte wirken wie Pfeile, sind aber oft nicht so gemeint. Irgendein Mädchen muss ihn enttäuscht haben. Brinkmann erinnert sich an den Tag, an dem sie alle als frischgebackene Obermatrosen von der Flottenschule „ihre“ Kammer des Wohnschiffs betreten hatten, an dem die vier Schnellboote der Abteilung lagen ...

Bodendieck schleppte als erster seinen Seesack in die Kammer, wies sofort auf die untere Koje neben dem Fenster. „Das ist meine. Keine Diskussion. Die gehört Bodendieck“. Old Marx warf seinen Seesack auf die mittlere untere Koje. „Hier ist ein guter Platz.“ Knochenhauer stimmte ihm nickend zu, wies auf die Koje über ihm, noch ehe Brinkmann sie belegen konnte. Aber sein schüchterner Blick ließ erkennen, dass er Brinkmann die Koje abtreten würde, wenn der sie wollte. Brinkmann nahm die Koje über Bodendieck. Die war gut. Und nahe an der frischen Luft.

Fingerloos blickte spöttisch, nahm endlich die letzte Koje, die übrig blieb, die Koje neben dem Schott, die untere. Betont lässig stand er da ... „Ist die Kindervorstellung vorbei, Leute?“

Nächte waren gefolgt, in denen sie oft stundenlang geredet hatten. Und manch Eigenartiges ist gesagt worden, an das sich Brinkmann gut erinnern kann. Etwa die Worte Bodendiecks: „Es fällt mir schwer, Leute, angekündigte freudige Ereignisse in Ruhe abzuwarten. Ich kann das einfach nicht. Als Kind buddelte ich die Bohnen, die ich in das Beet gelegt hatte, wieder aus, weil ich nachsehen wollte, ob sie schon keimten. So ist das geblieben.“

Oder Old Marx: „Mein Vater konnte richtig weinen bei einem guten Film. Das finde ich stark, unheimlich stark. Seine Gefühle muss man zeigen können. Er ist früh gestorben. Viel zu früh. Und meine Mutter wurde Schichtarbeiterin. Wegen des Verdienstes. Und wir waren zu fünft, Leute. Ich musste so eine Art Vater werden. Und sie hat uns alle groß gekriegt. Vor so einer Frau ziehst du noch im Schlaf den Hut.“

Und die spöttische Antwort von Fingerloos: „Du trägst ja keinen. Noch nicht mal ein Käppi. Dann hast du ihn ja nie gezogen.“ Da ist es still geworden in der Kammer. Sehr still. Würde Old Marx, der bärenstarke Old Marx, nun endlich losgehen auf diesen ewig spottenden Fingerloos? Aber Old Marx, das wussten sie bald, war der beherrschteste von allen.

Fingerloos war der einzige, der wenig über sich erzählte, er sprach fast nur von seinem Berufswunsch. Und doch, an Bord ist Fingerloos immer verlässlich, da ist er ein Kumpel, der sich selbst nicht schont. Zwei Seiten hat dieser Fingerloos. Was hatte er über die Liebe gesagt? „Die große Liebe, Leute, gibt es nur in Büchern oder Filmen. Was ihr kennenlernt, ist die schäbige Wirklichkeit.“

Wodurch war er nur so verbittert geworden? Auch über Mareike hatte er sich abfällig geäußert. „An den Wochenenden mit dir, Brinkmann, und werktags mit einem anderen. Die Quittung hast du jetzt.“

Im Spind von Fingerloos hängt ein Text von Bob Dylan: „So bin ich nicht, Mädchen.“

Es war ein Lied, das Brinkmann sehr berührte, aber mit seinem Helden konnte er sich nicht identifizieren, in keiner Weise.

Geh weg da vom Fenster,
Hau ab, so schnell es geht.
Ich bin nicht der, den du brauchst,
Ein Mann, der dich versteht.
Du sagst, du suchst einen,
Der dir recht gibt und dich schützt,
Der nie schwach, der immer stark ist,
Der dich liebt und der dir nützt.
Tritt er vor, dann öffnet sich jedes Tor —
Ich bin nicht so, Mädchen,
Nein, nein, nein, ich bin nicht so, Mädchen,
Ich bin der nicht, den du suchst.
Geh weg von dieser Brüstung,
Verschwind mit leichtem Sinn.
Ich bin nicht der, den du brauchst, Mädchen,
Das haut mit mir nicht hin.
Du sagst, du suchst den einen,
Der dir schwört, dass er ewig bleibt,
Einen, der sich für dich blind stellt,
Den es nie zu ändern treibt,
Der eher verdirbt und für dich stirbt —
Ich bin nicht so, Mädchen,
Nein, nein, nein, ich bin nicht so, Mädchen,
Ich bin der nicht, den du suchst,
Werd wieder Teil der Nacht, Mädchen,
In mir ist alles wie Stein.
Es rührt sich nichts zu dir hin.
Ich fühl mich auch nicht allein.
Du sagst, du suchst den einen,
Wo du fällst, und er hebt dich auf,
Der jeden Tag mit Blumen antrabt.
Wenn du rufst, dann hört er drauf.
Den Vulkan fürs ganze Leben
Neben dir.
Ich bin nicht so, Mädchen,
Nein, nein, nein, ich bin nicht so, Mädchen
Ich bin der nicht, den du suchst.

Fühlt sich Fingerloos als „Held“ dieses Liedes? Wird er so sein? Was ist das für eine Lebensphilosophie? Eine gute gewiss nicht.

Aber gibt nicht das Verhalten Mareikes diesem Fingerloos recht?

Mareike ...

Der Held des Liedes würde nie zu diesem Polterabend fahren. Nie. Nur war diese Haltung nachahmenswert? Um ein Mädchen wie Mareike musste man kämpfen.

Wie tief habe ich eigentlich je über ein Mädchen nachgedacht, mit dem ich gegangen bin? Habe ich es nie getan, habe ich immer nur für den Augenblick gelebt und erst bei Mareike ein so starkes Gefühl gespürt und sie doch nicht „ausgelotet“, wie es Moritz empfohlen hatte?

Und plötzlich, bei dem Gedanken an Bodendieck, denkt Brinkmann an das Gespräch in der Kammer ihres Wohnschiffs ...

Sie sind zu fünft: Old Marx, Knochenhauer, Fingerloos, Bodendieck und Brinkmann. Und das Gespräch dreht sich um Mädchen.

„An die heutigen Frauen“, sagt Bodendieck, „müsst ihr wissenschaftlich herangehen.“

Fingerloos zieht die Augenbrauen hoch. „Jetzt wird es intellektuell.“

„Kann ich euch beweisen“, fährt Bodendieck fort. „Schriftlich. Lese ich gerade.“

Er zieht unter seinem Kopfkissen eine Broschüre hervor und hält sie hoch. „Junge Frauen von heute. Wie sie sind — was sie wollen. Leute, hier steht alles drin, was ihr wissen müsst. Vom Partnerleitbild bis zum Orgasmus.“

„Was für ein Bild?“, fragt Old Marx vorsichtig und blickt etwas ratlos.

„Partnerleitbild, Old Marx. So, wie sich ein Mädchen den künftigen Ehemann vorstellt. Etwa dich, du Dösbattel. Oder dich, Stängel. So will dich deine Simone. Oder sie gibt dir mal den Laufpass.“

Knochenhauer blickt erschrocken.

„Du gehst einem auf den Geist, Moritz“, wirft Fingerloos ein.

„Sag es schon“, kommt es leise von Knochenhauer, der seine Stiefel putzt. „Wie ist das mit diesem ... Leitbild?“

Bodendieck blättert in der Broschüre, und die blonde Locke tanzt auf seiner Stirn.

„Also“, beginnt er. „Hier steht es, was die Mädchen für Partnereigenschaften erwarten:

Gleiche Freizeitinteressen: dreiundsiebzig Prozent.

Streben nach Weiterbildung: dreiundsiebzig Prozent

Hohe Leistungen im Beruf: einundsiebzig Prozent

Interesse für die Berufsprobleme des Partners: siebzig Prozent

Intelligenz: neunundsechzig Prozent.

Da könnt ihr euch selbst ausrechnen, wie eure Chancen stehen.“

Knochenhauer unterbricht seine Arbeit, blickt verdutzt: „Mannomann.“

Bodendieck mustert Old Marx.

„Was erwartest du so von deiner Künftigen? Na, so als Mann?“

Old Marx kratzt sich den Hinterkopf. „Tja ... Häuslichkeit ..., sie muss gut aussehen, wirtschaften können. Sie ...“

Bodendieck grinst. „Genau, mein Lieber. Steht so hier. Du bist keine Ausnahme. Das müssen Hunderte gesagt haben. Frauen blicken da etwas tiefer. Hier steht: Es ist nicht prinzipiell negativ zu werten, dass neun von zehn Männern von ihrer Ehefrau erwarten, dass sie sich um die Hausarbeit kümmert und wirtschaften kann. Probleme können aber dadurch entstehen, dass diese Eigenschaften nicht in gleich hohem Maße für den Ehemann zur Norm erhoben werden. Die Bereitschaft des Mannes, in der jungen Ehe häusliche Arbeiten im Sinne einer gerechten Arbeitsteilung zu übernehmen, ist allgemein von großer Bedeutung für die Ehegestaltung und die Entwicklung der Partnerbeziehungen.“

„So etwas schreiben immer frigide Emanzen“, wirft Fingerloos ein.

Knochenhauer reibt mit großer Intensität weiter auf einem Stiefel herum.

„Hast bald ein Loch drin“, brummt Old Marx. „Das Buch von Moritz gibt zu denken, Leute. Ehrlich.“

„Mir kommen die Tränen“, witzelt Fingerloos. „Der Großwildjäger Moritz geruht, uns seinen Erfahrungsschatz preiszugeben.“

„Dösbattel“, erwidert Bodendieck. „Arroganter Dösbattel. Absoluter Dösbattel hoch sechs. Ich bin kein Großwildjäger! Ich habe ein festes Mädchen. Ein treues.“ Er streicht sich wütend die Haarlocke aus der Stirn. „Du kannst sowieso bloß eine Bohrspindel lieben. Dich lässt jede wieder laufen.“

„Oder ich sie“, antwortet Fingerloos.

Wieder hält Bodendieck das Büchlein hoch. „Ihr könnt noch mehr lernen, Freunde. Ich denke da mal an die sexuelle Zufriedenheit mit dem Partner. Hier steht eindeutig, dass sich viele Frauen über mangelndes zärtliches Einstimmen auf die sexuelle Begegnung durch den Partner beklagen. Er komme zu schnell zur <Sache selbst> und wende sich nach dem Geschlechtsverkehr zu schnell wieder ab, ohne die Vereinigung zärtlich ausklingen zu lassen. Ich möchte ja nicht rumfragen. Ich hab den Grund hier unterstrichen: Meist sind Unwissenheit über den Ablauf der sexuellen Erregung der Frau, unzureichende oder fehlende Stimulierung im Vorspiel wesentliche Gründe für sexuelle Unzufriedenheit der jungen Frau.“

Knochenhauer hat die Stiefel auf den Boden gestellt und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Eine schwarze Spur bleibt zurück.

Bodendieck grinst. „Denkst an Simone, was? Also, Freunde, gleich noch was. Hier steht etwas ganz Wichtiges! In enger Beziehung zur sexuellen Übereinstimmung steht auch die Tatsache, ob und in welchem Umfang der junge Mann häusliche Arbeiten übernimmt. Wenn ich da mal so in die Runde sehe. Die jungen Frauen nämlich, Leute, die die Hausarbeit gemeinsam mit ihrem Mann erledigen, haben deutlich weniger sexuelle Probleme als die, auf denen die Hauptlast der Hausarbeit liegt. Ist erwiesen. Tausende Befragungen.“

„Mannomann“, entfährt es Knochenhauer. „Wo gibt’s das Buch?“

Bodendieck lächelt geschmeichelt. „Unter dem Ladentisch. Aber weiter: Wie gehören Liebe und Sexualität zusammen. Ich zitiere wieder: Sexualität darf nicht auf den reinen körperlichen Lustgewinn reduziert werden. Der überdauert den Augenblick nicht. Sie muss eingebettet sein in eine die gesamte Persönlichkeit des anderen umfassende Zuneigung zwischen den Partnern — eben die Liebe.“

„Rührend“, ruft Fingerloos. „Wirklich rührend. Wo ist denn mein Taschentuch?“

„Es geht weiter, Leute“, sagt Bodendieck. „Da haben diese Jugendforscher unendlich viele Jugendliche befragt, ob man nur dann mit einem Partner schlafen solle, wenn man ihn liebe. Jetzt werdet ihr staunen. Ehrlich. Achtzig Prozent der jungen Frauen stimmten dieser Meinung zu. Und nur vierzig Prozent der jungen Männer.“

Fingerloos kontert erneut. „Das ist nichts anderes als ein Überbleibsel der doppelten bürgerlichen Moralauffassung. Ist einfach zu erklären. Hör doch auf mit deiner Bibel.“

Bodendieck winkt ab. „Wisst ihr, was hier steht? Vierzig Prozent der männlichen Jugendlichen meinen, Frauen sollen treu sein, bei Männern wäre das nicht erforderlich.“

Fingerloos verschränkt die Arme vor der Brust. „Na, Professor Bodendieck, und wie spricht dein schlaues Buch über die Scheidungen? Oder übergeht es diese Tatsache? Ein Jahr Ehe, und schon ist die große Liebe vorbei.“

Bodendieck beginnt wieder zu blättern. „Alles da, ihr Decksgärtner. Hier steht: Die gestiegene Anzahl von Scheidungsanträgen ist in erster Linie ein Ausdruck gestiegener Ansprüche und Erwartungen an partnerverbindende Verhaltensweisen, die sich nicht erfüllt haben. Klartext: Die Frau stellt bei uns meistens den Antrag auf Scheidung, weil sie nicht mehr abhängig ist vom Mann. Sie ist selbstbewusst, hat berufliche Erfolge und ein größeres Durchsetzungsvermögen als früher. Sie löst sich von dem Partner, der ihr nicht entspricht. Früher hat sie es nur nicht gekonnt. Sonst hätte es genauso viele Scheidungen gegeben wie heute. Das ist die Erklärung.“

„Ich sehe sie direkt vor mir, den Moritz und seine Renate“, spottet Fingerloos. „Sie schlafen nicht etwa zusammen, nein, sie sitzen im Bett und lesen gemeinsam in dieser Broschüre. Eine Idylle.“

Bodendieck knallt das Buch auf das Kopfkissen in seiner Koje und geht plötzlich mit geballten Fäusten auf Fingerloos zu. Aber Old Marx steht sofort zwischen ihnen. „Wer wird denn“, brummt er besänftigend. „So ein Gespräch muss einem runtergehen wie Himbeereis mit Sahne. Meine Meinung.“

 

In der Nacht hatte die Alarmklingel des Wohnschiffs für die Schnellbootabteilung um drei Uhr dreißig geschrillt. Sie waren aus den Kojen gesprungen, hatten zu den Bordpäckchen gegriffen, sich in Windeseile angezogen und waren auf ihr Boot gelaufen. Als Brinkmann achtern den schmalen Steuerbordgang betrat, war Fingerloos bereits dabei, alle Schotten, Lüfter und Luken zu verschließen.“

 

Erstmals 1984 erschien im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar der Roman „Die Neigung“ von Uwe Berger: Wie ist das mit der Schweigepflicht? Ich hab immer gedacht, sie bezieht sich auf das, was der Patient dem Arzt anvertraut. Gilt sie denn auch für das, was ein Arzt am Patienten versäumt?Die Frage und ihre Beantwortung im Interesse des Kranken ist ein Grundproblem in Uwe Bergers Roman „Die Neigung“. Der Kampf einer jungen Ärztin um gesittetes Verhalten in einem Krankenhaus, einem komplizierten Umfeld, führt zwei Menschen näher zusammen, die Ärztin Baum und den Fahrer Kusmin. Er bestärkt sie, gibt ihr Halt und Format. Der Unterschied in Bildung und Lebensgewohnheiten wird angesichts der Situation bedeutungslos. Das Problem der sozialen Unterschiede jedoch bleibt und führt in die jüngste Vergangenheit, in der es ebenfalls um engagiertes Denken und entschlossenes Handeln ging. Auch hier der Anfang dieses spannenden, wichtige Lebensfragen aufgreifenden Buches:

 

„Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste …

Hölderlin

1. Kapitel

Der Kombinatsdirektor Karpenstein war mit seinem Wagen auf der Fahrt nach außerhalb am frühen Morgen verunglückt. Übernächtig hatte er beim Überholen den im Nebel entgegenkommenden blauen Lada zu spät bemerkt. Es gab trotz beiderseitiger Bremsmanöver einen Zusammenstoß. Die Volkspolizei verständigte Rettungsamt und Kombinat. Karpensteins Fahrer Kusmin, der nicht weit entfernt vom Unfallort wohnte und angerufen wurde, traf noch vor dem Schnellhilfewagen bei den Verunglückten ein. Ohne lange zu überlegen, lud er seinen Chef und den Fahrer des Lada, die notdürftig verbunden auf Decken lagen, in sein Auto und jagte zum nächsten Krankenhaus. Die Verletzten schaukelten in den Polstern hin und her.

Die diensttuende Ärztin von der Rettungsstelle fuhr Kusmin hart an. Ob er schon mal was vom Schock gehört habe. Schockpatienten dürften gar nicht oder müssten wenigstens liegend transponiert werden. Es wäre besser gewesen, auf den Schnellhilfewagen zu warten.

Verlegen stand Kusmin am Wagen, in den sie sich hineinbeugte. „Ich dachte, es ginge um Schnelligkeit“, sagte er. „Außerdem war ja noch ein Schwerverletzter da, nicht wahr ...“

Die schmale Ärztin mit dem glatten Haar richtete sich auf. „Reden Sie nicht! Fassen Sie lieber mit an. Der eine kann gehen, wenn wir ihn stützen. Den anderen müssen wir mit der Trage holen.“

Jetzt, da es ums Praktische ging, war Kusmin in seinem Element. Welcher es sei, der gehen könne, fragte er. Es war der Fahrer des Lada. Sie solle ihn das machen lassen. Er half ihm heraus. Der Mann hatte eine Kopf- und eine Knieverletzung, er legte Kusmin und der Ärztin die Arme auf die Schultern. Zu dritt gingen sie langsam ins Haus.

Im Zimmer ließ sie den Patienten sich hinlegen und sah sich suchend um. „Wo ist denn Schwester Beate? Immer, wenn man sie braucht, ist sie nicht da ...“

„Kann ich helfen?“

„Nehmen Sie die Gondel, die vor der Tür steht.“

„Die ... was?“

„Na, diese fahrbare Trage ... und schaffen Sie sie zum Auto. Warten Sie, bis ich komme.“

Sie griff zum Hörer.

Er fuhr die Gondel hinaus, nahm seinen stöhnenden Chef auf die Arme und legte ihn behutsam darauf. Als er ihn fortschob, kam die Ärztin ihnen entgegen.

„Meine Anordnungen können Sie auch nicht befolgen“, sagte sie. Aber es klang mild.

Er unterdrückte ein Lächeln, das ihm in der Situation unpassend erschien. Irgendwie tat es ihm wohl, sich zusammen mit dieser zierlichen Frau um Karpenstein und den anderen kümmern zu können. Kusmin hing an seinem Chef, mit dem er auf du und du stand, ohne dass sie das ihre unterschiedlichen Aufgaben hätte vergessen lassen. Er dauerte ihn sehr, wie er so dalag.

Gleichzeitig hatte er ein ihm eigentlich unbegreifliches Vertrauen zu der Ärztin, die tatkräftig und umsichtig handelte.

„Was nun?“, fragte er sie. „Wann kann ich erfahren, wie es um meinen Chef steht?“

„Die Chirurgen sehen sich jetzt die Verletzten an, ich werde dabei sein. Sie könnten inzwischen Ihre Personalien hinterlassen.“

„Darf ich mich dann bei Ihnen erkundigen? Wie ist Ihr Name?“

„Baum. Eigentlich geben wir Fremden keine Auskunft. Vielleicht kennen Sie Name, Anschrift und Telefon von Angehörigen.“

„Ich heiße Kusmin und bin der persönliche Fahrer des Generaldirektors Karpenstein. Ich werde Sie fragen …“

„Hm.“

Sie waren vor der Rettungsstelle angelangt. Dort hatte inzwischen Schwester Beate, eine kräftige, nicht mehr junge Frau, den anderen Verletzten in einen Rollstuhl gesetzt.

„Zum kleinen OP?“, fragte sie.

Die Ärztin nickte. Die Schwester schob den Rollstuhl aus der Tür und fuhr los. Kusmin mit seiner Gondel hinterher. Am Operationstrakt hielt die Schwester an, drehte sich um und wies Kusmin mit einer Handbewegung fort. Er kam nicht dazu, sich zu ärgern, denn die Ärztin entschuldigte sich mit einem Lächeln bei ihm.

Allein stand er auf dem Gang.

Die Aufregung der vergangenen halben Stunde klang in ihm nach. Wie hatte Karpenstein das alles nur passieren können? Es würde sich herausstellen. Das Wichtigste war, dass er überlebte. Mit einer gewissen Beschämung gestand sich Kusmin ein, dass ihm auch die Ärztin in diesem Augenblick nicht ohne Bedeutung war. Es überraschte ihn, wie mühelos und leicht er mit ihr sprechen konnte, er, der sonst Frauen gegenüber gehemmt war. Er blieb vor ihr der, der er war, musste sich nicht verstellen - das hatte er bisher kaum an sich gekannt. Vielleicht lag es an der außergewöhnlichen Situation, in der es um einen Dritten ging. Oder daran, dass es etwas zu tun, etwas mit den Händen zu schaffen gab. Oder an seiner Aufregung. Er wusste es nicht.

Kusmin ging zur Rettungsstelle, in der Schwester Beate erschienen war, machte seine Angaben und setzte sich vor die Tür. Nach einigen Minuten ging er zur Telefonzelle und meldete dem Genossen Gugisch, seinem Parteisekretär, dass er „Karpenstein lebendig abgeliefert“ habe, aber sonst noch nichts wisse. Insgeheim hatte er Sorge, Gugisch könne ihn zurückbeordern. Doch dieser war sehr betroffen und bedankte sich nur. Kusmin hatte vor, zu warten. Die Doktorin würde ihm Auskunft geben. Und er wollte sie noch einmal sehen.

Endlich kam sie den Flur entlang. Mit schnellen Schritten näherte sie sich. Er stand auf.

„Wie steht es, Frau Doktor?“

„Er wird überleben. Mehr kann ich nicht sagen.“

„Das genügt doch“, rief er mit ausbrechender Fröhlichkeit. Am liebsten hätte er sie umfasst und herumgeschwenkt. Aber er fügte nur hinzu: „Ich danke Ihnen.“

„Wofür“, sagte sie und wandte sich einer alten Frau zu, die, blass auf einer Gondel liegend, soeben herangefahren wurde.

„Nun, was fehlt Ihnen denn?“, sprach sie sie an.

Der warme und wie von Schmerz ein wenig brüchige Klang ihrer Stimme bewegte Kusmin. Nie war er sentimental gewesen. Was geschah mit ihm? Da er ganz offensichtlich nicht mehr gebraucht wurde, sagte er: „Auf Wiedersehen. Ich ruf noch mal an.“ Und ging. Dabei dachte er: Warum hab ich gesagt, dass ich noch mal anrufe? Ich habe doch gar kein Recht dazu. Ach, was. Ich tu’s.

Helga Baum, nachdem sie die alte Frau untersucht und eingewiesen hatte, erinnerte sich mit leichtem Verwundern an den Fahrer. Ein sonderbarer Mensch, dachte sie, er sieht gut aus. Scheint sich mit seinem Chef zu verstehen.

Und wieder, ehe sie Zeit gefunden hatte, etwas zu essen, wurde ihre Hilfe verlangt.

Am Nachmittag des folgenden Tages rief er bei ihr in der Rettungsstelle an. „Walter Kusmin“, meldete er sich. „Ich weiß, dass Sie mir nichts über Karpenstein sagen können. Er liegt auf der Station, und wir haben schon von ihm gehört ... Ich möchte Sie fragen, ob ich Sie mal persönlich sprechen kann, ob Sie eine Stunde Zeit für mich haben …“

Stille.

Jetzt ist es raus, dachte er. Ein Glück, dass es das Telefon gibt.

Helga schwankte. Eine gewisse Neugier trieb sie, gegen ihren Willen zu fragen: „Wann?“ Du meine Güte, dachte sie, da fang ich etwas an.

Sie trafen sich am Sonntagnachmittag am Bahnhof Friedrichstraße. Es war noch winterlich kalt. Den Rand des Gehweges bedeckte ein schmutzig brauner Eispanzer. Die Menschen trugen Anoraks, Felljacken und Pelzmützen und hatten es, wie immer in dieser Gegend, eilig. Über der Spree und ihren gemauerten Ufern segelten leise kreischend die Möwen.

Auf Helgas Wunsch gingen sie ins Pergamonmuseum.

Vor den säulenhaften vorderasiatischen Standbildern des ersten Saales verweilten sie nicht lange. Beim Ischtartor sagte Walter: „Solche glasierten Ziegel gibt es auch in den alten Moscheen und Mausoleen Mittelasiens.“

Sie sah ihn erstaunt an. „Waren Sie dort?“

„Ja.“

An der großen Freitreppe des Pergamonaltars bemerkte sie: „Vielleicht konnte sich hier ein Mensch der alten Zeit innerlich befreit und erhoben fühlen, und er ist zu den Göttern emporgestiegen und dabei doch zu den Menschen gelangt.“

„Die innere Befreiung ist ein Selbstbetrug.“

„Nicht immer. Manchmal kann sie nützlich sein. In der Medizin zum Beispiel, als Suggestion oder Autosuggestion. In der klassischen Kunst ist sie kein Selbstbetrug, sondern das Ideal vom Menschen. Und dieses Ideal muss nicht immer in vollem Widerspruch zur Wirklichkeit stehen. Revolutionen suchen es zu verwirklichen und nähern sich ihm. Scheint das Ziel erreicht, rückt es weiter und führt die Menschen durch die nächste Etappe. Ohne das Ziel, das Ideal, die rote Fahne gehen die Menschen in die Irre, zerfleischen sie sich, herrscht das Chaos.“ Sie sprach schnell und ohne sich länger zu besinnen. Dadurch wurde das Dozierende ihrer Worte gemildert.

„In der Antike gab es noch keine rote Fahne.“

„Es gab Spartakus, es gab das Prinzip des Menschlichen, an das wir anknüpfen.

„Sie wissen immer eine Antwort.“ In der Anerkennung schwang ein wenig gutmütige Ironie mit.

Walter war froh, mit ihr sprechen und überhaupt mit ihr hier, bei den Bauten der Vergangenheit, sein zu können. Doch nun stockte das Gespräch. Er wusste nicht weiter. Das Markttor von Milet gefiel ihm nicht. Die Säulen erschienen ihm sinnlos. Wozu benötigte ein Markt ein solches Tor? Vielleicht gehörte es auch nicht in diesen engen, dämmerigen Raum, sondern brauchte Sonnenlicht, Weite und Meer, um schön zu sein. Andererseits konnte er sich vorstellen, dass nur die Begeisterung von Altertumsforschern, Kunsthistorikern und Museumsleuten so etwas für schön erklärte und dass es keiner wagte, eine andere Meinung zu haben.

„Ich weiß nicht“, sagte er, „das hier ist doch kein Bauwerk, sondern nur ein protziger Schmuck, der Bauwerke nachäfft, was Leeres ...“

„Wirklich, Sie haben recht!“ Sie war heute zum zweiten Mal überrascht.

Walter war ihr dankbar, dass sie ihn mit Wissen nicht verunsicherte, sondern ihm half. Und plötzlich begriff er, dass sie ein Mensch war, der Wärme und Güte brauchte.

„Kommen Sie“, bat er und fasste sie vorsichtig ein wenig am Ellenbogen, „wir sehen uns noch die Figuren an.“

Schweigend standen sie im lichterfüllten nächsten Raum vor der Göttin aus Attika. Schließlich ging er um die Statue herum. „Von vorn sieht sie am besten aus. Geheimnisvoll. Warum lächelt sie?“

„Man weiß es nicht. Man spricht vom archaischen Lächeln, weil es bei anderen Plastiken dieser frühen Zeit wiederkehrt. Es ist hier ein ernstes, fast trauriges Lächeln - vielleicht ein Symbol für Güte und Freundlichkeit. Doch lächelt da schon ein lebendiger Mensch mit eigenwilligen Zügen, zu Stein erstarrt ..."

Und Walter sah, auch sie zog die Mundwinkel nach oben beim Lächeln, auch sie hatte ein langes, schmales Gesicht. Vielleicht nur eine entfernte Ähnlichkeit, aber doch ... Er hatte nicht den Mut, es ihr zu sagen. Am Ende meinte sie, er schmeichele ihr.

Aber er fragte: „Was denken Sie? Sie haben eben auch so gelächelt.“

„Ach, nichts weiter ... Nur, was ich gesagt habe.“

„Und was hält die steinerne Göttin in der Hand?“

„Einen Granatapfel.“

„Was bedeutet der?“

„Er symbolisiert die Fruchtbarkeit.“

„Nun weiß ich eine Menge ... Wollen wir was essen gehen?“

Sie fühlte sich aus der Stimmung gerissen und fragte erstaunt: „Haben Sie solchen Hunger?“

„Ja“, sagte er trocken. „Ich bin für was Nahrhaftes nach so viel Stein.“

„Wenn ich aber gern noch bliebe und mit Ihnen überhaupt nicht essen gehen will?“

„Dann bleib ich eben auch. Lieber hungrig bei Ihnen als ohne Sie satt sein.“

Sie musste lachen, besah noch einiges und verließ dann mit ihm, ohne einen Blick in den Raum mit den römischen Kopien zu werfen, das Museum.

„Sie müssen wissen“, erklärte sie im Hinausgehen, „ich habe kurze Zeit Kunstgeschichte studiert und dann auf Medizin umgesattelt.“

„Warum?“

„Ich wollte mich nicht vorwiegend mit der Wirklichkeit der Kunst, sondern mit der Wirklichkeit selbst beschäftigen, ich wollte dem Leben näher sein.“

„Das versteh ich. Das versteh ich sogar sehr gut.“

Im Operncafé saßen sie dann einander gegenüber. Helga betrachtete ihn. Er war schlank und hatte kräftige, vertrauenerweckende Hände. Er aß mit Appetit und ohne sich zu zieren. Angenehm berührt, dachte sie: Ich seh ihm gern dabei zu. Die schmatzenden Lippen meines geschiedenen Mannes widerten mich an.

„Warum sind Sie Kraftfahrer?“

„Eigentlich bin ich Monteur beim Anlagenbau. Aber ich hatte das Vagabundieren satt. Meine damalige Freundin wollte auch, dass ich damit aufhöre. Der Kombinatsdirektor brauchte einen Fahrer, und da sich gerade nichts anderes bot, bin ich’s geworden.“

„Die damalige Freundin ...?“

„Es hat nicht geklappt mit uns. Erst wollte sie nicht heiraten, weil ich dauernd unterwegs war, und dann wollte ich nicht, weil sie dauernd an mir herumerzog. Sie war Lehrerin und konnte das Korrigieren zu keiner Zeit und nirgendwo lassen - die armen Kinder, was die alles nicht durften. Sie sah in mir nicht ihren Partner, sondern ein Erziehungsobjekt, ein groß gewordenes Waisenkind, das ihre Lenkung brauchte. Sie hat dann einen Lehrer geheiratet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das mit den beiden gut geht.“

„Sie sind eine Waise?“

„Ja. Doch das ist eine lange Geschichte. Die erzähl ich ein andermal. Sind Sie Parteisekretär?“

„Nein. Wie kommen Sie darauf?“

„Weil Sie im Museum von der roten Fahne gesprochen haben.“

„Muss man Parteisekretär sein, um von der roten Fahne sprechen zu können?“

„Natürlich nicht.“

Walter war misstrauisch, auch sie könne ihn irgendwie erziehen wollen. Doch ihr gefiel er von Minute zu Minute besser.

Sie schwiegen.“

 

Werden die Ärztin und der Kraftfahrer zusammenfinden? Was meinen Sie? Lassen Sie sich überraschen. Immerhin geht es in diesem Buch wie auch in den anderen vier Sonderangeboten des heutigen Newsletters um wichtige Lebens- und Überlebensfragen – egal, ob die Handlung im Kosmos oder auf der Erde, in fernen Zeiten oder in nicht ganz so fernen, inzwischen lediglich ein paar Jahrzehnte von unserer Gegenwart entfernten Zeiten spielt, als es hierzulande noch eine Grenze und eine Volksmarine, pädagogische Institute zur Ausbildung von Kindergärtnerinnen oder Unterstufenlehrern sowie Parteisekretäre gab. Viel Spaß beim Lesen, weiter einen schönen Sommer und bis demnächst.

DDR-Autoren: Newsletter 23.08.2019 - Eine Katastrophe im Kosmos, Krieg gegen Außerirdische und was Männer und