DDR-Autoren
DDR, CSSR, Sowjetunion, Polen ... E-Books, Bücher, Hörbücher, Filme
Sie sind hier: DDR-Autoren: Newsletter 10.06.2022 - Ein seltsames Abkommen mit Gott, Töten aus Sehnsucht sowie eine Liebe auf

Ein seltsames Abkommen mit Gott, Töten aus Sehnsucht sowie eine Liebe auf dem Lande - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 10.06. 2022) – Die Literatur lebt von Menschengeschichten, von sehr unterschiedlichen Menschengeschichten. Immer wieder ist es spannend zu lesen, wie es anderen Menschen, kleinen und großen Menschen, auf dieser Welt ergangen ist und ergeht. Das ist auch bei den fünf aktuellen digitalen Sonderangebote nicht anders, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 10.06. 22 – Freitag, 17.06. 22) zu haben sind.

Da ist in „Gerda, das Nuschtchen. Drei Erzählungen zwischen Königsberg und Tangermünde“ von Elisabeth Schulz-Semrau von einer jungen Frau die Rede, die es langsam verlernt, ihre Herrschaft als „Die Gnädige“ anzureden.

In dem Krimi „Tantalus“ von Heinz Kruschel tötet einer aus Sehnsucht. Major Korsar und seine Kollegen wollen herausfinden, was den Mörder zu seinem Verbrechen getrieben hat.

Um eine Liebe auf dem Lande, als es dort noch Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften gab, geht es in „Rette mich wer kann“ ebenfalls von Heinz Kruschel. Diese Liebe entsteht zwischen einer jungen Buchhalterin und einem jungen Journalistik-Studenten, als dieser die Wirklichkeit erkunden will und eine Liebe findet.

Ein kleiner Junge hat traurige Gründe, warum er nicht mehr schlafen will. Davon erzählt Volker Ebersbach sehr poetisch in „Timo Nimmerschlaf. Ein Märchen aus alter Zeit für Kinder, die nicht gern schlafen“. Und am Ende wird doch alles gut. Es ist eben ein Märchen.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Dem heutigen Buch hat die Autorin ein spannendes Zitat der US-amerikanischen Schriftstellerin und Literatur-Nobelpreisträgerin des Jahres 1938, Pearl S. Buck, vorangestellt: „Viele Menschen versäumen das kleine Glück, während sie auf das große vergebens warten“. Und genau darum geht es – um das Glück, das man in und mit der Natur erfahren kann – aber auch darum, was man tun kann, damit die Natur geschützt wird, damit sie weiter Glück spenden kann.

Erstmals 2017 veröffentlichte Irma Köhler-Eickhoff als Eigenproduktion von EDITION digital „Vogelgezwitscher aus dem Garten am Wald“ – und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book. Dazu schreibt die Autorin: Mit dem „Garten am Wald“ hatten wir uns rund um unser Wohnhaus ein kleines Refugium geschaffen, in dem wir im Laufe der Jahre immer wieder von unseren „ Mitbewohnern“ überrascht wurden. Die Tiere, die der Gartenteich angelockt hatte, fühlten sich genauso wohl dort wie wir. Besonders viele Vögel hatten sich bei uns eingefunden.

Wir staunten über ihre Vielfalt, beobachteten die Amseln, die ihre Kräfte beim Zusammentragen des Nistmaterials fast überschätzt hatten und litten später mit ihnen, als ihr Nest ausgeraubt wurde. Wir brachten eine kleine Blaumeise fast zur Verzweiflung, weil wir ihre „Hilferufe“ lange nicht deuten konnten, zitterten mit der kleinen Schwalbe, die Angst vor dem Fliegen hatte, hielten mit dem Rotkehlchen die Luft an, als es beobachtete, wie sich eine Ringelnatter einen Frosch aus dem Teich holte, und vieles mehr. Doch lassen wir die Vögel selbst erzählen“, schlägt die Autorin vor. Lassen Sie sich also einladen in das kleine Refugium rund um das Wohnhaus und die Natur genießen:

„Viele Menschen versäumen das kleine Glück,

während sie auf das große vergebens warten.

Pearl S. Buck

Ein Sonntagmorgen der Erinnerungen und Entschlüsse

Es ist Sonntagmorgen. Die Sonne lockt mich gleich nach dem Aufstehen in den Garten. Langsam gehe ich über den noch feuchten Rasen, schaue über die Blumenbeete, bewundere wie so oft die Tautropfen auf den Blättern des Frauenmantels. Ich lasse meinen Blick über die Rosen an der Hauswand schweifen und sehe die erste große Knospe. Noch ist sie geschlossen. Doch der feine rote Rand der gelben Blütenblätter zeigt sich bereits verheißungsvoll. Im Laufe des Tages wird sich diese Knospe zu einer großen Blüte öffnen. Ich setze mich an den Teich, genieße die sonntägliche Ruhe und lausche dem facettenreichen Gesang des Amselmännchens, das ein Duett mit einem Artgenossen im Wald angestimmt hat. Dabei wandern meine Gedanken zurück in unsere erste Zeit auf diesem Grundstück.

Als wir den Bauplatz hier am Wald kauften, war die gesamte Fläche des Eckgrundstückes bereits von Baufahrzeugen festgefahren. Beide direkten Nachbarn hatten das noch freie Grundstück als Lagerplatz für ihr Baumaterial genutzt. Während unserer Bauphase taten wir es ihnen gleich. Weder wir noch die Handwerker achteten darauf, ob sich Vögel oder andere Tiere dort aufhielten und von uns gestört oder gar vertrieben wurden.

Einige Tage vor Weihnachten war es endlich so weit, wir bezogen unser neues Heim. Den Winter nutzten wir, um einen Gartenplan zu erstellen. Nach einigen Diskussionen beschlossen wir aber, nach dem Ausheben eines Teiches zunächst die übrige Gartenfläche mit Gründüngung zu versorgen, damit der Boden sich von den Strapazen der Bauphase erholen konnte. Doch bevor wir im späten Frühjahr damit beginnen konnten, wurden wir von den Schwalben überrascht. Dort, wo später der Einstellplatz für unsere Autos gepflastert werden sollte, bildete sich nach einem heftigen Regenguss eine große Lehmpfütze. Die Schwalben, die gerade aus dem Süden zurückgekehrt waren, nutzten die Gelegenheit und bauten aus Stroh, Gräsern und dem nassen Lehm neue Nester unter dem Dachüberstand an der Südseite unseres Hauses. Die ganze Schwalbenkolonie arbeitete einige Tage ohne Pause. Erst als sie den feuchten Lehm vollständig verarbeitet hatten, beendeten sie ihr Werk. Um die Schwalben bei ihrer Arbeit nicht zu stören, hatten wir uns an diesen Tagen nicht in den Garten gewagt. Jetzt waren wir gespannt. Neugierig schauten wir nun unter unseren Dachüberstand und zählten zweiundzwanzig Nester!

Jetzt wurde es aber Zeit, die Gründüngung in die Erde zu bringen. Wir hatten uns für Lupinen entschieden. Für jeweils fünf Samenkörner mussten kleine Löcher in den Boden gehackt werden. Es wurde eine beschwerliche, schweißtreibende Angelegenheit, denn der Boden war ziemlich trocken und hart geworden. Aber nach einigen Tagen anstrengender Arbeit waren rund um den Teich die Lupinen in der Erde. Schon folgte die nächste Überraschung. Als wir morgens aus dem Fenster sahen, erblickten wir Dutzende Grünlinge, die über unser holpriges Gartenland schritten und einen Lupinensamen nach dem anderen aus der Erde pickten. Damit nicht genug, scheinbar sprach sich der so reichlich gedeckte Tisch bei den Vögeln herum, denn einen Tag später kamen sehr, sehr viele Birkenhänflinge und Erlenzeisige dazu und ließen es sich ebenfalls schmecken. Zwiespältig beobachteten wir vom Haus aus die „Herde“ der Vögel. Einerseits freuten wir uns, dass die Vögel den Weg zu uns gefunden hatten, andererseits befürchteten wir, dass die Lupinen, die in der Erde verblieben, nicht mehr ausreichen würden, um den Boden zu verbessern. Doch wir entschieden uns für die Vögel und ließen sie picken, bis sie genug hatten und von alleine wegblieben. Die Bodenverbesserung fiel dadurch nicht so üppig aus wie geplant, war aber noch ausreichend genug, damit im Folgejahr die Gartenbepflanzung gut anwuchs.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 2007 veröffentlichte Elisabeth Schulz-Semrau „Gerda, das Nuschtchen. Drei Erzählungen zwischen Königsberg und Tangermünde“: Die todkranke Mutter der dreizehnjährigen Gerda bittet die „Gnädige“, bei der sie zusätzlich zu ihrer Arbeit an der Wäscherolle beim Hausputz hilft, sich um ihre Tochter zu kümmern. Als die Frau drei Tage später stirbt, wird die (fast) fensterlose Speisekammer als Schlafraum für das Mädchen hergerichtet, das ein Jahr später die Schule verlässt und die entlassene Dienstmagd ersetzt. Gerda hält auch auf der Flucht aus Königsberg ihren „Herrschaften“ die Treue und trägt in der schweren Nachkriegszeit mit ihrer Hände Arbeit in der neuen Heimat Tangermünde ganz wesentlich zur Ernährung bei. Ganz allmählich und sehr zaghaft entwickelt sich bei Gerda etwas Selbstbewusstsein, die nun die Frau nicht mehr „Gnädige“ nennt. Hier der Anfang des Buches:

„Karalautschi

Das lang gestreckte Zimmer der Großmutter war so etwas wie die Erdachse meiner ersten Jahre.

Hier verbrachte ich die wenigen heilen Stunden meiner Kindheit. In meinem Elternhaus in Karalautschi, Tragheimer Kirchenstraße siebzehn, waren meine Tage von Ängsten durchwoben.

Angst vor dem alten strengen Mann, meinem Vater, vor den plötzlichen Launen meiner schönen, umschwärmten Mutter, Angst vor der Schule, vor dem Alleinsein, vor dem Zusammensein.

Angst war irgendwie das Vorzeichen all meiner Handlungen.

Dagegen hatte ich ein seltsames Abkommen mit Gott geschlossen.

Auf meinem Schulweg, der natürlich immer mit irgendetwas, das ich vergessen, nicht ordentlich oder gar nicht erledigt hatte, beschwert war, kam ich an der Konditorei Kaiser vorbei. Ich verweilte kurz vor den gefüllten Schaufenstern und begann mit meinem Ablasshandel. Also, lieber Gott, heute bekommst du zehn Stück Bienenstich, zehn Sahnerollen, fünfzehn Streuselschnecken, zehn Marzipanschnittchen, zwanzig Windbeutel, fünfzig Baiser mit Schlagsahne (das aß ich selbst am liebsten), davon ... und davon ... Danach folgten Bestellungen aus dem Milchladen und aus der Fleischerei.

Manchmal reicherte ich die Lebensmittelladung rasch noch ein wenig an, es konnte ja sein, der Gott war nicht zufrieden, würde mir also auch nicht genügend zur Seite stehen, wenn mich das Leben am Wickel hatte.

Er musste wohl nach meiner Vorstellung unheimlich essen können, dieser Gott, schließlich war er allmächtig.

Und darum reichte es auch völlig, ihm all die Dinge nur zu wünschen. Wie sie ohne Komplikationen und ohne Lebensmittelkarten aus den Geschäften zu ihm gelangten, war mein Problem schon nicht mehr.

Die Geborgenheit im Zimmer meiner Großmutter, aber auch das begriff ich zu spät fast, kam vor allem von der Persönlichkeit meiner Tante Ella her.

Bei Tante Ella gab es das beste Essen der Welt. Hühnerfleisch oder dünne Brotscheiben, deren Rinden abgeschnitten waren, mit duftender Butter und köstlicher Wurst. Ihre vier jüngeren Brüder, Landwirte alle, kamen aus dem Masurischen nie nach Karalautschi, ohne bei Tante Ella Station zu machen.

Was Essen betraf, war ich von meinen Eltern nicht verwöhnt.

Und natürlich versuchte meine Mutter auch hier ihren berühmten Blick, der, wenn Leute fragten, möchtest du noch etwas, mich sofort antworten ließ: Danke, ich bin satt.

Denn es gehörte sich nicht, mehr als ein Häppchen von einer Speise zu sich zu nehmen.

Lass bloß das Kind essen, sagte meine Großmutter drohend, das e zum ä hin, also äßen.

Würdig, in schwarze Kleider mit Puffärmeln, Spitzenjabots oder Samteinsätzen kleidete Tante Ella ihre Mutter. Nie sah ich ein helles Kleidungsstück an ihr.

Einmal hängte man ihr ein goldenes Kreuz um den Hals, und es nahm sich wie eine schwere Last an dem dünnen Frauchen aus.

Aber vielleicht kam der Eindruck vielmehr von dem Mann, der dieses Mutterkreuz überbrachte. Er steckte prall in einer goldfarbenen Uniform und strahlte gegenüber der Verletzlichkeit der Greisin eine erdrückend gewalttätige Gesundheit oder Männlichkeit aus, die das ganze Zimmer einzunehmen schien. Tante Ella riss, sofort nachdem er weg war, die Fenster weit auf, und der Orden wurde ins Kästchen zurückgelegt, blieb allerdings an diesem Tag für alle sichtbar auf der Nähmaschine liegen.

Überhaupt die Nähmaschine.

Man konnte sie einklappen. Versenkbar, sagte Tante Ella, eine Singer. Für mich ein wichtiges Möbel in Großmutters Zimmer.

Für meine Tante sollte sie ungleich wichtiger werden. Sie würde damit für sich und zwei andere kranke Menschen in schwerster Zeit Leben ernähren.

Meist, wenn ich zu Besuch kam, war auf der Nähmaschine eine Überraschung für mich aufgebaut. Zum Geburtstag aber fand ich in jedem Jahr, neben meinen neu eingekleideten Puppen und selbst gebackenem Kuchen, etwas, wozu meine Mutter selten Zeit verschwendete, mein Allerschönstes: Gezuckerte Erdbeeren, frisch gepflückt, aus Tante Ellas Garten.

Und -

Heiligabend, nach dem Mittagessen.

Schwarzsauer hatte es gegeben; meine Mutter musste wie üblich tadeln, ich äße mit langen Zähnen.

Ich kämpfte wirklich mit den schwärzlich geronnenen Blutflocken um den grauen, runzligen Gänseflügel, der mir zugeteilt worden war. Die Tatsache dieses Tages ließ es mich schaffen. Sie bekämen es fertig, mich sogar heute vor der grässlichen Suppe bis zum Abend sitzen zu lassen.

So stand unserm Aufbruch nichts mehr im Wege. Edith, Martha, Gerda oder wen wir gerade hatten, durften an diesem Tag Angehörige besuchen, wir, die Eltern und ich, gingen zur Großmutter.

Und da die Zeit durch meine Sampelei, wie meine Mutter feststellte, ziemlich vorgerückt war, wurde zu meiner Erleichterung beschlossen, wenigstens eine Tour zu fahren.

Wir gingen auf unserer Straßenseite an den vier Häusern bis zur Tragheimer Kirche entlang, überquerten die Fahrbahn zur Hohenzollernstraße hin, gingen den sanft gebogenen Straßenschlauch hoch bis zum Steindamm, bogen rechter Hand um die Ecke, um dort auf eine der beiden möglichen Straßenbahnen zu warten.

Bis die Bahn heranzuckelte, liebäugelte ich mit den Süßigkeiten im Schaufenster von Tengelmann oder starrte voll Widerwillen in den Fischladen daneben, auf die rosafarbenen Krabben, die mich an dicke Würmer erinnerten.

Während all der Zeit und noch in der Straßenbahn zupfte meine Mutter an mir herum.

Da hatten meine Strümpfe Röllchen, ein goldfarbener Knopf mit Anker war womöglich am Matrosenmantel verloren gegangen, und man hatte es zu Hause nicht bemerkt, ein Zopf löste sich, oder die Matrosenmütze, die die Inschrift "Schlachtschiff Gneisenau" hatte, musste über den Mantelkragen gezogen werden. Schlimmer war, meine Mutter spuckte aufs Taschentuch, um irgendwelche dunklen Spuren aus meinem Gesicht zu rubbeln.

Dazwischen meines Vaters Belehrungen: "Grade, Mädel, Schultern zurück! Lächle, leg die Stirn nicht so in Falten!" Und es konnte auch sein, dass er mich mit Multiplikationsaufgaben oder Geschichtszahlen examinierte.

Die zweite Haltestelle war der Nordbahnhof, jener, den ich liebte, von hier aus konnte man in einer halben bis vollen Stunde die verschiedenen Ostseebäder erreichen. Meist hatten wir uns von Mai bis August irgendwo eingemietet, und ich war täglich zur Schule gefahren.

Das Haus Ziethenstraße achtzehn, ein Doppelhaus übrigens, gehörte der Tante oder dem kriegsversehrten Onkel.

Nun ist es wirklich Zeit, zu klingeln, wir stehn vor einer Tür im ersten Stock rechts.

Ein Spalt nur wird geöffnet und - wie jedes Mal - guckt die Tante erst vorsichtig, schlägt dann mit gekonnter Überraschung die Hände zusammen.“

Erstmals 1985 erschien im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig der Kriminalroman „Tantalus“ von Heinz Kruschel: Die Legende erzählt von Tantalus, der die Götter versuchte. Sie straften ihn mit den sprichwörtlich gewordenen Tantalusqualen: Er leidet Hunger und Durst angesichts der verführerischsten Labsale.

Heinz Kruschel erzählt in seinem ersten Kriminalroman von einem, der tötete, weil er seine Sehnsucht stillen wollte. Alles beginnt wie in einem richtigen Kriminalroman: Ein Toter wird aufgefunden. Doch es wird niemand vermisst. Ist der Tote Adolf Peters? Aber der schrieb Karten von jenseits der Grenze. Und wer hätte ein Motiv gehabt, ihn zu töten? Die attraktive, tüchtige Sonja Peters? Ihr erster Mann, der Architekt Thunberg? Sonjas Tochter Ute? Und Gerald, Utes Freund, ständiger Gast der Peters? Ein fremder Mann besuchte Peters im Wohnheim. Die Inventur in Sonjas Kiosk brachte Unregelmäßigkeiten ans Licht. Vielleicht hatte Peters mit dem Betrug zu tun.

Major Korsar und sein Mitarbeiter Franz klären den Fall auf. Für den Täter beginnen Tantalusqualen ...

Aber in diesem Roman geht es nicht nur um das Aufklären eines Kriminalfalles, sondern auch um das Erhellen der psychologischen Bedingungen dieses Verbrechens. Am Anfang jedoch steht eine Entdeckung, eine grausige Entdeckung, eine entsetzliche Entdeckung:

„DER FUND

Die beiden Jungen verließen den zugefrorenen Tümpel, nachdem sie lange Schlittschuh gelaufen waren.

Überall lag dicker Raureif. Der Weg, auf dem sie liefen, war hart gefroren.

Zu gleicher Zeit nahmen sie den Geruch wahr.

„Ein Tier. Ein Tier, das krepiert ist.“

„Oder geschlagen von einem Bussard.“

Dann sahen sie den Schädel, wenige Meter vom Pfad entfernt. Er steckte, gelblich und kuglig, im aufgekratzten Erdreich. Sie schluckten und schwiegen und sahen sich endlich an.

„Das ist kein Tier.“

„Nein. Das ist, das ist ein Schädel.“

„Rühre nichts an.“

Das Gras stand weiß, steif und glitzernd. Die Luft war klar. Es war schon zu kalt für den ersten Schnee.

„Reiß dich zusammen.“

„Ja doch. Mir ist aber schlecht.“

Einer brach Zweige ab und legte sie über Kreuz: von dem Wege, den sie gelaufen waren, bis zu der Stelle, wo der runde Schädel steckte. Der andere kam nicht näher. Sie sprachen wenig und erschraken, als schwarze Krähen langsam und fast lautlos aufstiegen.

Der Lienhut klirrte gläsern. Seine vereisten Zweige schlugen aneinander.

Sie liefen los, wie einem Befehl folgend, sie liefen den Kirchsteig hinunter, als könnten sie keine Minute länger warten. Manchmal strauchelten sie und fielen hin, kamen aber schnell wieder hoch und liefen weiter.

Sie liefen so schnell, als gelte es, Abstand zu einem Verfolger zu gewinnen. Wortlos und heftig atmend wandten sie sich noch einmal um, bevor sie durch den Tunnel gingen, sie blickten hinauf zum Lienhut.

Sie trafen den Bürgermeister vor der Schenke. Er redete mit einigen Männern in Arbeitskleidung, weil die Schneepflüge noch immer defekt und für den nahen Winter nicht einsatzbereit waren. Den Jungen aber hörte er gleich zu, weil er ihnen das Entsetzen ansah.

Er hörte zu und sagte: „Es gibt viele Wildschweine dieses Jahr, es wird ein Tierschädel sein.“

„Ein Wildschwein hat vielleicht den Schädel frei gescharrt, das kann sein.“

„Ihr meint wirklich, da ist ein Mensch vergraben?“

Sie nickten. Ein Mensch vergraben — das klang ungeheuerlich.

Der Bürgermeister ging, wichtig und schwer, in die Gaststube, um mit der Polizei zu telefonieren. Die Jungen folgten ihm und setzten sich an einen Tisch, gleich neben den großen Kachelofen.

Die Wirtin hatte mitgehört und braute ihnen einen Grog. „Beim Lienhut, sagt ihr?“

Die Jungen nickten, sie zitterten noch und legten ihre Hände um die Gläser.

„Es wird ein Tier sein“, sagte die Frau, „hier passiert nichts. Man kann seine Tür auflassen, man braucht kein Auto abzuschließen. Hier wird nicht mal ein Kaninchen gestohlen, drüben im Badeort, übern Berg, ist das anders, aber hier. Am Lienhut soll mal ein Mann seine Töchter und sich selber in die Glut des Ofens gestürzt haben. Das ist Märchen.“

Die Jungen kannten die Geschichte nicht.

„Man erzählt, er besaß viel Silber und konnte Eisen gewinnen, man sieht ja noch Reste von Grundmauern im Brombeergestrüpp, dort hat mal ein Eisenhammer gestanden. Die beiden Töchter sollen freundlich und naiv gewesen sein, Dummerchen, die eines schönen Tages fahrenden Händlern alles weiße Eisen verkauften, denn sie wussten ja nicht, dass es Silber war. Sie wussten überhaupt nicht, dass es Silber gab. Der Vater hat sie, als er zurückkehrte, in die Glut des Ofens gestürzt, in seinem Jähzorn, in seiner Wut, und gleich darauf sich selber, denn die Töchter, die er getötet hatte, waren ihm das Liebste gewesen, nicht das weiße Eisen.“

„Wann soll das gewesen sein?“

„Vor Hunderten von Jahren. Oder vor tausend schon, wer weiß.“

Nach einer halben Stunde kam der Wagen der Kriminalpolizei aus der Bezirksstadt. Der Major, der die Morduntersuchungskommission leitete, hieß Korsar, ein älterer Mann mit breiter Brust und starken Schultern. Er hatte ein braunes Gesicht mit einer fleischigen Nase und einen kleinen Mund. Bei diesem Wetter, das den Winter ankündigte, spürte er eine alte Unfallverletzung an den Knien wie ein Rheumakranker sein Leiden. Und nun der mühselige Weg den Kirchsteig hinauf. Die Jungen gingen den Kriminalisten voraus, ihnen war warm vom Grog und schon wieder übel vor dem, was sie gleich wiedersehen würden. Nur ein jüngerer Mann, der sich mit Franz vorgestellt hatte, blieb an ihrer Seite. Franz war ein trainierter Mann, das merkten sie.

Dann standen sie vor dem Schädel.

„Ja“, sagte Korsar, „der kann schon Wochen liegen, sogar Monate, ein Jahr vielleicht. Morgen, wenn es hell wird, beginnen wir mit der Bergung. Das Gelände wird über Nacht abgesichert.“ Franz fragte die Jungen: „Habt ihr irgendetwas verändert?“

Sie beteuerten, nichts angerührt zu haben.

„Aber mal gekratzt in der Erde, na?“, fragte Korsar.

Franz lief den Berg wieder hinunter, sie hörten seine schnellen Schritte.

„Nein. Mein Kumpel hier, der ist überhaupt nicht näher gekommen, der ist jetzt noch fertig. Ich habe die Zweige hingelegt, damit wir den Weg leicht finden.“

Korsar lobte ihn und nahm die Meldung des Mannes, der Franz hieß, entgegen, der inzwischen unten vom Wagen aus die Bereitschaftspolizei angefordert hatte und wieder heraufgekommen war. Er war nicht einmal außer Atem, Franz verfügte über eine ausgezeichnete Kondition.

Korsar sah sich um, zog seine Kreise um den Fund, ging bis zum Rand des Tümpels, der von einer dünnen Eisschicht bedeckt war, sah nachdenklich auf die Mauerreste des Eisenhammers und sagte: „Mehr können wir hier heute nicht machen.“ Er stapfte mit den Jungen hinunter, ließ sie in den Wagen, und sie erlebten mit, wie er der Sekretärin, einer jungen, freundlichen Frau, die Fundortbeschreibung diktierte: „... kurz vor dem Lienhut, auf einer Lichtung, einhundert Meter westlich des Fußwegs, der Dorf und Badeort miteinander verbindet und der Kirchsteig genannt wird. Neben dem Schädel ein angewachsenes Bäumchen, das keine gelben Nadeln zeigt. Die Fichte ist einen knappen Meter hoch. Am Schädel wahrscheinlich Tierfraßerscheinungen ...“

Die Frau seufzte. Manchmal schlief sie in den Nächten nicht. Da war wieder ein Mensch gewesen, der gelebt hatte, gehofft, worauf auch immer, und nun solche Sätze, ‚am Schädel Tierfraßerscheinungen‘, sie konnte sich noch immer nicht an die schrecklichen Fälle gewöhnen und blieb eigentlich nur Korsar zuliebe.

Drei Mannschaftswagen kamen durch den Tunnel und hielten vor dem Kirchsteig. Die Polizisten, alle in wattierten Jacken, wurden informiert. Korsar ließ die beiden Jungen in die Stadt zurückfahren.

Mit Franz, seinem Stellvertreter, ging er noch einmal hinauf. Nun wurde es dunkel, aber er hatte nicht die Ruhe, um nach Hause zu fahren. Morgen würde eine schwierige Arbeit beginnen.

Der Frost sang, das Gras rasselte steif, der Wetterbericht hatte keine Milderung gemeldet. Schicht um Schicht der harten Erde würden sie abtragen müssen. Korsar ging von der Annahme aus, dass auch der Körper der Leiche an dieser Stelle vergraben lag. Schicht um Schicht also abtragen, bis die Leiche frei vor ihnen wie auf einem Podest liegen würde.

Korsar und Franz blieben an der Fundstelle, bis die Kette, die die Polizisten in weitem Kreis um den Lienhut bildeten, geschlossen war und sie sich davon überzeugt hatten, dass kein zufälliger Wanderer den Fundort erreichen konnte, ohne bemerkt zu werden.

Sie stellten sich unter den Lienhut und sahen in die Krone hinauf, es sang, es klirrte.

„Er spricht“, sagte Korsar, „aber wir verstehen ihn nicht. Heute noch müssen alle Vermisstenmeldungen durchgesehen und überprüft werden.“

„Das läuft schon“, sagte Franz, der das Selbstverständliche über Funk vom Wagen aus eingeleitet hatte.

Korsar nickte ihm zu.

Franz: dreißig Jahre alt, ein Streckenläufer, der abendlich durch sein Wohngebiet lief, auch bei Regenschauer und am Heiligen Abend, und die Hunde, die Gärten und Siedlungshäuser zu bewachen hatte, schlugen nicht mehr an, wenn er kam, sondern blickten ihm sehnsüchtig nach.

„Er muss nicht aus unserem Bezirk sein“, sagte Korsar und klaubte mit froststeifen Fingern eine Zigarette aus der Packung.

Franz gab ihm kein Feuer, obwohl er Streichhölzer bei sich hatte. Er missbilligte Rauchen und Alkohol, aß keinen Kuchen und nahm auch bei starken Kopfschmerzen keine Tabletten ein. Korsar warf die Zigarette weg. „Hast ja recht, aber es gibt sogar eine Fußballmannschaft, die Empor Tabak heißt. Sein Gesicht, ich meine, es wird nicht mehr zu erkennen sein.“

Wenn Korsar laut vor sich hindachte, stieß er oft auf eine Einzelheit, an die bisher noch keiner gedacht hatte. Korsar wurde von manchen unterschätzt.“

Erstmals 1976 veröffentlichte Heinz Kruschel im Militärverlag der DDR „Rette mich, wer kann“: Sie steht mit beiden Beinen im Leben, die selbstbewusste blonde Ille, Buchhalterin in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Die Bauern kommen gern auf einen kurzen Schnack zu ihr, und die jungen Burschen aus dem Dorf wissen: Mit Ille kann man Pferde stehlen gehen. Eines Tages kommt Rolf Blume ins Dorf, der kluge, zurückhaltende Journalistik-Student, und Ille verliebt sich bis über beide Ohren in ihn. Aus dem anfänglichen Geplänkel, kleinen Eifersüchteleien und Missverständnissen erwächst eine tiefe Liebe, und Rolf wird für Ille zu einem echten Partner, mit dem sie alle Fragen des Lebens besprechen kann. Zu Beginn dieser Liebesgeschichte stellt sich die Frau selber vor:

„ ... Zu zweien nur kann sich das Tier erheben;

Im Singular bleibt es am Boden kleben.

Dem Pihi gleich, gekettet an das Nest

Ist meine Seele, wenn du mich verlässt.

Mascha Kalèko

1. Kapitel

Ich heiße Ilse Pohlmann und arbeite als zweite Buchhalterin in der Genossenschaft Freier Bauer. Ich sehe nicht schlecht aus, na schön, ich habe ein bisschen dicke Beine, darum trage ich keine Mini-Röcke. Und mein Hals ist etwas kurz geraten, darum liebe ich ausgeschnittene Kleider. In zwei Jahren werde ich einundzwanzig, das betone ich mit einer gewissen Hoffnung, es heißt doch, dass sich der Mensch alle sieben Jahre erneuere, nicht komplett natürlich, aber das Wesen eines Menschen immerhin.

Meine Mutter meint zwar, ich solle meine Hoffnungen nicht so hoch schrauben, sonst würde ich eines Tages noch mit siebzig Jahren an eine Runderneuerung glauben.

Ich verstehe mich gut mit meiner Mutter, weil ich mit ihr über alles reden kann. Sie ist Milchprüferin, leitet den Dorfklub, und die Bauern sagen: „Se daut dauernd wat!“ Mutter braucht immer Bewegung, und die Leute unseres Dorfes brauchen sie.

Vater ist nicht mehr da. Er lebt im Westen, irgendwo, mit einer fremden Frau. Ich denke nicht an ihn, ich war noch so klein, als er davonlief.

Neulich war ein junger Mann bei uns im Dorf, ein angehender Journalist, der eine Arbeit über die Kooperation schreiben will. Fritz Schönemann, unser Vorsitzender, hatte mal wieder keine Zeit für die Presse und überließ den Mann mir. Ich habe bisher jeden Zeitungsvertreter geschafft, ich kann gut erzählen. Schönemann wollte keinen Ärger mit der Zeitung. Organisiere gefälligst einwandfreie Artikel, verlangte er von mir.

Dieser Praktikant wirkte zuerst ein bisschen affig, Goldrandbrille, Diplomatenkoffer, Kassettenrekorder in schicker Umhängetasche und so, aber er redete nicht geschwollen, fragte nicht etwa, wo denn der Vorsitzende sei, sondern erkundigte sich nach meiner Freizeitgestaltung. So ein Dorf, von der Stadt ein schönes Ende entfernt, gibt es da ein Jugendleben, was macht man nach Feierabend, können Sie mir darüber etwas erzählen?

Heute weiß ich natürlich, dass diese Frage mit seinem Reportageauftrag gar nichts zu tun hatte.

„Kann ich“, sagte ich, „ich lerne Englisch aus Betriebsgründen. Zu uns kommen oft ausländische Delegationen, und die Dolmetscher, die da mitgeschickt werden, verstehen nichts von der Landwirtschaft. Dann lese ich gern, Geschichten über uns, gehe ins Kino, paddle im Sommer mit der Luftmatratze und fahre samstags in die Stadt, um das Theater zu besuchen.“

„Und hem ... mal zum Tanz?“, fragte er.

So geht’s los, dachte ich, sei auf der Hut, der geht ran, das ist eine typische Fangfrage. „Mal“, sagte ich.

„Und ein Freund?“, fragte er und zwinkerte mit den Augen.

Ich holte Luft. „Kollege Praktikant“, sagte ich, „dazu bleibt wenig Zeit. Mal schon, aber nicht so häufig.“

Da stellte er sich erst vor. Er hieß Rolf Blume und stammte aus der Bezirkshauptstadt und studierte in Sachsen. Ein stabiler, kräftiger Bursche. Ob er glaubte, was ich ihm erzählte? Es stimmte nämlich nicht. Ich hatte schon eine Menge Freunde, und zum Tanzen gehe ich sehr gern, aber erst seit zwei Jahren.

Früher mochte ich nicht tanzen gehen. Ich habe eine Tanzstunde besucht, da kann einem das Tanzen vergrault werden, Tatsache. Ich war sechzehn Jahre alt und ging in die zehnte Klasse und hatte immer noch wenig Busen, eigentlich gar keinen, so Größe eins. Darum war ich auf die Mädchen neidisch, die eine schöne Brust hatten oder die sich einen schaumgummigepolsterten BH kaufen konnten. Aber dafür gab meine Mutter kein Geld her. „Ich kenne die Frauen in unserer Familie“, sagte sie, „die Ausgabe können wir sparen.“ Sie hatte recht, das zeigt sich heute.

Ich war also mickrig und dünn, und groß bin ich auch nicht, und die Jungen rannten alle zu den „duften Bienen“. So blieb immer der Kleinste für mich übrig, der schrecklich verlegen war, auf meine Füße trat und mich an sich presste, als fürchtete er, von den strengen Blicken des ergrauten Tanzlehrers über Bord gespült zu werden.

Dazu kam noch, dass er ein entsetzliches Haaröl benutzte, um seine widerspenstigen Büschel in eine Frisur zu zwängen. Das Haaröl roch nach Kamille. Ich kann Kamille nicht ausstehen, Kamille war früher fast ein Nahrungsmittel der Familie gewesen, auf alle Fälle das Hauptgetränk. Meine Großmutter hatte sie eingeführt, sie lebt heute noch und ist über neunzig Jahre alt. Dank der Kamille, wie sie immer behauptet.

Kamillentee, Kamillendämpfe, ich glaube, sie hat auch schon Kamillengemüse gemacht, und Großvater ist bestimmt nur deshalb so früh gestorben (er war fünfundachtzig), weil er getrocknete Kamille in der Pfeife rauchen musste.

In der Tanzstunde roch ich ständig Kamille. Und während die großen Paare lässig und gekonnt nach den Melodien dieser altmodischen Tänze Tango und Fox voranschlurften, hoppelten wir ihnen nach, verhedderten uns mit den Füßen, und ich immer mit diesem Kleinen, dem ich auf den nassen, kamillenduftenden Scheitel sehen konnte ..., eine Tortur. Ich bin erst wieder tanzen gegangen, als ich siebzehneinhalb war und Mutter nicht mehr nach einem gepolsterten BH zu fragen brauchte.

Aber konnte ich das alles dem Praktikanten Rolf Blume erzählen? Nein. Ich führte ihn durch die Genossenschaft, in den Kälberaufzuchtstall, in den halb fertigen modernen Vierhunderterkomplex, erklärte ihm die Lage der drei Dörfer, die sich zusammengeschlossen hatten, und deutete die Schwierigkeiten an, die es dabei gegeben hatte. „Ach, es gibt ja noch welche“, sagte ich. Warnen wollte ich den Journalisten-Lehrling, er sollte ja keinen Hurra-Artikel über uns schreiben, damit würde er nur Unheil anrichten. Ich kenne doch die Bauern, und wir haben ja auch schon unsere Erfahrungen mit der Presse gemacht.

Vor zwei Jahren hatte sich der Landwirtschaftsrat beim Kreis das ausgedacht: Ihr schafft das Beispiel, ihr müsst die Durchreißer sein, Genossenschaften schließen sich freiwillig zusammen, die anderen folgen. Aber die Bauern waren noch nicht überzeugt davon, jedenfalls konnte diese Kooperation nicht leben und nicht sterben. Nicht sterben konnte sie, weil der Kreis und der Bezirk sie am Leben hielten und künstlich ernähren ließen. Nicht leben konnten sie, weil die Bauern skeptisch waren. Und was man dieser sogenannten Kooperation alles zutraute! Während der Getreideernte beglückte uns der Landwirtschaftsrat mit einem Großeinsatz der Technik, um das „berühmte Beispiel“ zu schaffen. Aus berühmt aber wurde rasch berüchtigt. Damals rasselten zehn Mähdrescher durchs Dorf, die sich von mir nicht aufhalten ließen. Und auch nicht von Fritz Schönemann, der wütend mit der Mütze wedelte und mit seinem Holzbein aufstampfte. Die Brummer fraßen auf dem größten Schlag alles ratzekahl, und da wir einen komplexen Einsatz der Technik gar nicht eingeplant hatten, konnte Schönemann so schnell kein Kaffgebläse auftreiben, und die Spreu musste auf den Acker geschüttet werden. Reporter und Fotografen und Kameramänner wimmelten umher, Großeinsatz in der Kooperation, Sozialismus siegt und so, einen Hubschrauber besorgten sie auch noch wegen einer Luftaufnahme.

Im Rat der Kooperation sagte Schönemann damals: „Ich könnte mich ohrfeigen, wir haben bloß an die Bautätigkeit gedacht und an die Spezialisierung, aber nicht an die Feldwirtschaft. Die Feldwirtschaft, Leute! Die Grundlage aller Dinge auf dem Lande!“

Na, und am nächsten Tag erschien auf der Seite eins der Zeitung ein großes Bilderbuchfoto von dem komplexen Einsatz mit entsprechender Bilderbuch-Unterschrift. Andere Zeitungen druckten nach, wir waren Gesprächsthema.

Und dann regnete es, das Kaff lag auf der abgefressenen Fläche und verdarb, die Bauern rissen bittere Witze, einem Bauern tut das weh, es geht ihm an die Ehre.

Also das erzählte ich diesem Blume. Er schien sofort „Konfliktstoff“ und „echte Probleme“ zu wittern und fragte, ob die Bauern den Schlag ins Wasser gleich überwunden hätten.“

Ganz neu ist das E-Book „Timo Nimmerschlaf . Ein Märchen aus alter Zeit für Kinder, die nicht gern schlafen“, das Volker Ebersbach jetzt bei EDITION digital herausgebracht hat: Timo will nicht schlafen und streitet sich mit Gevatter Schlaf, dem Albtraummännlein, der Traumfee und dem Gevatter Tod. Schließlich braucht er nicht mehr zu schlafen. Er hilft nachts seiner Mutter, sorgt dafür, dass die Nachtwächter nicht einschlafen, hilft einem Bäcker und Müller und fällt schließlich unter die Räuber. Keine Angst, er kann sich befreien und alles nimmt ein gutes Ende. Ein Buch für Kinder ab 5. Und es beginnt schon abenteuerlich:

„Selig sind die, die Märchen schreiben, denn Märchen sind à la ordre du jour…

Goethe an Schiller, 8. 7. 1795

ERSTES ABENTEUER

Wie Timo nicht schlafen wollte und sich mit dem Gevatter Schlaf, dem Albtraummännlein, der Traumfee und dem Gevatter Tod stritt, bis er nicht mehr zu schlafen brauchte

Die Abendsonne sank hinter die fernen Berge. Über der sauberen kleinen Stadt Wiesenheim spannte die Nacht ihr blaues Tuch von einer Turmspitze zur anderen. Durch die Straßen tappte mit gleichförmigen Schritten der Nachtwächter. Von Zeit zu Zeit schlugen die Turmuhren. Er blieb stehen, blies in sein dumpf klingendes Horn und rief damit für alle, die den Schlag einer Turmuhr nicht hören konnten, die Stunde aus. Hinter den geschlossenen Toren und auf der Stadtmauer behütete eine Schildwache mit Schild, Schwert und Lanze die Ruhe der Bürger, damit sie getrost schlafen konnten. Timo aber lag in seinem Bett. Doch er schlief nicht. Ratlos saß seine Mutter, Frau Ursula, auf einem Stuhl daneben. Sie hielt in der Hand eine dampfende Tasse. Sie kannte alle Kräuter, die tief in den Wäldern und draußen auf den Wiesen wuchsen, und sie verstand es gut, daraus heilsame Tees zu kochen und Salben für offene Wunden, Tinkturen für schmerzende Glieder und beruhigende Tränke für Leib, Geist und Seele zu bereiten. Genau unterschied sie lindernde und heilende Wirkungen ihrer Arzneien voneinander, über jede wusste sie, wogegen sie half und wie viel man davon nehmen musste. Für Timo, ihren lieben Jungen, hatte sie eben einen Tee zum Einschlafen gekocht. Er wollte den Tee aber nicht trinken.

„Wo ist mein Vater?“, fragte Timo.

„Das hast du mich schon oft gefragt“, antwortete ihm die Mutter. „Aber ich weiß es selbst nicht. Er ist verschollen.“

„Was bedeutet das: verschollen?“, wollte Timo wissen.

„Eines Tages“, sagte die Mutter seufzend, „ist Meister Konrad fortgegangen und hat niemandem gesagt, wohin. Er ist auch nicht wiedergekommen, nicht am Abend und nicht am nächsten Tag, und niemand in der Stadt weiß, was aus ihm wurde. Die Ratsherren, zu  denen er gehörte, haben ihn verwünscht und verworfen.“ Und Frau Ursula seufzte noch einmal tief und wischte sich mit dem Ärmel eine Träne von der Wange. „Sie brauchten sich jedoch gar nicht darüber zu wundern, denn sie hatten ihm eine schwere Schuld aufgeladen.“

„Was für eine Schuld?“

„Das erkläre ich dir später“, antwortete die Mutter. „Aber ich weiß, dass er keine Schuld hatte.“

Timo, der sich in seinem Bett aufgerichtet hatte, sank in die Kissen zurück.

„Aber nun schlaf endlich, Timo!“, wiederholte die Mutter. „Bitte versuch es. Komm, trink diesen Tee. Er wird dir helfen, und du wirst Ruhe finden.“

„Nein!“, rief Timo. „Ich finde keine Ruhe! Ich will auch gar nicht schlafen. Ich bleibe immer wach. Ich bleibe wach, bis ich weiß, wo mein Vater ist. Und dann mache ich mich auf den Weg und hole ihn nach Hause.“

Frau Ursula hielt ihm geduldig die Tasse unter die Nase. Der Tee roch würzig, und er war nicht mehr heiß. Timo tat seiner Mutter den Gefallen und trank den Tee, denn er war durstig. Aber er wusste, dass er nicht schlafen würde. Seine Hände lagen still auf der Decke. Er hielt die Augen geschlossen. Aber in Gedanken spielte er weiter. Er tat so, als schliefe er. Denn die Mahnungen der Mutter störten ihn. Er dachte an sein hölzernes Steckenpferd und wünschte sich ein richtiges kleines Pferd, mit dem er zum Stadttor hinaus in die Welt hinaus reiten konnte, um alle Menschen, die ihm begegneten, zu fragen, ob sie nicht seinen Vater gesehen hätten. In solchen Gedanken bei Nacht erlebte Timo mehr als am Tag. Wenn er aber schliefe, wäre er ja gar nicht auf der Welt. Als er noch geschlafen hatte, war immer Zeit vergangen, ohne dass er es bemerkte, waren Dinge geschehen, ohne dass er sie miterlebt hatte.

„Alle Menschen schlafen gern“, sagte die Mutter. „Den ganzen Tag sehnen sie sich nach dem Abend und nach dem Bett, in das sie sich legen können, um süß und lange zu schlafen. Und du? Willst du denn überhaupt nicht mehr schlafen?“

„Ich bin nicht müde“, antwortete Timo. „Es geschieht in der Welt so viel, und es ärgert mich, wenn ich nicht dabei bin. Das kann ich nicht ertragen.“

„Ach!“, seufzte Frau Ursula und schüttelte den Kopf. „Nachts geschieht ja nirgends etwas. Alle schlafen, auch die Tiere.“

„Und der Nachtwächter?“, fragte Timo, denn gerade rief dessen Stimme wieder die Stunde aus. „Und die Schildwache?“

„Diese Männer“, erklärte die Mutter, „müssen dann am Tag schlafen, und wer am Tag schläft, verpasst viel mehr, als wer in der Nach schläft. Dir wird es auch bald so ergehen, wenn du jetzt nicht schläfst. Du wirst einschlafen, wenn der Tag anbricht, und alle Kinder in der Nachbarschaft spielen dann ohne dich!“ Sie gab ihm noch einen Kuss und fügte beim Hinausgehen hinzu: „Warte nur, du wirst gleich müde sein und ganz von selbst einschlafen, ohne dass du es merkst.“

Timo flehte: „Bitte lass das Licht hier!“ Die Mutter schaute ihn fragend an. „Es soll mit mir wach bleiben. Sonst schlafe ich doch noch ein.“

„Wäre das denn schlimm?“

„Ja“, klagte Timo, „dann kommen böse Träume.“

„Was für böse Träume?“, wollte Frau Ursula wissen.

„Ein Wassermann“, klagte Timo, „zieht mich hinab in den Fluss. Oder ein Drache baut sich auf dem Rathausturm ein Nest, und seine Jungen kommen herabgeflogen und jagen mich durch die Gassen. Oder ein Riese trampelt durch den Wald und sieht mich gar nicht, weil ich so klein bin, aber er reißt Bäume um, und die Bäume stürzen auf mich, wenn ich nicht schnell genug zur Seite springe. Und dann springt mir eine Hexe in den Weg. Sie reißt ihre roten Augen weit auf, ihre weißen Haare stehen zu Berge, und sie schreit mich an aus dem Mund, in dem nur noch drei spitze Zähne stecken. Dann stürzt eine Hundemeute zum Fenster herein, und die Hunde springen kläffend in mein Bett.“

„Aber Timo!“, sagte die Mutter und strich ihm sanft übers Gesicht. „Das sind nur Gespenster. Gespenster gibt es nicht. Es sind die verwandelten Erinnerungen eines Tages. Habe ich dir nicht oft gesagt, dass du dich von dem Jäger und seiner Meute fernhalten sollst? Auch mich schilt er, sooft er mich im Wald beim Kräutersammeln trifft. Und geh der alten Schwatzdrossel Wackerzahn aus dem Weg! Sie kann ja nur noch schlecht über die Leute reden, aber nicht mehr ihre Wäsche waschen. Es ärgert sie, dass die Leute jetzt ihre Sachen zum Waschen zu mir bringen. Übrigens: Riesen, die gibt es nicht. Hierzulande wurde nie einer gesehen.“

„Doch!“, ereiferte sich Timo. „Der Holzhändler Siebenbrett ist ein Riese!“

„Aber nein, Kind!“ Die Mutter lachte leise und putzte sich die Nase. „Zugegeben, er ist ein besonders großgewachsener Mensch. Aber er ist höchstens einen Kopf größer als andere.“

„Nein!“, stritt Timo. „Wenn ich ihm im Wald begegne, ist er noch viel größer, und ich sehe seinen Kopf bis in die Fichtenwipfel ragen.“

„Sage ich dir nicht an jedem Tag, dass du nicht allein in den Wald gehen sollst?“, ermahnte ihn Frau Ursula. „Wenn wir Holz brauchen, gehen wir zusammen. Es hat damit übrigens noch Zeit bis zum Herbst.“

„Und der Drache mit seinen Jungen im Nest auf dem Rathausturm?“, fragte Timo. „Was ist mit dem?“

„Das sind gewiss die Kinder der Ratsherren, die nicht mit dir spielen wollen“, sagte die Mutter. „Versuch es lieber gar nicht mit denen. Ihre Väter zürnen deinem Vater, dem Meister Konrad. Sie sind jetzt reicher als wir und schauen hämisch herab auf uns. Wer auf andere herabschaut, der schlägt bei Streit auch zuerst zu! Die Kinder der Ratsherren lassen es dich spüren, dass dein Vater verschwunden ist. Denn er war nicht nur Schmied, sondern auch Ratsherr. Dass er fortging und niemandem sagte, wohin, verübeln ihm ihre Eltern. Sie bilden sich ein, es wäre eine Wohltat, wenn sie mir ihre Wäsche zum Waschen bringen. Damit demütigen sie mich aber nur, und ich muss es hinnehmen, denn wir hätten sonst nichts zu essen.“

Es ist also nicht nur ein Märchen, das uns Volker Ebersbach da zu erzählen hat. Sondern es ist auch eine Begegnung mit dem Leben und der Lebenswirklichkeit von Menschen, denen es nicht so gut geht. Aber weil es ein Märchen ist, geht es am Ende doch gut aus. Aber warum auch nicht?

Viel Vergnügen beim Lesen dieser sehr verschiedenen Lebensgeschichten-Angebote des heutigen Newsletters, einen schönen Start in den Sommer und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

DDR-Autoren: Newsletter 10.06.2022 - Ein seltsames Abkommen mit Gott, Töten aus Sehnsucht sowie eine Liebe auf