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Eine Frau und zwei Männer im selben Zimmer, Jarosch tappt im Dunkeln und Nora Graf hat Angst - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 13.12. 2019) Wie schreibt man über Gefühle? Auf hervorragende Weise zeigt das die Psychologin und Schriftstellerin Helga Schubert im ersten der insgesamt fünf aktuellen Angebote dieser Ausgabe, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 13.12.19 – Freitag, 20.12.19) zu haben sind. „Über Gefühle reden“, so der genaue Titel ihres sehr persönlichen, nachdenklich stimmenden und vor allem vor voreiligen Ansichten und vorschnellen Antworten auf schwierige Fragen warnenden Buches. Es basiert auf Umfragen der in der DDR aus verschiedenen Gründen außerordentlich beliebten und nicht einfach zu bekommenden Zeitschrift „Das Magazin“. Die Betrachtungen von Helga Schubert sind es wert, gelesen zu werden – auch knapp fast vier Jahrzehnte nachdem sie geschrieben wurden.

In den nächsten drei Angeboten treffen die Leserinnen und Leser auf sehr unterschiedliche Kriminalisten und sehr unterschiedliche Fälle: In „Dann eben Mord“ lässt Jan Eik seinen erfahrenen Provinz-Kriminalisten Werner Jarosch in der zu Ende gehenden DDR zunächst im Dunkeln tappen.

Ihren ersten Schweriner Fall muss die junge Kriminalkommissarin Nora Graf in „Die Tote im Pfaffenteich“ von Christiane Baumann lösen – und dazu noch eine alte Angst besiegen.

Selbst als Pilger in Spanien bleibt Kriminalhauptkommissar Rasch von beruflichen Herausforderungen nicht verschont, wie Ulrich Hinse in seinem Templer-Krimi „Das Jakobsweg-Komplott“ zeigt. Offenbar soll Raschke als lästiger Zeuge beseitigt werden …

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Auch in dieser Woche geht es wieder um ein Stück deutscher Geschichte – in Afrika. Anfang des vergangenen Jahrhunderts wollte auch Deutschland Kolonialmacht sein und sich wie andere europäische Länder Macht, Einfluss und wirtschaftliche Vorteile sichern. Und für dieses Ziel schien jedes Mittel recht.

Erstmals 1989 veröffentlichte Dietmar Beetz als Band der Reihe „Spannend erzählt“ des Verlages Das Neue Berlin seinen Roman, „Flucht vom Waterberg“, der inhaltlich, zeitlich und personell an sein bereits 1978 ebenfalls beim Verlag Neues Berlin erschienenes Buch „Späher der Witbooi-Krieger“ anschließt: Es ist August 1904 in Deutsch-Südwestafrika, dem Land zwischen den Flüssen Oranje und Kunene, zwischen Atlantik und Kalahari. Die Kolonialtruppen des deutschen Kaisers, der seit knapp einem Jahrzehnt dieses Land als Kolonie beansprucht, bewegen sich zu den Südhängen des Waterberges, zur Entscheidungsschlacht gegen das Volk der aufständischen Herero. Nach Monaten erbitterten Kampfes haben sich Zehntausende zu dem rostroten Felsmassiv zurückgezogen, in der Hoffnung auf Wasser. Ihnen bleibt, wenn sie weiter in die Wüste jenseits des Berges getrieben werden, nur der Tod des Verdurstens. Pieter Koopgaard, durch Geburt zwischen den Rassen stehend und unfreiwillig Söldner in deutschen Diensten, weiß, dass er sich entscheiden muss. Omutima, die Frau, die er liebt, ist eine Herero. Er muss zu ihr, muss fliehen ...

Aber Koopgaard war vor Jahren Späher der Witbooi-Krieger im Kampf gegen die Deutschen. Und noch immer, lange schon ohne Nachricht, glaubt er an den Auftrag von Hendrik, dem legendären Führer des Stammes. Also bleiben und warten ...

Doch da ist dieser Schwur, gegeben einem Weihepriester der Herero, bei jener Zeremonie. Koopgaard fühlt sich zerrissen und zwischen den Fronten. Was soll er tun? Und dann wird er hineingezogen in einen Strudel unvorstellbarer Ereignisse.

Dietmar Beetz schreibt über einen wenig bekannten Zeitabschnitt deutscher Kolonialgeschichte. Er erinnert daran, dass mit dem Völkermord an den Herero, 1904 in Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia), jenes Kapitel deutscher Perfektion und Gründlichkeit begann, das Jahrzehnte später seinen schrecklichen Höhepunkt finden sollte. Hier der Anfang des zweiten Kapitels:

„Die ersten Schüsse fallen auch für Pieter Koopgaard völlig überraschend.

Wenn das Feuer vorhin eröffnet worden wäre, auf die Patrouille, oder Stunden vorher, irgendwann im Dunkeln, auf die Kolonne ...

Die Reiter der Vorhut reagieren unterschiedlich beim Hall der Salve. Drei oder vier reißen, eh sie erfasst haben, was vor sich geht, den Karabiner aus dem Gewehrschuh; die anderen schrecken auf, stocken und starren aus müden, geweiteten Augen.

Koopgaard hat seinen Schecken unwillkürlich gezügelt. Nun duckt er sich auf den Rist des Pferdes und späht voraus und zu den Hängen.

Nichts, zumindest nichts Auffälliges. Und doch ist geschossen worden, und jetzt knallt es wieder. Mündungsfeuer - vorn und links, wo über dem Dornengestrüpp einzelne blassblaue Wölkchen schweben.

Schreie eines Verwundeten, Gewieher von Pferden, die steigen, die gewendet werden, die schrille Stimme des Leutnants.

„Vorwärts!“

Koopgaard glaubt erst, sich verhört zu haben, und auch die anderen Reiter, die noch im Sattel sitzen, knapp ein Dutzend, zögern, dem Befehl zu folgen.

„Abteilung, mir nach! Die Wasserstelle besetzen!“

Der Leutnant schlägt dabei auf sein Pferd, einen Schimmel, ein, traktiert das erschöpfte Tier mit den Stiefeln und dem Schaft des Karabiners, streckt, um den Befehl zu bekräftigen, den Arm mit der Waffe aus.

Im selben Moment kracht es wiederum, diesmal scheinbar von allen Seiten. Der Schimmel scheut; sein Reiter stößt einen Schrei aus, lässt den Karabiner fallen, stürzt.

Da ist Koopgaard bereits aus dem Sattel geglitten und hat den Schecken niedergezogen. Auch die anderen Reiter der Abteilung, Deutsche und Nama, sind in Deckung gegangen oder liegen verwundet am Boden. Die meisten ducken sich, von den Leibern ihrer Pferde geschützt, auf dem zerstampften, sandigen Weg und schießen.

Den Finger am Abzug, sucht Koopgaard die Hänge ab, rasch erst, noch mit der Hast eines Überrumpelten, dann bedächtiger. Entdecken kann er nach wie vor nichts; das Gestrüpp gegenüber, zwei, drei Steinwürfe entfernt, die Felsbrocken vorn in der Rinne und das Gesträuch weiter weg am anderen, sonnenbeschienenen Hang - alles liegt reglos und scheinbar friedlich unter dem hohen, tiefblauen Himmel.

Hier am Grund des Tals fallen nur noch vereinzelt Schüsse, aber nun wird hinten bei der Hauptmacht geschossen; im Staub, der die Senke füllt und sich in dichten, graugelben Wolken über der Kolonne ballt, kann Koopgaard Mündungsfeuer blitzen sehen.

Verdammt, denkt er, sie haben uns in der Falle. Wären wir zurückgegangen - oder wenigstens an einer besseren Stelle in Deckung ...

Der Leutnant liegt auf dem Rücken, das helle, von Schweiß verklebte Haar unbedeckt. Der graue Hut ist beiseite geflogen, der braune Uniformrock an der rechten Schulter blutig verfärbt, und über das schnurrbärtige Gesicht läuft ein Zucken.

Verwundet und ohnmächtig, sagt sich Koopgaard. So ein Dummkopf. Mit einer Handvoll erschöpfter Reiter eine Wasserstelle stürmen und besetzen zu wollen!

Kurz darauf verebbt der heftige Schusswechsel weiter hinten im Tal. Offenbar ist der erste Versuch der Kompanie, sich zur Vorhut durchzuschlagen, verhindert worden. Hier vorn werden in der aufkommenden Stille die Laute der Verwundeten vernehmbar.

Koopgaard glaubt auch den Leutnant stöhnen zu hören, und er richtet sich auf, um hinzulaufen und dem Verletzten zu helfen. Eine Bewegung seines Pferdes lässt ihn stocken - vielleicht seine Rettung; zwei, drei Kugeln schwirren über ihn hinweg, und Hoffmann, ein Unteroffizier, schreit: „Deckung, Bastard!“

Abermals werden die Schüsse erwidert, doch ist das Feuer nicht viel wirkungsvoller als vorher. Da und dort splittert es im Gestrüpp, oder es klatscht am graugelben, erdigen Hang. Ein Gegner lässt sich auch jetzt weder sehen noch hören.

„Zeigt euch, verdammte Kaffern!“, brüllt jemand.

Als Antwort - wiederum nur Schüsse aus dem graugrünen Gewirr.

Eine Kugel streift den Widerrist von Koopgaards Schecken, der wie unter einem Peitschenhieb aufspringt.

Verflucht! Sie haben uns festgespießt und lassen uns schmoren, denkt Koopgaard, während er über den heißen Sand aus dem Schussfeld kriecht, dem Pferd, das nur leicht verwundet ist, ein Stück hinterher. In der Nähe des Leutnants, der noch immer bewusstlos scheint, bleibt er in einer Kuhle liegen.

Es ist wieder still ringsum, sodass Koopgaard Stöhnen und Rufe nach Wasser hören kann, dazu einen Fluch, ein Wort in der Nama-Sprache. Die Herero haben also nicht nur den Leutnant getroffen, sondern auch einen Witbooi, vermutlich Elias.

Was, wenn jetzt er, tot oder verwundet, hier läge?

Koopgaard denkt an die Schlachten und Scharmützel gegen die Aufständischen, an denen er beteiligt war, daran, dass er nun schon seit elf Jahren in Uniform unterwegs ist - Jahre der Verstellung, der Angst, Jahre voller Schuldgefühle.

Wenn ihn nach all dem heute, bei diesem Geplänkel, eine Kugel erwischen würde ...“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1980 veröffentlichte Helga Schubert im Berliner Verlag ihr Buch „Über Gefühle reden? Umfragen aus der Zeitschrift ‚Das Magazin‘“: In diesem Buch finden sich sieben Texte, die sie nach sogenannten aktuellen Umfragen der Zeitschrift „Das Magazin“ geschrieben hatte. Diese Zeitschrift war in der DDR sehr beliebt und am Kiosk sofort weg, weil sie ein relativ unpolitisches, künstlerisch anspruchsvolles und erotisch freizügiges Profil hatte. Dazu gehörten auch die beliebten Aktuellen Umfragen. Weil sich Helga Schubert mit ihren Erzählungen schon einen Namen gemacht hatte und auch als Psychologin in einer Eheberatungsstelle arbeitete, sollte sie zu folgenden Themen schreiben: Wenn Liebe nicht erwidert wird. Kann man zwei Menschen lieben? Was halten Sie vom Beichten ? Wie reagieren Sie auf das Unglück eines anderen Menschen? Worin geben Sie klein bei? Wie gehen Sie mit Antipathien um? Über Gefühle reden? Herausgekommen ist ein sehr interessantes und gut zu lesendes Spektrum der Moralvorstellungen in der DDR abseits der Propaganda, das sich von heute wenig unterscheidet. Hier einer dieser spannenden Diskussionsbeiträge:

„Kann man zwei Menschen lieben?

„Ich liebe meinen Mann, sehe keinen Grund, mich von ihm scheiden zu lassen, und ich habe seit einiger Zeit einen Freund. Jeder der beiden Männer besteht darauf, dass ich mich für einen von ihnen entscheiden muss, da man in einer solchen Situation auf die Dauer nicht leben kann. Beide sagen auch, dass es nicht möglich sei, zwei Menschen zu lieben. Ist das wirklich so?“

Schon aus dem Köder, den „Das Magazin“ mit diesem Brief von Frau Ahlert auf die Leserbriefseite geworfen hatte, war klar, dass es sich diesmal nicht um zwei Menschen, sondern ganz konkret um zwei Männer handelte: Kann man eigentlich zwei Männer lieben?

Mir liegen zum Teil sehr persönliche und offene Leserbriefe vor. Außerdem will ich an die Gespräche im Freundeskreis und mit Ratsuchenden denken, die ich in meiner Tätigkeit als klinische Psychologin führte.

Unübersehbar der erste Eindruck: Es besteht ein starkes Tabu, eine Frau in dieser Lage zu akzeptieren, einfach nur einmal hinzunehmen, dass sie sich in einem Konflikt befindet und sich quält.

Gerade von den Frauen kommt die schärfste Kritik: Frau Ahlert sei egoistisch, betrüge sich selbst; wenn sie mit dem andern zusammenlebe, sei es auch nicht anders als jetzt mit dem Ehemann. An das Glück ihres Partners denke sie nicht. Und darin unterscheide sich der Mensch vom Tier: Dass er sich entscheidet.

Sehr von dieser verständnislosen und ablehnenden Einstellung unterscheiden sich die Frauen, die selbst in einer ähnlichen Lage waren oder sind. Sie berichten von dem Kummer und der Traurigkeit, in der sie sich befanden, und von dem Zwang zur Entscheidung. Menschlich besonders berührend fand ich folgende Aussage, die ich ungekürzt wiedergeben möchte:

„Vor fast 20 Jahren war ich in der gleichen Situation wie Frau Ahlert und glaubte auch, ich könnte zwei Menschen gleichzeitig lieben. Ich geriet in immer größere Konflikte, trennte mich von meinem Freund und blieb bei meinem Mann. Bald erkannte ich, dass ich nur den anderen wirklich liebte und mich an meinen Mann das Pflichtgefühl band, ich ihm auch nicht wehtun wollte, weil er mich sehr gern hatte. Meinen Fehler wollte ich nicht eingestehen, die Zeit verging, und mein Freund hatte inzwischen eine andere geheiratet, mit der er, so glaube ich, auch glücklich wurde.

Mein Leben verläuft recht trostlos und gleichgültig an der Seite meines Mannes, dem ich mich immer mehr entfremdete. Wir bleiben zusammen wohl aus bald jahrzehntelanger Gewohnheit, er, weil er seine Häuslichkeit hat, und ich, weil ich den Mann, den ich immer noch liebe, ohnehin verloren habe. Ich kann Frau Ahlert nur raten, ihre Gefühle zu revidieren, auf die Dauer kann sie so nicht leben.“

Soweit das eigentlich tragische Fazit dieser Frau. Sie hat aus eigener Betroffenheit das Risiko geschildert, in dem sich jede Frau mit zwei Partnern befindet (natürlich auch jeder Mann mit zwei Frauen).

Das Risiko besteht darin, dass sich zumindest einer der Partner und vielleicht gerade der, der sich nachträglich als der „Richtige“ erweist - aber das ist ja nicht zu überprüfen - dass sich also mindestens einer zurückzieht und sein Leben mit einer anderen Frau versucht, aus einem Gefühl der Stärke, des Optimismus, dass es eigentlich klappen könnte, aus einem ungebrochenen Glücksanspruch und dem Bedürfnis, einen Partner für sich allein zu haben.

Der ist dann jedenfalls weg. Für immer.

Gerade aus der Angst vor dieser Konsequenz sprechen Frauen nicht immer offen zu ihren Partnern. Wenn sie sich noch nicht entschieden haben, geben sie beiden Männer das Gefühl, besonders geliebt zu werden.

Über die Lage des betroffenen Ehemannes oder - nehmen wir einmal das altmodische Wort – „betrogenen“ Ehemannes sind sich nur die Komödienschreiber einig. In Wirklichkeit kommt er in eine sehr schwierige Situation. Hat er durch Zufall von der Untreue seiner Frau erfahren - eine Schwangerschaftsunterbrechung bei ihr, obwohl sie seit Jahren beide wegen seiner Unfruchtbarkeit einen Adoptionsantrag laufen haben? Hat er den anderen Mann bei seiner Frau gefunden, als er zu früh aus dem Ausland oder unvermutet aus dem Nachtdienst nach Hause kam? Hatte er schon längere Zeit einen Verdacht, weil sie im Gegensatz zu früher nie mehr von sich aus mit ihm schlafen wollte, nur noch nach vielen Bemühungen? Wie immer es gewesen sein mag: Bei den Diskussionen nach der Entdeckung sehen beide Partner, dass sie für diesen Fall überhaupt nicht gerüstet sind. Entweder hatten sie keine verbindliche Absprache über Treue und das Ausmaß der Toleranzgrenzen, die für beide gelten sollten, oder sie hatten sich überhaupt als das einzige Paar auf der Welt angesehen, dem ein anderer Partner nichts anhaben kann. In diesem Fall ist die Erschütterung natürlich besonders groß, die Bereitschaft, der Realität ins Augen zu sehen, besonders niedrig.

Leider ist der Stand des „betrogenen“ Ehemanns, auch in unserer Gesellschaft, schwer. Oft können seine Arbeitskollegen, seine Freunde oder seine Eltern nicht begreifen, warum er sich nicht sofort trennt. Und er selbst muss ja auch mit seinen anerzogenen Normen leben und steht vor der Frage, ob er sich noch achten kann, wenn er seiner Frau „verzeiht“.

Und was soll er mir eigentlich verzeihen? fragt sich seine Frau. Auch sie will die Achtung vor sich selbst behalten und muss nun ihrem Mann Nachlässigkeiten, Charakterfehler, dessen Untreue, die sie lange genug mit angesehen hat, vorwerfen. Dabei ist es ganz einfach: Es gibt nun in ihrem Leben einen anderen Mann, auf dessen Anrufe sie sich freut, mit dem sie sich treffen kann, es ist alles so heiter wie in einem französischen Film, er macht sich für sie frei, versäumt eine wichtige Sitzung für sie, die Sonne scheint, und man geht mit ihm am Haushaltstag im Park spazieren, statt die reparierten Haushaltsgeräte abzuholen, man geht in die Wohnung seines Freundes und schläft mit ihm und denkt daran, dass zu Hause im Schlafzimmer auch noch die Kinder übernachten. Störend tritt in dieser Situation eigentlich nur der eigene Ehemann in Erscheinung, mit dem man zum zweiten Mal Abendbrot essen muss und vielleicht auch zum zweiten Mal schlafen.

Bis er es weiß! Bis man zur gleichen Zeit zufällig mit beiden Männern im selben Zimmer konfrontiert wird und natürlich zum Ehemann hält. Die Frau, deren Mann überraschend vom Nachtdienst kam, als sie ihren Freund bei sich hatte, erzählte mir, dass sie ihrem Mann, da er müde aussah, einen Kaffee machte. Und dieser Kaffee war der Grund dafür, dass sich ihr Freund von ihr distanzierte. Er war nur mit ihr zusammen, weil er ihre Ehe für eine Vernunftehe mit einem überaus toleranten Partner hielt. Aber wie sie den Kaffee machte, wie sie ihn hinstellte, wie sie ihren Mann besorgt ansah und mitfühlend, wie sie auch schuldbewusst aussah, das alles zeigte ihm, dass sie ihren Mann liebt.

Ich habe mit einem jungen Mann gesprochen, der ein Mädchen aus demselben Berufsschulinternat sehr mochte. Da sie aber verlobt war, hielt er Abstand. Sie dagegen gab ihm zu verstehen, dass ihr Verlöbnis (sie war 17) nichts zu besagen hätte, es wäre mehr ein Spaß, und sie sehe ihren Verlobten nur ein- bis zweimal im Monat. In Wirklichkeit begehre sie ihn und möchte gern mit ihm, dem jungen Mann, der es mir erzählte, zusammensein. Es ging gut, bis der Verlobte das Mädchen zum ersten Mal ins Internat brachte. Die drei benutzten denselben Bus, und der junge Mann wunderte sich zunächst, dass sie nicht einmal seinen Gruß erwiderte. Er hielt es schließlich für eine Unaufmerksamkeit des Mädchens. Dann sah er, wie verliebt und zärtlich sie zu dem andern war, und konnte es einfach nicht glauben. Als sich der Verlobte verabschiedet hatte und nicht mehr zu sehen war, fiel sie dem jungen Mann um den Hals. Sie liebe beide, sagte sie, jeden auf seine Weise.

Als ich einer Kollegin von diesem Artikel erzählte und sie nach ihrer Meinung fragte, lächelte sie und fragte: Warum schreibst du nicht zum Thema „Kann man vier Männer lieben?“

Das sei doch unbegrenzt, meinte sie. Das Problem sei nicht, ob man verschiedene Männer lieben könne, natürlich könne man das. Das Problem ist, ob die Männer sich lieben lassen, wenn sie voneinander wissen. Der eine ist originell, der andere väterlich, der eine kindlich, der andere sinnlich. Wenn sie alle mitmachen, warum nicht?

Sie lachte, als ich sie überrascht ansah, denn sie fühlt sich - soviel ich weiß - wohl in ihrer Ehe und lebt - soviel ich weiß - nicht im Konflikt zwischen zwei Männern oder drei oder vier.

Und nun können Sie sich, liebe Leser, einmal die Positionen vorstellen, in denen man diesen Konflikt erleben könnte:

1. aus der Sicht der Frau,

2. aus der Sicht des Ehemannes beziehungsweise des bisherigen festen Partners,

3. aus der Sicht des neuen Freundes,

4. aus der Sicht von dessen Frau oder Freundin,

5. aus der Sicht der Kinder in den beteiligten Ehen,

6. aus der Sicht der Freunde, die manchmal schon etwas mitgekriegt oder anvertraut bekommen haben und nun nicht wissen, ob sie diskret oder ehrlich sein sollen,

7. aus der Sicht der Außenstehenden, die schon einmal vor einem solchen Konflikt standen, sich zu einer Entscheidung durchgerungen haben und diese Entscheidung vor sich selbst verteidigen wollen,

8. aus der Sicht der Außenstehenden, die noch nicht in diesem Konflikt lebten und sich die bange Frage stellen, wie wohl sie selbst ...,

9. aus der Sicht der Außenstehenden, die noch nicht in diesem Konflikt lebten, weil ihnen so was eben nicht passieren kann.

Welche Sicht fehlt noch?

Meine natürlich, denn ich sollte alle Meinungen unter einen Hut bringen, vielleicht, weil die Redaktion den Verdacht hatte, dass ich schon in allen neun Lagen war. Und damit liegt sie gar nicht so schief.

Und nun wenden wir uns der entscheidenden Frage zu und lassen das ganze Gerede mal beiseite:

Kann man denn nun zwei Menschen lieben? Darf man es?

Wie hoch ist der Preis, den ich zahlen muss?“

Erstmals 1990 veröffentlichte Jan Eik in der DIE-Reihe des Verlags Das Neue Berlin „Dann eben Mord“: Auf seinen Spürsinn hat sich der Provinz-Kriminalist Werner Jarosch immer verlassen können, egal ob es sich um einen Scheckbetrug handelt oder die Ausplünderung eines Dorfes, das dem Braunkohlenabbau weichen muss. Im Fall der Isa Matuschek aber lässt ihn seine Intuition im Stich: Ein Unbekannter hat die junge Frau überfallen und vergewaltigt, und Jarosch tappt im Dunkeln. Jan Eiks letzter in der DDR erschienener Krimi spielt in der Endzeit des erschöpften Landes; der Klassenfeind kommt jetzt in Grün, weiß eine gewissenhafte Schuldirektorin zu melden, während die Atmosphäre in der Schule von Kerkow, an der Swetlana und Arne Schildhauer unterrichten, auch auf andere Weise vergiftet wird. Obwohl Jarosch jeder noch so vagen Spur nachgeht und dabei über mancherlei Absonderlichkeiten des alltäglichen Lebens auf dem Lande stolpert, vergehen Monate, bis ihn endlich ein seltsamer Verkehrsunfall mit Fahrerflucht Zusammenhänge erkennen lässt, die selbst den gestandenen Kriminalisten überraschen. Hier der Beginn des zweiten Kapitels, in dem Kriminalist Jarosch zum ersten Mal mit einer jungen Frau und mit einem komplizierten Fall konfrontiert wird. Aber vielleicht gibt es doch einen Zusammenhang mit einer anderen Beobachtung:

„Die junge Frau mit zerzaustem rotem Haarschopf, die Werner Jarosch gegenübersaß, fühlte sich sichtlich unwohl. Angelegentlich beschäftigte sie sich damit, ihre Nase mit einem verknüllten Papiertaschentuch zu putzen, während er ihre Personalien aufnahm.

Isa Matuschek aus Großpöhlow, vor drei Wochen gerade neunzehn Jahre alt geworden. Ein wenig älter sah sie aus, fand Jarosch, oder reifer vielleicht. Ein sportlich wirkendes Mädchen, mehr als mittelgroß, mit kräftigen Händen und energischem Kinn. Sie hatte sich nicht besonders fein gemacht für den Besuch bei der Polizei, trug Jeans und einen dunkelblauen Anorak. Darunter schaute ein Sweatshirt mit englischer Aufschrift hervor.

Jarosch registrierte das ganz automatisch, auch den Schutzhelm, der zu ihren Füßen lag, die in halbhohen Stiefeln steckten. Den Grund für die dunkle Färbung ihres Jochbeins unter dem rechten Auge würde sie ihm gewiss noch verraten.

„Ich wollte nicht kommen...“, sagte sie verdrossen. „Mein Freund meint, man muss so was melden.“

Der Oberleutnant nickte und schwieg abwartend.

Das Mädchen Isa blickte ihm offen ins Gesicht und blähte für einen Augenblick ihre Backen auf. „Ich bin vergewaltigt worden“, stieß sie trotzig hervor.

Jaroschs flächiges Gesicht blieb unbewegt. Wenn es stimmte, was die junge Frau sagte, dann hatte es der Täter gewiss nicht leicht gehabt mit ihr. Sie sah nicht aus, als würde sie sich wehrlos in eine solche Situation fügen, und das Veilchen war damit auch erklärt. Wenn es stimmte. Das war allemal der Haken bei so einer Anzeige. Werner Jarosch hätte viel darum gegeben, jetzt sagen zu können: Meine Kollegin unterhält sich mit Ihnen darüber etwas genauer.

Da Isa Matuschek ihrer Erklärung keinen weiteren Satz folgen ließ, ihn vielmehr erwartungsvoll anstarrte, bequemte Jarosch sich schließlich zu der Frage: „Eine vollendete Vergewaltigung - oder hat der Täter nur versucht, Ihnen Gewalt anzutun?“

Die Röte schoss ihr ins Gesicht. Zornesröte, wie Jarosch annahm, denn peinlich schien ihr die Auskunft darüber nicht zu sein. „Vollendet!“, sagte sie in einem Ton, der keinen Zweifel an der Tatsache zuließ, blickte sich dann aber doch um, ob auch kein Unbefugter sie hören konnte. Am Hinterkopf ging ihr strubbeliger roter Schopf in glattgestriegeltes mittelblondes Haar über. Wahrscheinlich war das ihre natürliche Haarfarbe. Aber das auffällige Rot stand ihr, fand Jarosch.

„Sie sind nicht beim Arzt gewesen?“, vergewisserte er sich.

Sie sah ihn an, als habe sie ihn nicht verstanden. „Wozu sollte das gut sein?“

„Das ist bei einer so schweren Straftat unerlässlich“, erklärte Jarosch mild. „Wann ist es denn passiert?“

„Am Sonnabend.“

„Heute ist Dienstag.“ Aus seiner Stimme klang kein Vorwurf. Eher Resignation. So waren die Menschen eben. Beeilen musste sich nur die Kripo.

„Sie hätten unverzüglich Anzeige erstatten müssen. Schon wegen der Spurensicherung.“

In ihrem Blick lag eine Mischung aus Ekel und Unglauben. „Spurensicherung?“, sagte sie abfällig. „Ich habe erstmal 'ne dreiviertel Stunde geduscht, als ich nach Hause kam, falls Sie sich das vorstellen können.“

Jarosch nickte. „Und die Kleidungsstücke, die Sie trugen?“

„Die habe ich in die Waschmaschine gesteckt! Wohin hätte ich sie mitten in der Nacht bringen sollen?“

„In Großpöhlow gibt es einen Abschnittsbevollmächtigten.“

„Ich dachte, für so was sind Sie zuständig. Und heute hatte ich sowieso hier in der Kreisstadt zu tun. Ich kann mir schließlich nicht freinehmen, wann ich will!“

„Der ABV hätte uns angerufen. Wir wären sofort gekommen!“

„Am Sonntag?“, fragte sie zweifelnd.

„Am Sonntag. Feuerwehr und Kriminalpolizei sind immer im Dienst. Wussten Sie das nicht?“

„Bei uns ist mal im Stall eingebrochen worden. Da kam erst nach einer Woche einer vorbei.“

Jarosch ließ sich ungern auf didaktische Erläuterungen ein, obwohl seine Frau behauptete, an ihm wäre ein Pauker verloren gegangen, mit seiner geradlinigen Betulichkeit und seiner ostpreußischen Geduld. Er sagte: „Eine Vergewaltigung ist eine schwere Straftat gegen die Würde des Menschen, Frau Matuschek. Da dürfen wir keine Minute zögern, um alle Spuren zu sichern, die zu einer Aufklärung führen.“

„Sie meinen, Sie kriegen den?“, fragte sie, sichtlich ungläubig.

Wir müssen, hätte er beinahe gesagt, denn dass sie ein Sexualverbrechen aufklären mussten, daran konnte kein Zweifel bestehen. Das war etwas anderes als ein Fahrraddiebstahl oder Scheckbetrug als Freizeitsport. Wenn ein solcher Täter herumlief, kochten die Gerüchteküchen in den Dörfern. Die Miefwolke würde bis hierher in die Kreisstadt wehen, der Major eine Lagebesprechung nach der anderen anberaumen. Und Edith würde zu Hause keine Ruhe geben und jeden Tag mit neuen Tartarenmeldungen aus ihrer Bibliothek heimkehren.

„Mit Ihrer Hilfe!“, sagte Jarosch fest. „Sie müssen versuchen, sich an jede Einzelheit zu erinnern. Auch wenn Sie Ihnen noch so unwesentlich erscheint. Wann und wo genau ist es passiert?“

Isa Matuschek schien doch ein wenig eingeschüchtert. „Am Sonnabend...“, sagte sie zögernd. „Irgendwann nach zehn. Ich war mit dem Roller unterwegs nach Hause.“

„Woher kamen Sie?“

„Na, aus der `Sonne´. Da war Disko. In Bartz.“

In Bartz. Die Mappe mit dem Protokoll über den Vorfall in Launitz lag rechts. Jarosch schlug sie auf. Nein, der Mann in Launitz hatte sich schon am Donnerstagabend nach dem Weg nach Bartz erkundigt. Möglicherweise bestand dennoch ein Zusammenhang.“

Erstmals 2017 veröffentlichte Christiane Baumann als Eigenproduktion der EDITION digital ihren Schwerin-Krimi „Die Tote im Pfaffenteich. Nora Grafs erster Fall“ und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: Kommissarin Nora Graf ist die Hauptperson des im August 2016 spielenden Kriminalromans. Sie wird aus Berlin in ihren Geburtsort Schwerin strafversetzt. An ihrem ersten Abend entdeckt sie beim Spazierengehen die Leiche einer älteren Frau im Pfaffenteich. Tage später führt ihr untrüglicher Geruchssinn Nora in einer leer stehenden Wohnung zum Leichnam eines jungen Mannes. Besteht eine Verbindung zwischen beiden Morden? Oder zur Serie von Vergewaltigungen, von der die Stadt seit Monaten in Atem gehalten wird? Plötzlich taucht ein traumatisches Erlebnis aus Noras Schweriner Kindheit wieder auf. Ein Klassenkamerad starb. Wurde die Frau aus dem Pfaffenteich Opfer einer späten Rache? Nora sucht Kontakt zu ihrer früheren Schulfreundin Tamara und beginnt, sich in Schwerin einzuleben. Einen weiteren Mord kann Nora nicht verhindern. Sie muss ihre Angst vor offenem Wasser überwinden, um das Leben ihrer Tochter zu retten. Zunächst aber erleben wir die neue Schweriner Kommissarin in einer für sie ungewohnten Rolle – als Zeugin:

„Während Nora auf die Einsatzkräfte wartete, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Was war denn los mit ihr! War sie etwa wegen eines Leichenfundes so durcheinander? Oder war sie nur von der Rolle, weil ihr ausgerechnet am ersten Abend in Schwerin eine Tote vor die Füße fiel?

Endlich! Polizeisirenen! Erleichtert zeigte Nora den Kollegen, was sie entdeckt hatte. Dann gab sie bei einem Schutzpolizisten ihre Personalien zu Protokoll und trat hinter die Absperrung. Die Leiche wurde geborgen und der Fundort weiträumig abgesperrt. Scheinwerfer tauchten den Einsatzort in ein unangenehm grelles Licht. Eine Expertin begann, die tote Frau zu untersuchen, und Neugierige sammelten sich hinter dem Absperrband. Nora machte einige Fotos mit ihrem Smartphone.

Ein dicker, glatzköpfiger Kripobeamter näherte sich den Schaulustigen, zeigte auf Nora und winkte sie zu sich heran. „Sie haben die Tote entdeckt?“, fragte er, und als sie nickte, forderte er ihren Ausweis.

Nora schätzte den massigen Mann, der sie um einen halben Kopf überragte, auf Anfang fünfzig. Seine ungewöhnlich buschigen Augenbrauen fielen ihr auf. Mit Vollbart könnte er glatt als Seemann durchgehen.

„Nora Graf“, las der Beamte mit tiefer Stimme den Namen vom Ausweis ab, „Sie leben wo?“

„Im Prinzip in Berlin, aber ab morgen arbeite ich in Schwerin. Ich wohne vorerst in der Pension dort.“ Sie wies mit einer schnellen Handbewegung auf die gegenüberliegende Seite des Teiches und überlegte, ob sie sich als Kollegin zu erkennen geben sollte.

„Was arbeiten Sie denn?“, wollte er wissen.

„Ich bin Kriminalhauptkommissarin, und Sie sind …?“

„Hansen, Bert Hansen. Leitender Ermittler. So, so, die Neue.“ Er musterte sie ungeniert.

Die erste Begegnung mit Schweriner Kollegen hatte Nora sich anders vorgestellt. Zumindest hatte sie in einem sauberen Outfit erscheinen wollen, stattdessen waren ihre Klamotten verdreckt. Zwar unwichtig angesichts einer Toten, trotzdem war es unangenehm.

„Was getrunken?“

„Na, hören Sie mal! Selbst wenn, ist das in Schwerin verboten?“

„Schon gut, schon gut. Haben Sie jemanden in der Nähe beobachtet? Ist wer weggelaufen?“

„In der unmittelbaren Nähe war niemand. Im Biergarten weiter vorn neben den Stufen saßen ein paar Leute. Unwahrscheinlich, dass die was gesehen haben. Die waren zu weit weg.“

„Und was haben Sie zu dieser Zeit am Pfaffenteich gewollt, Frau Graf?“

„Ich bin spazieren gegangen. Frische Luft tanken.“

„So spät? Und allein?“

„Ich bin schon groß. Kann ich meinen Ausweis zurück haben?“

„Wenn ich Sie überprüft habe.“

„Können Sie sich sparen. Ich habe bereits Angaben gemacht.“

Hansen winkte ab. „Warten Sie hinter der Absperrung. Bitte mit Geduld, falls wir noch Fragen haben.“ Nach zwei Schritten drehte er sich um und rief: „Und nichts anfassen, ja!“

Idiot, dachte Nora, verärgert über seine belehrende Art. Der Hansen behandelte sie wie eine x-beliebige Zeugin. Nun gut, sie hatte vorhin ein bisschen Nervenflattern gehabt, sich für einige Minuten verunsichert gefühlt. Aber das war vorbei, und Hansen hatte davon kaum was bemerken können. Sie war ein Profi, Strafversetzung hin oder her.

Kurzerhand hob Nora in einem unbeobachteten Moment das Absperrband an und mischte sich unter die Kollegen, die um die Leiche herumstanden. Dass die Tote älteren Jahrgangs war, hatte Nora schon mitbekommen. Die Frau sah auf den ersten Blick völlig unverletzt aus, beinahe friedlich. Ein dünner Streifen hellerer Haut am linken Handgelenk ließ vermuten, dass dort offenbar eine Armbanduhr fehlte. Und am rechten Fuß fehlte ein Schuh, eine rote Sandale. An jeder Hand goldene Ringe; einer schien Nora ein Ehering zu sein.

Die Tote trug einen hellen Rock, eine Bluse und eine kurze dunkelblaue Jeansjacke. Zu jugendlich angezogen, ging es Nora durch den Sinn.

„Hey, Sie, weg da!“ Nora wurde unsanft beiseite gezerrt. Ein schlaksiger Mann mit einem Jungengesicht hielt sie am Arm gepackt. „Sie wissen doch, dass dieser Bereich für Sie tabu ist, Frau Graf!“ Er löste seinen Griff. „Keine Ahnung, wie die Berliner Kollegen so arbeiten, aber bei uns haben Unbefugte am Tatort nichts verloren.“

„Die Berliner Kollegen sagen einem wenigstens, wer sie sind, bevor sie einer Unbefugten fast den Arm brechen“, konterte sie. „Kann ich Ihren Worten entnehmen, dass die Frau an dieser Stelle umgebracht wurde? Sie sprachen von ‚Tatort‘?“

„Hoppla, war ich wohl zu voreilig; mein Fehler.“ Er reichte ihr den Ausweis zurück. „Mein Name ist Klein, Holger mit Vornamen. Und pardon wegen dem Arm.“

Nora legte ihren Kopf leicht in den Nacken und schaute in dunkle, unruhige Augen. Sein  üppiges schwarzes Haar gefiel ihr.

„Wenn Sie wollen, können Sie gehen“, sagte er.

Nora rieb sich am Oberarm. „Wie ist die Frau denn gestorben? Ist sie ertrunken?“

„Netter Versuch. Sehr hartnäckig. Der Chef will Sie morgen früh gleich sehen. Er schickt gegen acht jemanden zu Ihnen, der Sie abholt, damit Sie sicher zur Dienststelle finden. Äh, und damit keine weitere Leiche zufälligerweise Ihren Weg kreuzt. Bis dahin.“ Mit langen Schritten entfernte er sich.

Nora rief Robert an. Er würde staunen, wenn er hörte, was ihr am ersten Abend in Schwerin passiert war.“

Ebenfalls als Eigenproduktion der EDITION digital und ebenfalls sowohl als gedruckte Ausgabe wie als E-Book erschien erstmals 2013 „Das Jakobsweg-Komplott“ von Ulrich Hinse. Mysteriöse Morde lassen die Pilger auf dem Jakobsweg von den Pyrenäen bis Santiago de Compostela erschaudern. Zufällig wurde einer der Pilger, der deutsche Kriminalhauptkommissar Raschke aus Mecklenburg-Vorpommern, Zeuge einer Tat. Zunächst scheint die Begegnung zufällig. Dann jedoch beginnt eine Mordserie, die parallel zur Pilgerwanderung des Polizisten geschieht. Auch auf Raschke, der offenbar als lästiger Zeuge beseitigt werden soll, werden Anschläge verübt. Für die spanische Polizei wird der Deutsche zum Lockvogel, der sie zu den Tätern führen soll. Schon bald zeichnet sich ab, dass es bei den Morden um das verschwundene Gold der Templer geht und die Jagd nach dem Killer erst in Santiago de Compostela zu Ende sein könnte. Gelingt der spanischen Polizei rechtzeitig die Entlarvung der Täter und Hintermänner oder schaffen es die einfallsreichen Mörder, den deutschen Pilger aus dem Weg zu räumen? Ein spannender Krimi über den Jakobsweg und das Mysterium des Templerschatzes. Hier ein Auszug, in dem Kriminalhauptkommissar Raschke erneut mit einer Leiche zu tun bekommt – und wieder mit einer Brücke als möglicher Tatort:

„Die letzten zwei Kilometer vor der Kirche Eunate Santa Maria, die durch neu gepflanzte Weinfelder führten, waren topfeben. Eine Pappelreihe an einem Hochwasser führenden Bach verbarg den Blick auf die Kirche. Raschke war allein auf dem Weg. Kein anderer Pilger war vor oder hinter ihm zu sehen. Auf der kleinen Brücke blieb er stehen. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Einige Meter unterhalb hatte ein quer im Bachbett liegender Baumstamm das schmutziggelbe Wasser aufgestaut, so dass sich dahinter ein kleiner Wasserfall bildete. In diesem Strudel drehte sich ein menschlicher Körper. Der Kleidung nach eine Frau. Dort wo der Kopf war, verfärbte Blut das lehmige Wasser, verwirbelte und vermischte sich mit der gelben Brühe. Nur Sekunden brauchte der erfahrene Kriminalbeamte, um zu erkennen, dass er der Frau nicht mehr helfen konnte. Sie war tot. Der Kriminalbeamte war sofort in seinem Element. Er musterte das Ufer links und rechts von der Toten. Die Lehmschicht, die das Hochwasser der letzten Tage hinterlassen hatte, war jungfräulich. An der Stelle, wo sie sich jetzt befand, war sie nicht ins Wasser gekommen. Vermutlich war sie von der Brücke gefallen.

„Schon wieder eine Brücke als möglicher Tatort“, brummelte Raschke und sah sich das Geländer genauer an. Einige kleinere Kratzspuren waren in dem dünnen Flechtenbewuchs auf der steinernen Brüstung zu erkennen. Nichts Signifikantes. Auf dem Pflaster war nichts zu sehen. Kein Blut, keine Schleifspuren. Raschke sah sich um. Niemand war zu sehen. Weder jemand, der Täter sein, noch jemand, der bei der Bergung der Frau helfen könnte. Raschke brauchte aber Hilfe. Allein war es ihm nicht möglich, die Tote aus dem Wasser zu ziehen. Und eines wollte er auf keinen Fall, dass die Leiche vom schnell fließenden Wasser weiter flussabwärts getrieben wurde. So schnell er mit seinem Rucksack konnte, lief Raschke in der Hoffnung los, andere Pilger an der Kirche anzutreffen. Aber dort war niemand. Von der Kirche zur benachbarten Pilgerherberge waren es nur wenige Meter. Atemlos kam er am Refugio an und rüttelte heftig an der Tür. Während er ungeduldig wartete, sah er sich nach einer Stange, einem Besen oder einem anderen Gegenstand um, mit dem die Tote aus dem Wasser gezogen werden konnte. Aber es lag nichts dergleichen herum. Nach einigen Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, wurde geöffnet. Fragend sah ihn der Hospitalero an. Raschke versuchte mit seinen bescheidenen Spanischkenntnissen und einer theatralischen Gestik dem Spanier zu erklären, was geschehen war.

„Senor, en el Rio es una muerta – im Fluss ist eine Tote“, radebrechte er. Der Hospitalero folgte etwas zögernd dem Deutschen, der zur Brücke zurücklief. Dort angekommen, sah der Spanier entsetzt auf das Bild, das sich ihm bot. Dann aber wurde er schnell. Er rannte zurück, um sofort mit einer Stange und einer Zeltplane zurückzukommen. Gemeinsam drückten und zogen sie die Tote ans Ufer und drehten sie auf den Rücken. Das Gesicht der Frau war unkenntlich. Der Hospitalero wechselte wie ein Chamäleon die Farbe. Er verdrehte die Augen und würgte, während sich Raschke die Tote ansah. Das Gesicht war mit Sicherheit post mortem deformiert worden. Das erkannte er sofort. Vermutlich an einem Stein oder an dem Baumstamm. Sonst war nichts zu erkennen. Raschke hütete sich auch, mehr zu unternehmen. Das war Sache der spanischen Kollegen und die mussten so schnell wie möglich informiert werden. Der Hospitalero hatte inzwischen die Fassung wiedergewonnen. Mit abgewandtem Gesicht half er Raschke mit der Plane die Leiche zuzudecken. Dem Hospitalero schien die Tote bekannt zu sein. Auf dem Weg zurück zur Herberge stammelte er immer wieder einen Namen, den Raschke aber nicht verstand. Plötzlich blieb der Spanier auf dem Platz zwischen Kirche und Herberge stehen. Er sah sich suchend um.

„Donde son dos senores – wo sind die zwei Männer?“, verstand Raschke. Automatisch folgte Raschke dem suchenden Blick des Spaniers. Auf einem kleinen Hügel, über den der Jakobsweg in Richtung der Stadt Puente la Reina weiterführte, glaubte Raschke eine rote Jacke zu erkennen. Sofort legte er seinen Rucksack ab und rannte den Hügel empor. Völlig atemlos kam er oben an und sah ... nichts. Auf dem Camino war niemand zu sehen. In den umliegenden Feldern, in denen das Getreide gerade knöchelhoch stand, konnte sich niemand verstecken. Sollte er sich so getäuscht haben? Hatten ihm seine Sinne einen Streich gespielt? Langsam ging Raschke zur Kirche zurück und holte sein Gepäck.

Der Hospitalero telefonierte derweil mit der örtlichen Polizei, während Raschke über sein Handy direkt Lopez Castela anrief. Er bekam ihn sofort an den Apparat und bemühte sich um eine sachliche Schilderung.“

Aber bis sich am Ende alles aufklärt, bis dahin dauert es noch eine Weile. Und nicht zuletzt kommt Kriminalhauptkommissar Raschke nicht nur selber unter Verdacht, sondern auch in große Gefahr. Außerdem erweitert dieser ungewöhnliche Krimi zugleich das kulturhistorische Wissen seiner Leser, die quasi unterwegs auf dem Jakobsweg einiges über den ebenso geheimnisvollen wie riesigen Goldschatz der Tempel-Ritter erfahren. Und Gold übt eben noch immer eine magische Anziehungskraft aus.

Viel Vergnügen beim Lesen und Weiterbilden, weiter eine schöne Adventszeit und bis demnächst.

DDR-Autoren: Newsletter 13.12.2019 - Eine Frau und zwei Männer im selben Zimmer, Jarosch tappt im Dunkeln und