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Sie sind hier: DDR-Autoren: Newsletter 28.08.2020 - Pilgerreise zurück ins Leben, ein abenteuerliches Leben unter der Maske

Pilgerreise zurück ins Leben, ein abenteuerliches Leben unter der Maske und ein schwieriger Brief- Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 21.08. 2020) – Wenn einem etwas zustößt, dann gibt es verschiedene Möglichkeiten der Rettung. Das gilt für physische wie psychische Beschwerden und Krankheiten. Wie eine solche Rettung aussehen kann, das zeigt das zweite der insgesamt fünf Angebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 28.08.20 – Freitag, 04.09. 20) zu haben sind. In seinem Buch „Die 2300-Kilometer-Therapie. Die Story des Jakobswegs der Freude“ berichtet Bert Teklenborg, was ihm geholfen hat, sich aus einer schweren psychischen Krise zu retten und welche Rolle dabei der berühmte Jakobsweg spielt.

In „Leben aus dem Schatten. Die Memoiren von Cartouche, dem Meisterdieb und Templermeister“ erzählt Arnold Hiess aus dessen Leben – nach seiner Hinrichtung, die Cartouche in Wirklichkeit überlebt hat.

In dem Roman mit dem eher unspektakulären Titel „Die Nachtschicht“ von Wolfgang Held geht es um eine schwere Entscheidung, die Artur Milan, Meister in einem Metallwerk, in dieser Nacht zu treffen hat. Eine Entscheidung zwischen seiner Frau und seinem damals noch jungen Staat …

Viel mit diesem Staat, seiner rund 40-jährigen Geschichte und seiner Kulturpolitik haben auch die Memoiren der inzwischen 91-jährigen Journalistin. Schriftstellerin und Fontane-Expertin Gisela Heller zu tun. Und deren Titel lautet ganz Fontanesch: „Meine Irrungen, Wirrungen“.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. In dieser Woche geht es um ein großes Komplott und um Mut und Widerstand. Die Geschichte spielt zur Zeit des Spanischen Bürgerkrieges und handelt von einem mutigen Menschen, der gewissermaßen „undercover“, wie man heute vielleicht sagen würde, auf der feindlichen Seite im Einsatz ist und während dieser gefährlichen Aktion ein großes, für die Menschheit möglicherweise tödliches Geheimnis erfährt. Und dieses Geheimnis will er nun in die richtigen Hände gelangen lassen. Doch bevor er seinen Plan ausführen kann, wird er verhaftet und soll seinen Mut mit seinem Leben bezahlen. Aber niemand hat damit gerechnet, wie viel Widerstandskraft in diesem Mann steckt. Die Geschichte zeigt, was Menschen aushalten können, wenn sie für eine Idee und für das Überleben der Menschheit kämpfen …

Erstmals 1980 erschien als Heft 194 der Reihe „Das Taschenbuch“ im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik „Das Licht der schwarzen Kerze“ von Wolfgang Held: Im westlichen Teil der Sahara liegt die Oase El paraiso. Aber kein Karawanenführer lenkt seine Kamele dorthin. El paraiso - das ist kein Paradies, sondern die Hölle. Dort leben Männer, für die es keine Rückkehr in die Freiheit gibt. Nur einem einzigen Menschen, dem Sträfling Fred Laurenz, gelingt die Flucht. Krank und fast wahnsinnig vor Durst, schleppt er sich durch die Wüste. Die Schergen des spanischen Generals Franco jagen ihn auf seinem Weg zum Mittelmeer. Dort wartet schon einer der fähigsten Mitarbeiter der deutschen Geheimpolizei, um ihn für immer zum Schweigen zu bringen. Doch Laurenz weiß, dass er durchhalten muss, denn er hat Kenntnis bekommen von einem ungeheuerlichen militärischen Geheimnis - und wenn er versagt, droht der Menschheit tödliche Gefahr. 1973 drehte Regisseur Peter Hagen im DEFA-Studio für Spielfilme im Auftrag des Fernsehens der DDR den gleichnamigen Dreiteiler mit Giso Weißbach in der Titelrolle. Autor Wolfgang Held hatte dafür auch das Szenario geschrieben. Die Rolle des Kommandanten Juan Menuda hatte übrigens Bruno Carstens übernommen. Hier aber jetzt der Beginn des sehr spannenden Taschenbuches. Wir lernen ein Paradies kennen, das in Wirklichkeit die Hölle ist:

I

Ein Stakkato von schrillen Pfeiftönen stach in die salbungsvolle Rede des Monsignore Piadosa, der über Radio Madrid seine allwöchentliche Erbauungspredigt in den Äther schickte. Mehr als zweitausend Kilometer trennten ihn von einem Mann namens Menuda, der zu den anhänglichsten Hörern der Sendungen zählte. Ärgerlich schnaufend wälzte sich dieser Mann jetzt auf dem Diwan, streckte den Arm aus und fingerte an den Knöpfen des Kurzwellenempfängers, bis die Worte des fernen Geistlichen wieder klar und gewichtig aus dem Lautsprecher tropften.

Juan Menuda rollte zurück in die bequeme Rückenlage. Er kratzte seine nackte, behaarte Brust und lauschte andächtig. Monsignore Piadosa sprach von den stillen Taten der Nächstenliebe. Er nannte sie den Schlüssel zum Paradies. Obwohl Menuda es von Kindheit an gegenüber einem kirchlichen Würdenträger nie an Ehrfurcht und Bewunderung hatte fehlen lassen, überzog jetzt ein breites Grinsen sein braunes Gesicht. Er fand, dass sich der fromme Mann in Madrid, was das Paradies anging, recht ungenau ausdrückte.

El paraiso – das Paradies – hieß eine in nur wenige Landkarten eingezeichnete Oase der spanischen Kolonie Rio de Oro an der Westküste Afrikas zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Grad nördlicher Breite. In einem Umkreis von fünfhundert Kilometern, eingeschlossen von Wüste und Steppe, schien der Name für diese kleine grüne Insel im heißen Sandmeer beim ersten Anblick durchaus nicht übertrieben zu sein. Einen nie versiegenden Brunnen gab es hier, schattenspendende Dattelpalmen, ein paar kreideweiße Häuser mit Gärten voller Blumen und Früchte und sogar ein Dieselaggregat zur Stromerzeugung. Ausgestattet mit diesen Vorzügen, hätte El paraiso eigentlich für alle Karawanen und nomadisierenden Beduinenstämme zwischen Fort Gouraud weit im Süden und Tindout hoch im Norden so etwas wie ein Magnet sein müssen.

Aber es war nicht so.

Weder Durst noch Hitze konnten einen Scheik oder Karawanenführer bewegen, den Schritt der Kamele zu dieser Oase zu lenken. Nur selten fand der Name des Ortes den Weg über die Lippen eines Moslems, und wenn das wirklich einmal geschah, dann nur hinter vorgehaltener Hand. Wer immer unter der stechenden Sonne der Westsahara von El paraiso hörte, der erfuhr auch, dass es eine Hölle war, in der Juan Menuda herrschte.

Die Sendezeit des Monsignore ging zu Ende. Wie stets, so schloss der Geistliche auch heute seinen Vortrag mit der Aufforderung zum gemeinsamen Gebet. Gehorsam faltete Juan Menuda seine Hände über dem Bauch und murmelte das Vaterunser mit. Als er bei der dritten von den sieben Bitten des Matthäus war, wurde er gestört. Ein hagerer Mann in Korporalsuniform trat durch den Glasperlenvorhang ins Zimmer, erstarrte vorschriftsmäßig und schnarrte: „Perdón, Kommandant, aber unsere Nummer sechshundertzwei …“

Weiter kam er nicht.

„Halt’s Maul!“, fauchte Menuda. „Mitbeten!“

Verblüfft hob der Korporal die Brauen. Er setzte zu einer Erwiderung an, besann sich aber schnell unter dem drohenden Blick Menudas und verschränkte widerwillig die Finger vor seiner Brust. Reglos und mit stummer Empörung wartete er das Amen des Monsignore ab.

„Du wirst mir noch mal dankbar sein, dass ich mich um dein Seelenheil kümmere, Korporal“, sagte der Kommandant heiter, nachdem er das Radio ausgeschaltet hatte. Er wusste genau, warum sein Untergebener jetzt ein mürrisches Gesicht zeigte. Der Korporal, einer der wenigen die spanische Oberhoheit anerkennenden Rifkabylen, war der einzige Mohammedaner unter Menudas Leuten. „Also, was ist mit Nummer sechshundertzwei? Meine Lieblinge haben ihn weichgemacht, nicht wahr?“

„Nein!“

Der Blick des Korporals folgte dem Kommandanten, der zum Waschbecken ging und sich aus einem Tonkrug Wasser über den Kopf goss. Prustend tastete er nach dem Handtuch.

„Sondern?“, fragte er und frottierte eifrig Gesicht und Nacken. Von einem beinahe lebensgroßen Bild an der Wand schaute wohlwollend der Caudillo Franco auf ihn hernieder.

„Es geht mit ihm zu Ende, glaubt der Doktor. Er hat mich hergeschickt.“

Menuda zog vor dem Spiegel sorgfältig seinen Scheitel. „Der Doktor war im Zwinger? So besoffen ist er doch sonst um diese Tageszeit noch nicht.“

„Er brauchte nicht hinein zu den Tieren. Nummer sechshundertzwei steckte die Schnauze in den Sand. Sollen wir das Schutzgitter wegnehmen?“

„Ich komme!“

Der Kommandant knöpfte sein Kakihemd zu, zog das Koppel zurecht und stülpte den Tropenhelm auf das tiefschwarze, wie lackiert glänzende Haar. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel nickte er zufrieden und winkte dem Korporal, ihm zu folgen.

Sie verließen das weiße, kastenförmige Haus des Kommandanten, durchquerten einen schattigen Garten, in dem sogar ein kleiner Springbrunnen plätscherte, und wandten sich einem Bauwerk zu, das offenbar schon seit einigen hundert Jahren als Festung diente. Anstelle von Fenstern hatten die schräg aufragenden Außenmauern nur schießschartenähnliche Öffnungen, die alle vergittert waren. Im Sand der zu dem breiten Eingangstunnel führenden Straße zeichneten sich Spuren von Autoreifen ab.

Die beiden eisernen Torflügel waren weit geöffnet. Ein bewaffneter Posten salutierte, als der Kommandant und der Korporal an ihm vorbeigingen. Ein großer, quadratischer Innenhof empfing sie. Kein Baum und kein Strauch boten hier Schutz gegen die stechende Sonne. Die Luft flimmerte über festgestampftem gelbem Sand. Nur ringsum unter dem Säulengang lag ein Streifen Schatten. Zur Hofseite hatte das Gebäudegeviert zwar Fenster, aber auch sie waren ohne Ausnahme mit daumendicken Eisenstäben versehen. Einige kopfgroße, bewegliche Scheinwerfer waren so auf den flachen Dächern angeordnet, dass man damit zur Nachtzeit jeden Meter des Hofes beleuchten konnte. Alles verriet unverkennbar den Zweck, dem dieser Bau diente.

El paraiso war ein Gefängnis!

„Hallo, Kommandant! Höchste Zeit, dass Sie sich blicken lassen.“

Ein Mann in weißem Leinenanzug trat hinter einer Säule hervor und kam auf die beiden zu. Auch er trug einen Tropenhelm. Unter den Achseln zeichneten sich auf seiner Jacke dunkle Schweißflecken ab. Durchgeschwitzt klebte ihm die verwaschene Hose an den Oberschenkeln. Gegen die beiden Uniformierten wirkte er ungepflegt und liederlich. Mit einer Kopfbewegung wies er zu einem Winkel des Hofes hin, vor dem sich ein gut zwei Meter hoher Maschenzaun befand. „Sie schulden mir fünf Flaschen Roten. – Er hat in den vierundzwanzig Stunden seinen Mund nicht mal zum Fluchen aufgemacht, von Gnadengewinsel ganz zu schweigen.“´ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.

Als Eigenproduktion der Salem Edition by EDITION digital veröffentlichte Bert Teklenborg in diesem Jahr „Die 2300-Kilometer-Therapie. Die Story des Jakobswegs der Freude“: Bert Teklenborg war zuerst Schiffbauer, studierte BWL, wechselte vom Markenartikel-Management ins tourist. Verlagsmarketing, lebte zwischenzeitlich ein paar Jahre auf der Peloponnes - dort begann ein neues Kapitel seiner Lebensgeschichte. Unter dem Pseudonym „Gilbert Belo“ verfasste er den ersten Teil seiner Autobiografie, die mit dem Ausstieg aus Business und Gesellschaft endet (siehe „Der Seele ungeheure Kluft“). Im Verlauf eines langwierigen Selbstfindungsprozesses stieß er auf die Historie des Jakobswegs – dies ließ ihn nicht mehr los. Schon bald stellte er sich die Frage, ob man auch in unserer Zeit auf Wanderwegen (die Pilgerwege des Mittelalters sind heute Autostraßen) von hier nach Santiago de Compostela wandern kann. Er besorgte sich aktuelles und historisches Kartenmaterial, studierte Pilgerberichte – dann machte er sich auf den Weg, auf dem er fast ein Jahr lang die raue Wirklichkeit des Pilgeralltags erfuhr. Der Gedanke, die Aufzeichnungen in einen Wanderführer im Stile der frühen Itinerare einzubringen, war naheliegend, konnte aber erst realisiert werden, nachdem ein geeignetes Zeichenprogramm gefunden war (Lizenzen für Landkarten sind nicht bezahlbar). 1995 gründete er die Salem Edition und zwei Jahre brauchte er, bis der erste Titel der Jakobsweg-Trilogie „Jakobsweg der Freude“ auf seinem Schreibtisch entstanden war. Inzwischen sind seine Bücher in mehreren Neuauflagen aktualisiert und durch neue Wege ergänzt worden. Hier das Vorwort seinem Lebens-Buch „Die 2300-Kilometer-Therapie“, in dem klar wird, was der Jakobsweg mit der Rückkehr ins Lebens zu tun hat:

„Gedanken gehen blitzartig durch meinen Kopf: Suchscheinwerfer der Flak erfassen Bomber, Maschinengewehrfeuer setzt ein, Leuchtspuren am nächtlichen Himmel. Ein Mensch in Lumpen an der Tür. Eine kalte Welle rast durch meinen Körper, überzieht mich von Kopf bis Fuß mit einer Gänsehaut, macht mich starr. Plötzlich bedrohen mich scharfe, spitze Gegenstände. Hohe Gebäude muss ich fliehen. Dorian Gray, mit einem Messer sein Bildnis zerfetzend. – Ohnmächtig erfahre ich, wie ein grenzenloser Schmerz durch meinen Körper zieht … Und ich erkenne den Teufelskreis: Hätte die Angst gesiegt, wäre ich sofort wieder bei meinen Neurosen gelandet, die ich ja bestens kenne, weil sie mir seit Jahren, Jahrzehnten eine „Heimat“ bieten. Das macht das Abwerfen der alten Denke so schwer, dass man lieber ins „Vertraute“ zurück will, als den neuen Weg mutig weiterzugehen.

Alle Pläne sind in sich zusammengestürzt, wurden nichtig, sind überholt – ich benötige jetzt nur noch das, was ich im Heute mit gesundem Verstand bewältigen kann. Viel bleibt nicht übrig, aber was ist das schon, habe ich doch gerade erst angefangen, meine Freiheit zu leben. In der akuten Phase der „Krankheit“ war der Gedanke, einfach abzuhauen, ständig präsent; doch da hieß es: ausharren, dableiben, nicht weglaufen. Eine alte Weisheit sagt: „Bevor du kein neues Wasser hast, schütte das alte nicht weg. Hast du neues Wasser, weg mit dem alten. Und achte darauf, dass sich das neue nicht mit dem alten vermischt.“ Besonders das letztere galt es, zu beachten! Vielleicht könnte etwas geschehen, das ohne mein Zutun passiert. Und tatsächlich nahm ein Gedanke Formen an. Nicht, dass es klick machte und die Idee war geboren – nein! Es war selbstverständlich, wie das Entstehen von Wetter und Wolken.

Durch eine Nachbarin, eine alte Dame, die in ihrer Jugend ‘ne Menge erlebt hatte und wovon sie mir vorzugsweise am Telefon erzählte, erfuhr ich, dass in ihrer Schule (sie war dort Lehrerin gewesen) es üblich sei, Schüler mit einem kleinen Budget auf eine Reise zu schicken und darüber mussten diese in Tagebuchform berichten. Einen solchen Bericht wollte sie mir zeigen und brachte die Aufzeichnungen von einer Reise nach Santiago de Compostela mit, die zu einer Zeit stattgefunden hatte, als kaum jemand daran dachte, sich von Deutschland aus dorthin auf den Weg zu machen. Es waren abenteuerliche Dinge, die ich las: Da zog ein Abiturient alleine los, durchquerte ganz Frankreich und Nordspanien, mal zu Fuß, mal per Autostopp und hin und wieder mit dem Bus, wenn es gar nicht mehr weitergehen wollte, einzig ausgerüstet mit einer Landkarte, in der zwar Autostraßen, jedoch keine Wanderwege eingezeichnet waren. So berichtete er immer wieder von Wegstrecken entlang der Nationalstraßen mit zum Teil mörderischem Verkehr. Insgesamt legte er mehr als 2000 Kilometer zurück.

Ich hatte Santiago auf einer Reise nach Portugal besucht und wusste von der Bedeutung der Stadt als Ziel von Pilgerreisen. Da Landkarten zu meinem Beruf gehörten wie die Kelle beim Maurer, besorgte ich mir zuerst Übersichten und kurz darauf einen ganzen Satz großmaßstäblicher Karten mit teilweise eingezeichneten Wanderwegen, die in Frankreich Grande Randonnée heißen und das Land wie ein Netz überziehen. Ich benötigte sage und schreibe etwa 15 Blätter, um das infrage kommende Gebiet abzudecken, und wie bei einem Puzzle legte ich alle auf dem Fußboden aus. Schnell stellte ich fest, dass die Wege sich nicht immer ergänzten; da ging zum Beispiel der GR 7 Richtung Süden, wo ein direkter Anschluss nach Le Puy en Velay erforderlich war. Auch hörte die Wegführung an einigen Stellen der Karten plötzlich auf. Bezog sich das nun auf den Wanderweg, weil auf diesen Strecken die Markierung fehlte oder hatte der Kartenzeichner keine Informationen, wie es weiterging?

Plötzlich wurde mir bewusst, dass sich diese Jakobsweggeschichte zu einer Art Rehabilitations-Programm für mich entwickelte.

Ein halbes Jahr, nachdem mich die Frau (Siehe Gilbert Belo, Der Seele ungeheure Kluft; Salem Edition 2007) aus ihrer ärztlichen Betreuung entlassen hatte, entschloss ich mich zu einer Testwanderung, einer Dreitagesetappe in den Vogesen. Von Mulhouse fuhr ich mit dem Bus über Thann zur Haltestelle am Col de Bussang, wanderte von dort auf dem GR 531 nach Rouge Gazon und ab Tête des Perches auf dem GR 5 zum Ballon d'Alsace. Hatten bis dahin die weiß/roten Markierungen gestimmt, so zeigten sich im Verlauf des GR 7 nach Remiremont die unterschiedlichsten Wegzeichen; mal waren es rot/weiße Balken, dann gelbe, später ein rotes, dann gelbes Dreieck und im Ort fehlte jeglicher Hinweis. Fazit: Wollte man auf diese Art einen Wanderführer durch Frankreich erstellen, müsste zuerst der gesamte Streckenverlauf erwandert werden. Über die Auswertung der Aufzeichnungen machte ich mir da noch keine Gedanken, doch eigentlich stand mein Entschluss bereits fest: Ich werde mich auf den Weg machen.“

Erstmals 2019 erschien ebenfalls als Eigenproduktion von EDITION digital „Leben aus dem Schatten. Die Memoiren von Cartouche, dem Meisterdieb und Templermeister, Teil 2“ von Arnold Hiess – und zwar sowohl als E-Book wie auch als gedruckte Ausgabe: Der Autor nimmt den Leser mit auf eine Reise ins 18. Jahrhundert und erschuf gleichzeitig ein detailgetreues Paris der damaligen Zeit, in das man beim Lesen nahezu völlig eintaucht. Im vorliegenden zweiten Teil erzählt Arnold Hiess die wahre Lebensgeschichte des Meisterdiebs zu Ende und lässt dabei das damalige Leben und die dramatischen Ereignisse wieder auferstehen. Mit vielen fesselnden Elementen und historisch korrekten Facetten ausgestattet, wird es dem Leser hierbei nahezu unmöglich gemacht, vor dem Ende der Geschichte in sein eigenes Leben wieder zurückzufinden. Dabei lässt Arnold Hiess die Welt der Tempelritter wieder aufleben, die bis zu ihrer Verfolgung und Auslöschung ihr Hauptquartier in Paris hatten, und forscht nach all ihren Geheimnissen und Schätzen. In brillant erzählten Abenteuern und Zeitreisen erlebt der Leser Geschichte seit der Templerzeit und viele spannende Geschehnisse. Cartouche stellt auf seinem Lebensweg die Liebe in drei speziell gedachten Facetten immer mehr ins Zentrum seines Denkens und entwickelt sich im Alter fast zum Philosophen. Das Buch kann dadurch auch als spektakuläre Lebensanleitung für unser heutiges modernes Leben verstanden werden – ganz abseits herkömmlicher Religionen …

Was wirklich zählt im Leben, sind die eigenen Träume und deren Umsetzung – auch gegen den Widerstand vieler Konventionen. Und was wirklich zählt im Leben, ist die Liebe zu einem besonderen Menschen: Wer dieses Glück in sich trägt, sieht mit dem Herzen bereits die neuen Blumenwiesen – auch hinter dem Tod … Im folgenden längeren Ausschnitt aus dem Roman denkt der Mann mit den vielen Namen, der trotz seiner Hinrichtung doch noch am Leben ist, über sein wechselvolles Schicksal nach und erfährt aus einem abgelauschten Gespräch einiges über sich selbst und wie man über ihn dachte – als er noch lebte:

„Kurz darauf drehte ich mich um, setzte meine Maske auf, während meine Gedanken um mein eigenes Leben kreisten. Ich hatte viele Namen: Räuber, Mörder, Bandenchef, Kasper, Schauspieler, charakterloser Filou. Doch ein Name blieb – Cartouche. Und dieser Name hatte ganz Frankreich in Angst und Schrecken versetzt. Rien ne va plus. Denn eigentlich war ich 1721 qualvoll am Rad verstorben; alle dachten dies – doch ich lebte. Diese törichten Narren spielten mit meinem Namen Theaterstücke in den Cafés, diese törichten Narren sprachen noch immer von meinen Taten, über die sie sich köstlich amüsierten. An meinem vermeintlichen Todestag hatte ich ihre Gesichter gesehen – die Gesichter all jener, die mich bespuckten, die spotteten und lachten, und all jener, die mich geißelten wie den größten Sündenbock, den die Geschichte Frankreichs je gesehen hatte. Alle dachten, ich wäre tot; alle dachten, ich würde nicht mehr in diesem Leben weilen – aber ich lebte, werter Leser meiner Memoiren. Ich lebte.

Danach schnaufte ich durch, dachte nach: Es gibt Phasen im Leben, in denen man sich erdrückt fühlt – wie von einer riesigen Anakonda, die dich umschlingt, dir in die Augen starrt, ehe sie zusammendrückt, dir die Luft zum Atmen nimmt, die Rippen bricht und dich dann verschlingt. Und genauso fühlte ich mich in diesem Augenblick. Ich fühlte mich wie in einem Wüstensturm, der dir die Sicht verschleiert, den Sand um die Ohren bläst, dir die Orientierung nimmt – und du hast keine Ahnung, wie dein Weg nun weitergeht, wie du gefahrlos nach Hause kommst.

Während ich die Feder führte, lernte ich; während ich die Feder führte, fühlte ich; während ich die Feder führte, lachte ich; während ich die Feder führte, weinte ich; während ich die Feder führte, liebte ich.

Und oftmals hatte ich in meinem Leben das Gefühl, als würde ich in Messer laufen – lange, spitze Messer, die mir in die Brust gerammt werden. Ich spüre den Schmerz, merke, wie mein Atem versiegt – und dennoch lebe ich. Doch wer rammte diese Messer in meine Brust, ohne dass ich es mitbekommen habe?! Er nannte sich Pierre-Francois-Gruthus Duchatelet.

Schriftsteller in unseren Zeiten meinten oft, dass sie Bilder sehen, Dinge hören und fühlen – Dinge, die sie wach halten, die ihnen den Schlaf rauben, Dinge, die sie an den Schreibtisch zwingen.

Und ich stimme ihnen zu – sie haben recht – denn während man die Feder führt, ergeht es niemandem anders; denn während man die Feder führt, sieht, hört und fühlt man. Immer wieder.

Und wo versteckten sich nun in dieser Stadt die Mörder meiner Mademoiselle? Ich wusste es nicht. Noch nicht.

Kurze Zeit später kletterte ich von den Dächern, sammelte meine Gedanken und musterte kurz meine Umgebung: ein streunender Hund, der über die Straße lief, Wohnhäuser, durch deren geschlossene Fensterläden Kerzenlicht schimmerte, ein seltsamer Mann, der am Straßenrand kauerte, vor sich hin brabbelte und mit den Fingern schnippte, und zwei einachsige, braune Kutschen, die auf der Straße standen. Ich zog meinen Mantel enger um mich, eine schwarze Kapuze über den Kopf, meine Steinschlosspistole aus dem Halfter, deren Lauf im Mondlicht schimmerte – und schlenderte wie eine Katze – auf leisen Pfötchen – zurück in unser Untergrundversteck. Ich hatte noch einiges zu tun: Mein Leben wieder nach vorne leben, die Mörder meiner Elá finden, den heiligen Gral suchen, seine Geheimnisse lüften, Babette zur Seite stehen und die Kinder zu unserer neuen Gilde ausbilden. Aber das Leben ist manchmal wie ein Mühlrad. Klapp. Klapp. Klapp. Immer … dasselbe.

Zwei Männer wanderten am nächsten Tag die Seine entlang, sprachen miteinander. Es war ein sehr sonniger Tag. Die werten Herren trugen feine Gewänder. Einer der beiden schien aus Versailles zu stammen, in dem das gigantische Schloss lag, das der eigentliche Sitz unserer Könige war; der andere war der Polizeileutnant von Paris – Monsieur d´Argenson. Ich versteckte mein Gesicht hinter meiner Maske, drängte mich an einigen Menschen vorbei, verfolgte und belauschte die hohen Herren, ohne dass sie es mitbekamen:

„Die Menschen sprechen noch immer von ihm, mein lieber d´Argenson. Selbst die Theater spielen fortlaufend Stücke mit ihm in der Hauptrolle. Ihr kanntet doch diesen Tunichtgut, oder nicht?!“ – „Oui, Marquis! Er war eine Zeit lang für mich als Spitzel tätig. Ehe er zur Armee ging, beschaffte er mir mehrere Wochen Informationen zu Verbrechern und Kriminellen. Er war wie der Wind – durch ihn konnte ich in den wenigen Wochen, in denen er in meiner Obhut verweilte, so viele Verbrechen aufklären wie nie zuvor.“ – „Die Menschen sprachen davon, dass er besondere Fähigkeiten hatte, wie ein unsichtbarer Geist durch Paris streifte; manche denken sogar, er wäre noch immer am Leben. Lachhaft!“ – „Oui, sie haben recht, er war außergewöhnlich.“ – „Doch von wem lernte er das alles, d´Argenson?!“ – „Ich weiß es nicht, doch die Menschen auf der Île de la Cité sprachen immer davon, dass ihn eine seltsame Madame – vielleicht eine Hexe, die viele Geheimnisse hütete – ausgebildet hat.“ – „Ihr sprecht so gut von ihm – war dieser verrückte Kasper vielleicht Eure geheime Liebschaft? – Wenn er noch am Leben wäre, würde ich doch glatt ein Rendezvous bei Kerzenschein für euch beide arrangieren.“ – „Er war ein besonderer Mann, seltsam, aber besonders; ihn umgab etwas, was ich nie wieder in meinem Leben gesehen habe. Vielleicht lebt er ja in der Tat noch immer – ich würde es ihm zutrauen.“ – „Aber, aber, mein lieber d´Argenson … Dieser Mistkerl nährte sich von Tod und Terror, manche sahen, wie er die Banque Royale überfiel, so als wäre es nichts. Selbst manche Frauen sperrten sich in ihren Häusern ein, wenn man bloß von seinem Namen sprach. Er kann jedoch nicht leben – ich sah mit eigenen Augen, wie er am Place de Grève in Stücke gerissen wurde.“ – „Ihr kanntet ihn doch gar nicht.“ – „Niemand kannte ihn, d´Argenson – dieser Halunke war ein widerliches Monster, das immer wieder allen Sicherheitsvorkehrungen entwischte, und der größte Kasper, den es in Paris je gegeben hat – ich hoffe, er hat nun Spaß daran, sich mit dem Teufel zu amüsieren.“ – „Ihr kanntet ihn nicht, Marquis. Er hatte den Hang zur Selbstinszenierung und veralberte Menschen – oui – doch er war auch anders – ich spürte das und hätte für ihn die Hand ins Feuer gelegt. Er ließ beinahe niemanden an sich ran – diesen Mann umgaben Geheimnisse, nach denen selbst ich nicht fragte. Ich hätte ihn damals fast zur Polizei geholt, wenn er nicht nach einigen Wochen von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden wäre. Es passte aber zu ihm – er kam und ging, wie er wollte, machte, wonach ihm gerade der Sinn stand.“ – „Er? Bei der Polizei?! Macht Euch doch nicht lächerlich, d´Argenson! Wir sollten froh sein, dass dieser Kerl nicht mehr unter den Lebenden weilt.“ – „Ich weiß nicht, Marquis, ich habe das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Pierre-Francois-Gruthus Duchatelet …“ – „Welch Frevel! Hütet Eure erbärmliche Zunge über diesen Mann – er führte uns zu ihm, er ist ein ehrenwerter Bürger und alle Menschen in ganz Frankreich wissen, welch großen Dienst Duchatelet uns erwiesen hat.“ – „Ihr kanntet Cartouche nicht, Marquis! Er war nicht so!“´

Erstmals 1959 war beim Volksverlag Weimar „Die Nachtschicht“ von Wolfgang Held erschienen: Für Artur Milan, Meister in einem Metallwerk, wird die Nachtschicht zur Qual. Seine Frau ist nach mehr als dreißig Ehejahren von einem Besuch bei ihrem Bruder in der Bundesrepublik nicht zurückgekommen und hat ihn in einem Brief zum Nachkommen aufgefordert. Soll er alles aufgeben und seine Kollegen einfach im Stich lassen? Da ist seine Erinnerung an die schweren Jahre nach dem Kriege, als er trotz dauerndem Hunger ein anständiger Mensch blieb und seine Frau diese Entscheidung schweren Herzens billigte. Oder der Schweißer Krauß, der als Schieber im Gefängnis saß. Ruth Wächter gehört nach der Entlassung aus der Haft wegen Diebstahls am Volkseigentum zu seinen besten Drehern. Egon Felsner erhielt im 2. Weltkrieg für die Rettung von 18 Kameraden das Eiserne Kreuz und hat nichts dagegen, dass sein Sohn es im Bach versenkt hat. Der lebenserfahrene Meister Minde spricht von Liebe und Vertrauen. Milan macht sich seine Entscheidung nicht leicht, aber am Morgen steht sie für ihn fest. Die 1959 beim Volksverlag Weimar veröffentlichte Erzählung ist das erste Buch von Wolfgang Held, der über 30 Bücher und 15 Drehbücher geschrieben hat. Hier der Beginn dieses spannend geschriebenen Stücks Zeitgeschichte, das auch nach mehr als fünfzig Jahren durchaus noch lesenswert ist:

„1. Kapitel

Es war kurz nach 22 Uhr.

In der weiträumigen Werkhalle surrten die Drehbänke, zischten Schweißbrenner grelle Lichtblitze, dröhnte Blech unter Hammerschlägen. Die Nachtschicht hatte begonnen. Zu den Obliegenheiten des Schichtmeisters gehörte es. unmittelbar nach Arbeitsbeginn den Kontrollgang zu machen. Längst hatten an diesem Abend die Meister der einzelnen Bereiche ihre Anwesenheitsmeldungen für den Schichtmeister fertig, doch er kam nicht.

„Vielleicht ist er in einem anderen Bereich aufgehalten worden“, erklärten sich die einen dieses außergewöhnliche Vorkommnis. Andere schmunzelten schadenfroh: „Die Zeit verbummelt - warum soll ausgerechnet dem Milan nie so etwas passieren!“

Der Schichtmeister Artur Milan war jedoch weder aufgehalten worden, noch zum ersten Male seit Jahren unter den „Nachzüglern“ gewesen. Er saß in seinem kleinen, von der Werkhalle abgeteilten Arbeitsraum und hatte vor sich auf dem Schreibtisch das aufgeschlagene Schichtbuch liegen. Unverwandt blickte Artur Milan auf die eckigen Bleistifteintragungen, die der Meister der Spätschicht gemacht hatte: „Kostenstelle 134 dringend Elevatorwellen für Mähdrescher ... Im Schiff drei Hinterachsbolzen ... Zehn Vorderachsrohre schweißen ... Jeder Satz enthielt eine Aufgabe für die bevorstehende Nacht. Es waren viele Aufgaben. Die Zeit drängte. Anweisungen mussten gegeben werden. Für die Härterei, an die Schweißer, für die Kollegen an den Fräsen - wertvolle Minuten verstrichen. Regungslos saß Meister Milan da, starrte auf die Schrift, und nicht ein einziges dieser Worte wurde ihm bewusst. Nur ein Gedanke war seit Stunden in seinem Kopf und ließ für nichts anderes Platz. Artur Milan wollte diese Last abwerfen, wollte mit hundert Gründen einfach alles beiseiteschieben und als törichtes Hirngespinst abtun. Vergeblich. Tatsache blieb Tatsache: Sie war nicht zurückgekommen!

Den ganzen Nachmittag hatte Schichtmeister Milan am Bahnhof gewartet. Hunderte von Menschen waren an ihm vorbei durch die Sperre gegangen. Lachende Menschen, ernst blickende Menschen - seine Frau war nicht gekommen! Nicht um 15:36 Uhr, nicht 17:18 Uhr und auch nicht 18:45 Uhr. Er hatte es trotzdem nicht aufgegeben. Sogar dann nicht, als kein Zug aus jener Richtung mehr zu erwarten war. Er hatte sich an einen Ausnahmefall geklammert, irgendeine Zugverspätung vielleicht. Herrgott noch mal, es musste doch so eine ganz ausgefallene Möglichkeit geben! Noch eine Stunde wartete er voll Ungeduld. Der Mann an der Auskunft kannte ihn schon. „Es ist sinnlos. Kollege, vielleicht morgen!“

„Vielleicht morgen ...“, damit hatte sich Artur Milan gestern noch zufriedengegeben. Das Abschiednehmen fällt ihr schwer nach diesem Wiedersehen mit ihrem Bruder, so konnte er gestern noch verständnisvoll denken. Heute Vormittag aber war der Brief gekommen, dieser unbegreifliche Brief!

Jede Zeile, Wort für Wort hatte Artur Milan im Gedächtnis: „Alles ist so herrlich hier! Paul hat eine wunderbare Wohnung, eine Werkwohnung. Er sagt, Du kannst sofort in der Fabrik als Meister anfangen, und einen Kredit bekommst Du auch. Und als Lohn, stell Dir vor, 750,- Westmark im Monat! Das mit den Entlassungen wäre halb so wild, sagt Paul, da kommen vor allem die Politischen dran. Außerdem hat er einen guten Stand bei seinen Chefs und sorgt schon für Dich. Er hat sogar schon mit ihnen gesprochen. Artur, komm und bring nur das Wichtigste mit. Vielleicht kannst Du von meinen Kleidern noch das Mattgraue im Koffer unterbringen und, wenn es geht, auch die schwarzen Pumps. Ich habe sie kaum getragen ...“ Paul! Sie hat sich beschwatzen lassen von diesem Speichellecker! Die Knöchel an Artur Milans Fäusten wurden weiß. Er dachte an die Zigarren, an den Kaffee und an die Briefe, in denen er selbst Dank geschrieben hatte für jedes Päckchen, das von drüben gekommen war.

Gut, Paul ist ihr Bruder, aber bin ich nicht ihr Mann, zu dem sie gehört? Über drei Jahrzehnte ist sie an meiner Seite gegangen, und es hat schwere Zeiten gegeben. Jetzt, ausgerechnet jetzt kommt dieser Brief. Ihre Hand hat diese Sätze aneinandergereiht? Die gleiche Hand, deren seltene Zärtlichkeiten Artur Milan in all den Jahren wie wärmendes Sonnenlicht empfunden hatte, deren regsamen Fleiß er genauso achtete wie die Arbeit seiner eigenen Hände. Nun schien sie ihm plötzlich fremd geworden, diese Hand.

„... bring nur das Wichtigste mit!“ - Artur Milan bekam einen schmalen, strengen Mund bei dem Gedanken an diese Zeile. Das mattgraue Kleid und die schwarzen Pumps! Sie hat vergessen, was das alles für Mühe und Schweiß gekostet hat, der gedeckte Tisch, das Radio, die neuen Möbel und überhaupt alles in unserem Leben! Sie ist nicht gekommen! Sie wartet drüben auf mich ...

Heftig wurde in diesem Augenblick die Tür aufgerissen. Ein Mann im ölfleckigen Arbeitsanzug stürmte herein, kam ohne Gruß auf Artur Milan zu und hielt ihm ein knapp daumengroßes Etwas unter die Nase. „Hier, Meister, schau dir das an ... ausgebrochen! Und das schon nach einer halben Stunde!“

Artur Milan nahm ihm den Drehstahl aus der Hand, musterte die Bruchstelle und begann, eine Anweisung für das Materiallager auszufüllen. Verwundert beobachtete ihn der Kollege dabei. Nanu, staunte er, der sucht ja heute nicht mal bei mir nach dem Grund ... scheint krank zu sein, der Alte! Als er den Zettel in der Hand hielt, machte er sich schleunigst aus dem Staub. Schließlich konnte man ja nie wissen ... Vielleicht besann sich der Meister doch noch!

Artur Milan aber hatte den Vorfall vergessen, noch ehe der Kollege die Tür hinter sich wieder schloss. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass sie fährt! warf sich der Meister vor und wusste doch im gleichen Moment, wie sinnlos jetzt solche Überlegungen geworden waren. Und die beiden Jungen? „Die beiden Alten sind verrückt geworden!“, werden sie zu ihren Frauen sagen. Vielleicht sogar noch Schlimmeres, jedenfalls der Manfred auf seiner MTS da oben in Mecklenburg. Aber was habe ich da eben gedacht? Die beiden Alten? Ist es denn schon so weit mit mir? ... Ja. aber verdammt noch mal, was soll ich denn noch hier ohne Hilde? Schichtmeister Milan rieb seine schmerzende Stirn. Ganz zufällig fiel sein Blick auf die Uhr über dem Sanitätskasten an der Wand. Schon wollte er sich wieder abwenden, da traf es ihn wie ein Schlag. Halb elf?

Halb elf! Noch keine Aufgabenverteilung, keine Anwesenheitsmeldung. ... Zum Teufel, Schluderei soll mir keiner nachsagen können, wenn ich wirklich ... Artur Milan zwang sich, diesen Gedanken nicht aufkommen zu lassen. Er ging zur Tür, und bevor ihn das Maschinendröhnen der Werkhalle empfing, war in seinem Kopf für den Bruchteil einer Sekunde die Erinnerung an die Sache damals mit dem Rucksack. Wenn ich wenigstens mit Hilde sprechen könnte, dachte er noch, dann nahm ihn der Arbeitslärm auf. Damals, das war im Herbst 1945 ...“

Pünktlich zum 91. Geburtstag der Autorin am 6. August dieses Jahres war als Eigenproduktion von EDITION digital „Meine Irrungen, Wirrungen“ von Gisela Heller erschienen – und zwar wiederum als E-Book und als gedruckte Ausgabe: Auf eine Reise durch ihr langes und bewegtes Leben lädt die Journalistin, Schriftstellerin und Fontane-Expertin Gisela Heller die Leser mit ihren Erinnerungen ein. Ausführlich, detailreich und lebendig beschreibt die Autorin ihren nicht immer leichten Weg von der Flucht aus ihrer schlesischen Heimat und ihren beruflichen Anfängen in der frühen DDR über ihre journalistische Arbeit für Hörfunk und Fernsehen bis zur näheren Beschäftigung mit einem berühmten Kollegen, der ihr zum hauptsächlichen Arbeitsinhalt und Stützpfeiler für ihr Leben werden sollte Theodor Fontane. Kein Schriftsteller ist mir so nah wie Theodor Fontane, bekennt die Autorin und entdeckt, je mehr und je intensiver sie sich mit ihm beschäftigt, viele Parallelen in ihrer beiden Lebensbögen. Ich habe ihn mir nicht ausgesucht; er ist mir zugewachsen mit der Zeit. Das Buch bietet zudem spannende Inneneinsichten aus der Welt der Medien und Kultur der DDR, der Wende und Nachwendezeit bis zur Gegenwart und präsentiert eine Reihe von Porträts von Politikern, Journalisten- und Künstlerkollegen. Zugleich spart der umfangreiche Text familiäre Freuden und Schwierigkeiten nicht aus und zeigt, wie es der Autorin immer wieder gelang und gelingt, teils schwere Krankheiten, Krisen und Konflikte zu überstehen und sich eine positive Lebenseinstellung zurückzuerobern. Die berührende Autobiografie schließt mit den Worten: „Die Zeit der großen, unerfüllbaren Wünsche ist vorbei; nur einer blieb: Möge ein versonnenes Lächeln das Gesicht derer verklären, die an mich denken. C´est ça.“ Und damit zum Anfang der spannenden Erinnerungen von Gisela Heller, wobei wir gleich denjenigen Menschen kennenlernen, dem sie ihren Nachnamen verdankt:

`„Die Welt ist nun einmal wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht so wie wir wollen, sondern wie die andern wollen.“
Theodor Fontane: „Effi Briest“

Zugegeben, die Szene hätte grotesker nicht sein können: Auf freiem Feld ein dünnwandiges Sommerhaus, um das nasskalter Dezemberwind heult. Drinnen, in der sparsamst möblierten Wohnstube, Hansjochen in der Rolle des jugendlichen Liebhabers, der mit goetheschem Pathos meine verdutzten Eltern um die Hand ihrer Tochter bittet; eine ebenso überraschte „Braut“ und deren kleine, etwas schulschnabberige Schwester Henny. Niemand wusste, was da eigentlich gespielt wurde: Komödie, Tragödie oder Farce. Immerhin, vor Tagen sah es eher nach Tragödie aus. Ich lag apathisch mit Nervenfieber und unerklärbaren Blutungen auf dem ausgebeulten Seegrassofa meiner Eltern und wusste nicht ein noch aus. Die so sicher erschienenen Kulissen meiner Welt waren zusammengefallen. Die vergangenen Wochen und Monate lasteten wie ein Albtraum auf meiner Seele und der Mund versiegelt. Papa und Mama wagten nicht, Fragen zu stellen, doch sie ahnten Schlimmes.

Da war nun, wie der Deus ex machina in der Griechischen Tragödie, Hansjochen, mein fideler Reporterkollege vom Landessender Weimar, hereingeschneit und hatte alles durcheinandergewirbelt, mit Turbogeschwindigkeit, denn er musste, um wieder heimzukommen, einen der wenigen Züge erreichen, die auf dem kleinen Bahnhof hielten. Schließlich konnte man ihn ja nicht auf dem Küchenstuhl übernachten lassen. Papa hatte ihn bis zum Gartentor begleitet, wir schauten ihm hinter der Gardine nach. Er machte noch einen bühnenreifen Kratzfuß in unsere Richtung und hüpfte dann vergnügt auf einem Bein durch Himmel und Hölle, die Henny als Hopsekästel in den Sandweg gezeichnet hatte. Mama schüttelte ungläubig den Kopf, wusste nicht, was sie von alledem halten sollte. „Vater, nun sag du doch mal was!“, drängte sie ihren Mann, der immer und in allen Lebenslagen Rat wusste. Papa verzog die Mundwinkel: „Komödiant!“, sagte er in gewohnt lakonischer Kürze. Hansjochen war wirklich Schauspieler, leider nur für anderthalb Spielzeiten, dann hatte er, contre cœur, in den Krieg ziehen müssen, wo er nach vier Jahren an der Westfront 1945 – Ironie des Schicksals – in sowjetische Gefangenschaft geriet, aus der er erst im Juni 1949 heimkehrte; mit ungeheurer Daseinsfreude und dem Vorsatz, acht vorenthaltene Jahre vehement nachzuholen. Daher vielleicht die Eile, der überstürzte Heiratsantrag …

„Sag bloß, du willst den hässlichen, alten Vogel wirklich heiraten!“, trompetete meine kleine Schwester. „Lustig isser ja, aber Brille, Sommersprossen und rote Haare! Den kannste als Vogelscheuche in den Kirschbaum stellen, aber doch nicht heiraten!“ „Henriette!“, warnte Mama. So wurde sie nur genannt, wenn „Achtung!“ geboten war. „Na ja, is doch wahr! – Warum heiratest du nicht Siegi, der is viiiel hübscher, und immer so schnieke angezogen!“

Es war bei uns nicht üblich, dass sich Kinder in Familienangelegenheiten einmischten, noch dazu in so despektierlichem Ton. Darum wurde sie zur Strafe und Belehrung ins Bett geschickt. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, konnte Mama nicht mehr an sich halten: „Hast du dir das wirklich überlegt? Du kennst Hansjochen doch kaum. Ehrlich gesagt, wenn du schon heiraten willst, was ja eigentlich nie zur Debatte stand, warum nicht Eberhard?“ Ebi war der schlaksige Sohn meiner „möblierten Wirtin“, Alleinerbe der väterlichen Firma „Lebensmittel en gros“. Was Besseres hätte mir nicht passieren können in den Hungerjahren, in denen ein halbes Butterbrötchen schon als Delikatesse galt. Von seinen „Dienstreisen“ brachte er mir manchmal Cadbury-Schokolade mit, ein Hauch der großen, weiten Welt. Ebi war zweifellos das, was man landläufig „eine gute Partie“ nannte, auch liebenswert, aber leider totsterbenslangweilig.

„Und Siegi?“ Darüber wollte ich nicht sprechen. Vor allem: Darüber durfte ich nicht sprechen. Dann lieber über Hansjochen. Seit dem Sommer war ich mehrere Tage mit ihm im Übertragungswagen durch halb Thüringen gefahren. Es war die lustigste Zeit meines Lebens. Als jüngste Reporterin des MDR-Schulfunks hatte man mich ausgeschickt, um von den Kindern zu berichten, die aus den Zwergschulen entlegener Gebirgsdörfer in Zentralschulen gefahren wurden, um dort eine ordentliche Ausbildung zu bekommen. Dies geschah, – Symbol einer neuen Zeit! – meist in requirierten Schlössern oder Herrenhäusern, in denen sie oft auch die ganze Woche über wohnen konnten. Als besonders leuchtendes Beispiel nannte man mir einen kleinen Ort im südlichsten Zipfel Thüringens. Dafür jedoch zwei Tage lang einen der wenigen Ü-Wagen abzustellen, fanden sie uneffektiv, ich sollte mich bei den Kollegen vom Landessender Weimar einklinken. Es passte mir überhaupt nicht; aber man schlug mir den schönen und oft missbrauchten Satz von der „Einsicht in die Notwendigkeit“ um die Ohren und so saß ich eines Morgens in der Veranda des Bahnhofshotels in Weimar und löffelte mein Vier-Minuten-Frühstücksei, als eine sehr ausgeschlafene Stimme hinter mir einen wunderschönen guten Morgen wünschte. „Landessender Weimar. Hansjochen Heller. Wir werden also zwei Tage miteinander das Vergnügen haben!“ Das klang verdammt nach „kam, sah und siegte“. Ich dachte hoppla!, schaute demonstrativ auf meine Uhr und meinte: „9 Uhr 15! Waren wir nicht um 9 Uhr verabredet? Pünktlichkeit ist eine Zier!“ „Ich weiß, meine Gnädigste, und die Höflichkeit der Könige, aber ich bleibe lieber bürgerlich. Und wie ich sehe“ – er schielte betont auf mein halb ausgelöffeltes Frühstücksei, – „haben wir schon einen gemeinsamen Grundsatz!“ „Frechdachs!“ Aber ich zahlte mit gleicher Münze heim: „Sie sind wohl der Tölpel-Hans aus dem Märchen, der auf jede Frage eine Antwort wusste?!“ „Genau der bin ich und der am Ende die Prinzessin bekam!“… Ich gab mich lachend geschlagen: „1:0 für Weimar!“ Tölpel-Hans schwang sich, wie gewohnt, vorn auf den Beifahrersitz und ich musste im abgeschlossenen hinteren Teil des Ü-Wagens das unbequeme harte Bänkchen mit dem Ton-Ingenieur teilen. „Sie müssen es nicht tragisch nehmen“, versuchte er, seinen Kollegen in Schutz zu nehmen, „aber er ist erst vor Kurzem aus sowjetischer Gefangenschaft gekommen und noch nicht so ganz im zivilen Leben eingerastet. Vielleicht ist er auch nur zu schüchtern einer jungen und hübschen Dame gegenüber, immerhin gab es für ihn vier, streng genommen acht Jahre lang keine Gelegenheit …“ Möglicherweise hatten die beiden vorn in der Fahrerkabine mitgehört, jedenfalls hielt der Wagen plötzlich an, Hans Heller riss die Tür auf und sagte leichthin: „Ich glaube, wir sollten jetzt mal die Plätze tauschen!“ Ich zwinkerte dem netten Ton-Ingenieur zu: „Hat seine gute Kinderstube doch nicht ganz vergessen!“ Irgendwann setzten wir ihn in einem der großen Volkseigenen Betriebe ab und fuhren weiter zu der vorbildlichen Zentralschule, an die ich mich nicht mehr erinnere.“

Wer also gern mehr über das ebenso abwechslungsreiche wie kämpferische, lange Leben der Gisela Heller erfahren möchte, während dessen ihr ein gewisser Theodor Fontane immer näher kommt, der nehme ihre im besten Sinne des Wortes bunten Memoiren „Meine Irrungen, Wirrungen“ zur Hand. Begegnungen mit spannenden Leben, mit ihren Schönheiten und Schwierigkeiten sowie mit nicht immer ganz leichten Entscheidungen bieten aber auch die anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters – und damit spannenden Lesestoff.

Also, Sie haben die Wahl. Viel Vergnügen beim Auswählen und Lesen, weiter einen schönen Sommer und gute Gesundheit und bis demnächst – dann schon im September.

DDR-Autoren: Newsletter 28.08.2020 - Pilgerreise zurück ins Leben, ein abenteuerliches Leben unter der Maske