Fontanes
Wohnungen, ein ideologisch verqueres Kunstwerk sowie eine Lesereise ins Jahr
2079 - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 17.03. 2023) Es
ist immer wieder ganz reizvoll, sich in eine andere Zeit zu versetzen oder
versetzen zu lassen und sich selbst entweder in der Vergangenheit oder in der
Zukunft zu erleben. Und mit Hilfe der Literatur ist das auch gar nicht zu
kompliziert zu bewerkstelligen. Eine solche Reise in die Zukunft steht im
Mittelpunkt des fünften und letzten der insgesamt fünf aktuellen digitalen
Sonderangebote dieses Newsletters, die wie immer eine Woche lang zum
Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 17.03.23 Freitag,
24.03.23) zu haben sind. In Die geheimnisvolle Einladung
schickt Klaus
Möckel seinen literarischen Schriftstellerkollegen ins
Jahr 2079 also vom Erscheinen dieses Buches 1976 gerechnet ein gutes
Jahrhundert in die Zukunft. Den Autor und mit ihm die Leserinnen und Leser
erwarten unter anderem ungewöhnliche Begegnungen und bizarre Überraschungen.
Sie sind herzlich eingeladen. Dem Ostberliner Übersetzer, Lyriker und Erzähler sei
mit diesem vom Umfang her kleinen Roman ein Volltreffer gelungen, lobte damals
ein Schweizer Kritiker.
Ebenfalls eine Einladung spricht auch Gisela
Heller aus eine Einladung zu Theodor Fontane. Unterwegs mit
Fontane in Berlin und der Mark Brandenburg lautet der Titel dieser
aktuellen Wanderungen auf den Spuren des großen märkischen Wanderers.
In Der Zug der Blinden
von Peter Löw geht es um
Konflikte in der Endzeit der DDR und um einen Fall von Kunstzerstörung.
Wieder einmal ist die Zeitreisende von Hardy Manthey
unterwegs. Im 11. Teil
Zum Ursprung 15 000 Jahre zurück, der hier in der 2., überarbeiteten Auflage
vorliegt. Und wie (fast) immer bei Manthey geht es auch diesmal und Verlockung
und Lust pur.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for
Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch
vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu
tun hat also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Eines
dieser Themen ist der Umgang der Menschen untereinander. Manche stellen sich
über andere und begründen diese Art von Überheblichkeit
mit angeblicher Minderwertigkeit der anderen. Das steckt auch hinter Rassismus,
für den es unterschiedliche Definitionen gibt, solche in der engeren Bedeutung
des Begriffs und solche in der weiteren Bedeutung des Begriffs. Laut der schweizerischen
Internetseite habe in der neueren Diskussion auch ein Definitionsvorschlag von
Albert Memmi viel Beachtung gefunden, der auch dem Autor der wöchentlichen
Newsletter von EDITION digital als ein brauchbares Werkzeug erscheint: Der
Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher
oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines
Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden
sollen, schrieb Albert Memmi in seinem 1987 in Frankfurt am Main erschienenen
Buch Rassismus. Man
kann auch vom Wahn des Auserwähltseins sprechen. Und genau darum geht es auch
in dem heute vorgestellten Buch. Wie fühlt es sich an, wenn man aufgrund seiner
Herkunft und Hautfarbe ausgegrenzt und diskriminiert wird, wenn man ständig
Angst haben muss, weil man schwarz oder braun oder gelb ist, aber eben nicht
weiß? Wie fühlt es sich an, wenn man als Jude Judenwitze anhören musste, wie es
der Autor des heutigen Buches selbst erlebt hat? Stoff genug zum Nachdenken,
zum engagierten Andershandeln und zum Widerstehen gegen täglichen Rassismus,
der oft scheinbar unbemerkt daherkommt.
Erstmals 1968 erschien im Hinstorff Verlag Rostock und
zwar in der Übersetzung aus dem Englischen von Helga Beranek-Zimnik
Unter dem wechselnden Mond
von Walter Kaufmann: In diesem
Buch zeigt sich ein Meister der Short Story. In insgesamt 18 Geschichten
entführt Walter Kaufmann seine Leser auch nach Übersee, erzählt von Seeleuten
und Glückspielern, Gewerkschaftern, Schiffsoffizieren und von Frauen.
Seine
Shortstorys erlauben Einblicke in dramatische und schöne, kämpferische und
liebevolle Momente des Lebens, zeigen Menschen, die stark sind, Menschen, die
scheitern, Menschen, die plötzlich mit Ereignissen in ihrer Vergangenheit
konfrontiert werden.
Die
ausgezeichnet erzählten Shortstorys von Walter Kaufmann sind exotisch und
zugleich alltäglich, abenteuerlich und spannend, erzählen von Menschen in
außergewöhnlichen Situationen.
Es reizte
ihn, dass die Deutsche Demokratische Republik in Ansteys Vorstellung von Europa
überhaupt nicht zu existieren schien. Schließlich, dachte er, war der
Entschluss, dorthin überzusiedeln, die wesentlichste Entscheidung meines Lebens
- er könnte wirklich etwas Interesse zeigen, und sei es auch nur aus
persönlichen Gründen. Er hätte Anstey gern erzählt, wie sich sein schneller
Aufstieg vom Matrosen zum Kapitän vollzogen hatte, ohne zu verschweigen, auf
welche Schwierigkeiten er gestoßen war und wie er in vielem hatte umdenken
müssen - der Aufbau einer neuen Handelsflotte stellte die Menschen vor große
Probleme. Aber was Noack auch über sein Leben seit seiner Abreise aus England
zu berichten versuchte - es drang kaum in Ansteys Bewusstsein, sodass er es
bald aufgab. Und hier der Anfang der 18 Short Storys, erzählt von einem
Meister dieses literarischen Genres:
Home, sweet home
Beide hätte ich in
meinem Pokerklub brauchen können - den einen als Rausschmeißer, den anderen zum
Schmierestehen. Aber darüber war mit ihnen nicht zu reden. Vor dem Unfall
erwiderten sie mir stets, sie seien Seeleute und wollten es auch bleiben. Als
ob es unter ihrer Würde wäre, sich auf bequemere Art ein paar Pfund zu
verdienen. Seeleute - zum Lachen! Außer bei gelegentlichen Bergungsarbeiten war
keiner von ihnen weiter aus dem Hafen herausgekommen als ein Hafenschlepper
oder ein Baggerkahn. Schwimmende Landratten waren sie, weiter nichts,
Decksmänner von Gnaden der Melbourner Hafenverwaltung, Seeleute nur, weil
irgendein Gewerkschaftsfunktionär auf Draht war.
Na gut, das juckte
mich nicht! Von mir aus konnten sie sich Sindbad der Seefahrer nennen, bis
sie blau anliefen, solange sie mir nicht die Polente auf den Hals hetzten. Ich
hatte ihnen nämlich zu viel über mich erzählt. Das war entschieden ein Fehler
gewesen! Sie wussten, dass ich Buck Richards heiße und mir als amerikanischer
Matrose ein paar Jährchen den Wind zwischen Frisco und Japan, Indonesien und
Australien hatte um die Ohren wehen lassen. Das ging noch an. Doch dass ich
nach einem mächtigen Krach mit dem Ersten Offizier auf Nimmerwiedersehen von
meinem letzten Dampfer verduftet war, hätte ich besser für mich behalten
sollen. Und schon gar nicht hätte ich ihnen unter die Nase reiben dürfen, dass
ich es eigentlich überhaupt nicht nötig habe, den Handlanger auf einem
Schleppkahn zu spielen, und dass ich nur bei der Hafenverwaltung arbeite, um
meine Spur zu verwischen. Die beiden waren mit dem Verein verheiratet und
wollten unbedingt dabeibleiben, bis sie Rente bekamen, und natürlich passte es
ihnen nicht, dass so einer wie ich sich da reindrängte und einen Teil der
Prämien für die Bergungsarbeiten einheimste.
Blödsinn,
versicherte ich ihnen immer wieder. Die meisten Wracks werden nachts
hereingeholt, da habe ich was Besseres zu tun, als auf See herumzugondeln.
Trotzdem
betrachteten sie mich mit Misstrauen - ich fuhr einen schnellen Wagen, trug
elegante Anzüge und besaß eine moderne Wohnung in St. Kilda, wie sie wussten.
Und dann mein Pokerklub in der Flinders Lane! Für sie war ich ein Schandfleck
für die Hafenverwaltung, ein Mann, der mit einem Bein im Zuchthaus stand. Wie
zwei alte Weiber lagen sie mir in den Ohren: Überlass deinen Arbeitsplatz
jemandem, der ihn braucht!
Kann mir nicht
leisten, so eine verdammt gute Jalousie hochzuziehen, erklärte ich ihnen.
Aber sie hörten
nicht auf zu drängen: Mach endlich Schluss hier, Mensch!
Wie Zwillinge
stimmten sie in allem überein - aus Opposition gegen einen dritten. Dabei
konnte man sich ein ungleicheres Paar kaum vorstellen: Hugh Stanley war ein
wahrer Hüne, muskulös wie ein Ringer, während Alec Sikes zum Umblasen dürr war.
Obwohl sie schon fast sieben Jahre zusammen arbeiteten, gerieten sie sich
ständig darüber in die Haare, wie man ein Schlepptau festmacht oder eine
Wurfleine an Land befördert - kurz, über jeden nautischen Trick. Wahrlich,
prächtige Seeleute!
Übrigens, das mit
dem In-die-Haare-Geraten ist rein literarisch zu verstehen. Weder Hughs kurz
geschorene Bürste noch Alecs drei Strähnen, die sich wie dünne Pinselstriche
über seinen Schädel zogen, eigneten sich dazu. Außerdem fing Hugh selten mit
der Ankratzerei an. Gewöhnlich war es Alec, der bei jeder Gelegenheit wie ein
Terrier kläffte: Hugh! Die Spring holt über Eck, die Lippe bricht aus! - Die
Leine steht auf Kraft, stopp sie ab! - Führ das Auge um den Poller! Oder:
Verdammt noch mal, Hugh, halt den Eimer auf Kurs, du landest uns alle noch in
den Dreckl
Wirklich, der
mickrige Alec hetzte seinen Partner schlimmer herum als ein Liverpooler
Bootsmann eine indische Besatzung. Dabei war er mit seinen einunddreißig zwei
Jahre jünger als Hugh, Wenn jenseits der Hobsons Bay der Schlamm ins Meer
gelassen werden musste, schwang Hugh den schweren Hammer, um die
Flügelschrauben von den Falltüren zu schlagen. Er drehte auch die Winschkurbel,
wenn die Falltüren wieder hochzuleiern waren. In der Zeit zwischen den
Ruderwachen trabte er an Deck herum und schrubbte die Planken mit Meerwasser,
das er in einer Schlagpütze aufholte. Sogar in der Mittagspause, wenn sie
wieder am Ann Street Pier lagen, forderte Alec: Brat ein anständiges Steak,
Hughie, und gib ordentlich Zwiebeln dran, hörst du?
Hugh hätte Alec mit
einem Hieb seiner Pranke sämtliche Knochen brechen können, aber nein, er
gehorchte stets. Höchstens, dass er manchmal vor sich hin brummte wie ein
gekränkter Bär. aber nie ging er so weit, Alec auch nur anzutippen. Es war ein
Bild für die Götter, wie dieses mickrige Kerlchen diesen Schrank von einem Mann
herumkommandierte. Dabei war Hugh durchaus kein Trottel. Ich fand ihn nicht
halb so tollpatschig, wie Alec ihn hinstellte - er war fleißig und keineswegs
ungeschickt. Das Verhältnis zwischen den beiden blieb mir unverständlich, bis
ich erfuhr, wie es zustande gekommen war: Hugh Stanley war ein ehemaliger
Zuchthäusler, und Alec hatte ihm Arbeit und ein Dach überm Kopf verschafft.
Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote
dieses Newsletters:
Erstmals 1983 veröffentlichte Gisela
Heller in der Nicolaischen
Verlagsbuchhandlung Beuermann Berlin Unterwegs
mit Fontane in Berlin und der Mark Brandenburg: 100 Jahre nach Fontane scheint es
aktueller denn je, auf seinen Spuren durch Berlin und die Mark Brandenburg zu
wandern, die von ihm beschriebenen Wege nachzuvollziehen. Was für viele
Jahrzehnte als verlorene Provinz galt, wird dabei als historische Landschaft
(wieder) entdeckt. Dieses Buch nun führt den Leser zu den (alphabetisch
geordneten) Stätten, die für Fontanes Leben und Werk von Bedeutung waren.
Berlin nimmt dabei - nicht nur als geographischer Mittelpunkt - den größten
Raum ein. Immer an bestimmte Örtlichkeiten geknüpft, ist hier Fontanes
Lebensbogen ablesbar, seine Irrungen, Wirrungen, sein Ärger mit
Chefredakteuren, Ministern, Hausbesitzern und der leidigen Commodite; seine
Mühen bis hin zum Eigentlichen, dem Romanwerk, das er erst mit 60 Jahren
begann.
Er hat noch das vernobelte Berlin kennengelemt und die
Anfänge des Bombasmus; die Verwüstung erlebte Fontane nicht mehr. Von seinen 18
(!) Wohnstätten blieb keine erhalten, dennoch fand die Autorin eine Vielzahl
von Plätzen, an denen man sich sagen kann: Ja, hier könnte es gewesen sein ...,
hier könnte die Witwe Pittelkow, hier Effi Briest gewohnt haben ... oder auf
diesen jüdischen Friedhof konnte er von seinem Fenster aus sehen ... Ein
Spaziergang durch Berlin und Umgebung mit diesem Buch wird unversehens zur
Entdeckungsreise. Worum es der Autorin geht, das erläutert sie im April 1992 in
einem gleichsam hoffnungsvollen
Vorwort
Wer in der Mark reisen will, der muss zunächst Liebe
zu Land und Leuten mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit. Er muss
den guten Willen haben, das Gute gut zu finden, anstatt es durch krittliche
Vergleiche totzumachen. 1864 gab Fontane den Wanderern in der Mark diesen Rat.
Wie gegenwärtig klingt er heute, da unzählige Wanderer ausziehen, ein Land zu
entdecken, das jahrzehntelang als verlorene Provinz galt.
Wer dieses Land mit der Seele suchen,
wer das Wesen von Mark und Märkern verstehen will, ist noch heute mit Fontane
gut beraten, denn er hat beide liebevoll geschildert, aber nirgends
glorifiziert. Wie ein Wünschelrutengänger berührte er den Boden und ließ
historische Gestalten erstehen, und in dieses Zauberspiel der Fantasie wird der
Fontaneleser auch heute hineingezogen: In Wustrau wird ihm Zieten aus dem Buch
lebendig, in Rheinsberg Prinz Heinrich, in Meseberg der tolle Kaphengst; in
Molchow wird er schmunzelnd bestätigen, dass der hölzerne Glockenturm wirklich
so aussieht, als habe ihn ein Schilderhaus mit einer alten Windmühle gezeugt;
eine Blumenwiese in Hankels Ablage wird ihn an Lene und Botho erinnern; und
obwohl es nie ein Schloss Stechlin gegeben hat, wird man am Großen Stechlinsee,
vielleicht in einer knorrigen Eiche, den alten Dubslav raunen hören:
Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so
sind sie langweilig.
Etwas von der ungeheuren Zauberkraft, die
von Fontanes Wanderungen und Romanen ausgeht, ist in diesem Buch eingefangen;
der Leser scheint Fontane über die Schulter zu sehen, er erfährt, warum es ihn
an diesen oder jenen Ort zog, was ihm dort widerfuhr und wie es sich in Leben
und/oder Werk niederschlug.
Unterwegs mit Fontane heißt aber nicht
nur reisen zu den Stätten, die für ihn von Bedeutung waren, sondern auch reisen
zum Menschen Fontane. Die Neuruppin- und Berlinkapitel ergeben so etwas wie
eine Fontane-Biografie: Kinderjahre, Schulzeit, Sturm und Drang in Berlin,
Reifezeit, Familienleben, Ärger mit Chefredakteuren, Ministern, Hausbesitzern
und der leidigen Commodite, kurz, sein ganzer Lebensbogen bis zu dem großen Romanwerk,
das er mit 60 begann.
Berlin nimmt verständlicherweise den
größten Raum ein und ist allen anderen Kapiteln vorangestellt. Fontane erlebte,
wie die Stadt sich aus provinzieller Enge befreite und vernobelte; er
beobachtete die Anfänge kaiserlichen Bombasmus, ... die Folgen mit all den
schrecklichen Verwüstungen sah er nicht mehr.
Keine seiner 18 (!) Wohnstätten blieb dort
erhalten, und doch wird der Leser eine Vielzahl von Plätzen finden, an denen er
überrascht innehält und sich sagt: Ja, hier muss es gewesen sein, auf
diesen jüdischen Friedhof konnte er von seinem Fenster aus sehen, oder hier, in
der Invalidenstraße, könnte die Witwe Pittelkow oder hier, in der Keithstraße,
könnte Effi Briest gewohnt haben; und die Poggenpuhls, schwärmten sie nicht von
dem Ausblick auf den stillen Matthäikirchhof? Wirkliche und Romangestalten
laufen einem durcheinander, und gerade das war von Fontane gewollt.
Erich Kästner schrieb 1959 in einer
Hommage à Fontane: Er schuf Berlin zum zweiten Male. Er schenkte uns die Stadt
an der Spree, wie uns Balzac die Stadt an der Seine und Dickens die Stadt an
der Themse schenkten. Diese Städte und ihre Gesellschaft mögen sich wandeln,
sie mögen wachsen, verfallen oder gar zerstört werden - ihr Herz und
eigentliches Wesen lebt im Oeuvre der großen Romanciers fort.
Und was die Mark Brandenburg betrifft, so
hoffe ich, dass der Leser am Ende seiner Reise mit Fontane sagen kann: Ich bin
die Mark durchzogen und habe sie reicher gefunden, als ich zu hoffen gewagt
hatte. Zwar muss sich der Reisende - wie zu Fontanes Zeiten - auf manche
Unebenheiten gefasst machen, aber: Es wird einem selten das Schlimmste
zugemutet.
Mögen nun die vorliegenden Kapitel in
andern jene Empfindungen wecken, von denen ich am eigenen Herzen erfahren habe,
dass sie ein Glück, ein Trost und die Quelle echtester Freuden sind (Theodor
Fontane, November 1861).
Erstmals 2005 erschien im Lions Verlag Mittweida Der
Zug der Blinden von Peter Löw: Schäfer, der alkoholkranke
Baubrigadier, macht sich auf eine Grenzerfahrung hin auf Sinnsuche. In den
Konflikten der DDR-Endzeit dennoch suchtrückfällig geworden, fällt sein
zerstörerischer Angriff auf die Werkausstellung Maler Janssens, in der er sich
als sozialistischer Arbeiter-Sieger dargestellt findet, mit den Wir-sind-das-Volk-Rufen
der sich erhebenden Massen zusammen. Von den Vorgängen betroffen alle
Romanfiguren, die in widersprüchlichem Beziehungsgeflecht noch ansässig sind im
großstädtischen Rekonstruktions-Wohngebiet Brühl. Ein Neues steht nur bevor:
der Aufbruch in eine andere Welt. - Eine Fata Morgana des Überflusses lockt den
Zug der Blinden in Janssens gleichnamigen Tafelbild an. Werden die Leute vom
Brühl im Neuen auch mit Herzen und Seelen ankommen? Hier der Anfang dieses
spannenden Romans, der schon andeutet, dass vieles im Wandel zu sein scheint
eine Art komplexer Rekonstruktion, allerdings ganz anders als damals noch
gedacht:
1.
Kapitel
Wütend warf
Janssen den Pinsel hin, er konnte nicht mehr. Um sich aufzuwärmen, trat er zum
Kanonenofen. Kein Bauhandlanger, dachte er, hätte mit ihm getauscht. Und noch
pfeifen würde auch er auf die Kunst, blieb es beim Jetzigen.
Hoffnung setzte
er auf den Zauberer. Das Opus in Öl, mit dem er immer noch rang. Mit dem
vielleicht er hätte längst fertig sein können, sagte er sich, bei anderer
Werkstatt.
Es klopfte an
die Tür.
Draußen stand
eine in Pelzjacke und Tschapka. Er wusste das Gesicht nicht einzuordnen; es war
hübsch.
Lächelnd kam sie ihm zu Hilfe: Didoni, nannte sie
ihren Namen, Didoni, Bezirkskunststelle.
Er war im
Bilde. Der Mitgliederversammlung des Künstlerverbandes hatte sie sich als die Neue vom Bezirk vorgestellt. - Er
bat herein. Und fragte sich, was sie
wohl wollte. Verbandsterrain sondieren - oder hatte Bernert, ihr Meister, sie auf den Zauberer
angesetzt: Schau's dir an, Janssens neues, ideologisch
verqueres Machwerk!?
Ihr Blick
wanderte über die Wasserflecken an der Decke, über salpeterblühenden Putz. -
Ja, so sieht's aus, kleine Beauftragte, dachte er, präg's dir gut ein. Sein
Antrag auf anderen Raum war Legende, lief seit einem Jahrzehnt. Lief, so sehr
auch er hier verwurzelt war. Verwurzelt in der Leihbücherei zum Goldborn. Wo sein Senior Bücher verliehen, er
selbst sie geschwartet hatte. Sein Werden, es war mit dem Gemäuer verbunden;
gleichwohl musste er raus. Raus aus Nässe und Kälte. Investitionen lohnten
nicht: In ein, zwei Jahren kam komplexe
Rekonstruktion. Würde er ohnedies, dann immer noch hier, hinausgesetzt werden. Lieber heute als
morgen wäre er umgezogen. Ein Königreich für einen freien, beheizbaren
Gewerberaum. Vergebens all sein Inserieren und Suchen. Wo nicht einstige
Backstuben zu Wohnraum umgebaut werden sollten, drohte Einsturzgefahr. Janssen
sieh, wo du bleibst - vielleicht bis Räumkommandos anklopfen.
Er rieb sich
die klammen Hände. Über seine Wattejacke hin ging der Blick der Didoni. Ja, so
schaut's aus, kleine Beauftragte, dachte er. Er riss den Ofen auf, warf
Briketts hinein - nützen, wusste er, würde es nichts. Ohnehin war ihm nicht
nach langem Palaver,
Sie standen vor
dem Bild. Der Menschenzug war lang und gedrängt. Bewegte sich auf einen
Hintergrund zu und in ihn hinein, der sich wirr zusammensetzte aus Merkmalen
der Industrie- und Wohlstandsgesellschaft:
aus Kraftwerksschloten und Destillierkolonen, aus Wolkenkratzern und
Straßenkreuzern, aus Baukränen und Villenprunk und Bananen-Füllhörnern, aus
Computern und pompös anmutenden Mammut-Maschinen. Eine visuelle Verheißung der
Fülle. Eine des Blendwerks dabei, darin des Zuges Vordere, hineindrängend, zu
vergehen schienen zu Schemen. Ein Blickfang die Steine, die Verwandlung
durchmachten, zu Brotlaiben wurden. Vorn seitlich ihrer der Junge. Der
Blondkopf, der sich gegen den An- und Hineindrang stemmte, ihn ins Stocken
brachte. Sein Blick Durchschauen, Erkennen. Begreifen des Trugs, der ins
Verderben, ins Nichts hineinzog.
Im Halblicht
der Zauberer, dem des Jungen wegen das luziferische Lächeln gefror.
Ja, dachte
Janssen, das war es. Erwachen von Mario. Das Ganze, ohne Mario wäre es zu
statisch geblieben, auch kompositorisch.
Nun, findet es
Gnade?, wollte er wissen.
Die Didoni
erwiderte nach Sekunden: Nur interessant,
könne sie sagen.
Wenn das alles
ist, dachte er. Bisschen wohlfeil für dich, Frau
Bezirkskunststelle. Interessant, das Kinoplakat.
Ich mein auch
den Bezug, sagte sie. Zur Literatur. Dostojewski, nicht wahr?
Hintersinnig
stellte er fest: Es gäbe noch Kenner.
Von der Seite
sah sie ihn an. Kommen gleich nach den Sehern. Ihre Stimme warnte.
Du zeigst ja
Krallen, dachte er. Du wirkst eher warmblütig. - Er behielt für sich, dass er
hoffte, das Bild werde seine Wirkung auch dann nicht verfehlen, wurden die
Zitate nicht entschlüsselt. Er fand es sein bestes: Malerei, die allein schon
mit Gestalten, Farben und Formen beeindrucken musste. Den meisten verborgen
bleiben würde sein Geisteskern, die Essenz. Verborgen bleiben wie des Werkes
Entstehungsgrund. Der hinabreichte zu Rudolf, seinem verstorbenen Vater. Der
Mensch erlegen der eigenen, der technischen Schöpfung, hörte er ihn. Ihr
erlegen aus Gier nach dinglichem Reichtum - im Sog hin zur Wüste, zum Orkus. -
Dass solche Bildbotschaft ankommen werde, Janssen bezweifelte es. Zu wenige
Marios dazu, dachte er, in der Menge. Eine Art Spiegel würde das Opus
gleichwohl allemal sein. Mehr, meinte Jansen, war nicht seines Berufs.
Übrigens, Ihr
Chef ist anderer Meinung. Janssen lächelte. Bernert, er hatte das Bild als selbstherrlich charakterisiert. Nicht
nach meinem Geschmack, hörte er ihn. Die Gesellschaft sonst ausnahmslos
korrumpiert - nur die Kunst scharfsichtig über den Dingen.
Nicht immer ist sie's, hatte Janssen bei sich
entgegnet. Du, Bernert, jedenfalls siehst zu kurz. Siehst Konsumdenken gegeißelt, nicht mehr. - Argumentiert hatte er damit,
dass Kunst nun mal verallgemeinere.
Einseitig?!,
fragte daraufhin Bernert.
Janssen sah:
Auch dieser sein Zauberer würde den Erfolg ihm nicht bringen.
Und hatte Tage
später den Einfall. Den Einfall, der Mario hieß. Mario, hatte er gesehen, die
Zugabe für die einäugig Blinden.
Ach, anderer
Meinung. Die Stimme der Didoni rief ihn zurück. Eine Stimme, die den Willen zu
eigenem Standpunkt betonte. Er verbiss sich eine Bemerkung. Werden sehen, wie
lange du dich bei ihm, deinem Impresario, so eigensinnig behauptest, dachte er.
- Dabei wusste er, dass nicht fair war, wie er ihn ins Spiel gebracht hatte.
Bernerts Urteil, es hatte der Altversion des Zauberers gegolten; die mit
Mario kannte er, der bezirkliche Kunstpapst, noch nicht.
Ich bin wegen
anderem hier, wechselte sie das Thema. Etwas Erfreulichem. Sie lächelte
wieder.
Abwartend sah
er sie an. Wo nimmt sie jetzt, im Winter, fragte er sich, solchen Teint her?
Vielleicht
setzen Sie sich erst mal, sagte sie bedeutsam. Eine von den Atelierwohnungen
wird Ihre. Am Brühl.
Er reagierte,
als habe er nicht verstanden. Auf der Straße schrien spielende Jungen.
In den
nächsten Wochen schon. Ihre Stimme klang wichtig. Brühl Nummer siebzehn.
Ihm fiel
schwer, das Gehörte zu fassen. Fernheizung, dachte er, und aller Komfort. Und
wessen - Protektion hab ich so viel Glück zu verdanken?!
Keiner. Nur
der Dringlichkeit. Die spür ich hier selbst, scherzte sie etwas forciert und
mimte ein Frösteln.
Bernert, dachte
er. Mäzen Bernert; nur so war, was ihm geschehen sollte, erklärlich. Der dringliche Fall, er überwog im Verband
bei weitem die Zahl, in der Atelierwohnungen entstanden. Mäzen Bernert: Es
konnte anders nicht sein.
Und auf wen im
Verband fällt noch solcher Treffer?, wollte er wissen.
Sie nannte fünf
Namen. Es waren etablierte Namen. Er
allein, sah Janssen, aus unterem Rang. Wo nicht Bernert, hatte er seinem
Vorsitzenden Janke zu danken oder beiden zusammen.
Erstmals 2013 veröffentlichte EDITION digital als
Eigenproduktion das E-Book Die Zeitreisende, 11. Teil.
Zum Ursprung 15 000 Jahre zurück. Ein fantastischer Roman. 2., überarbeitete
Auflage: Ein Leben voller Abenteuer liegt hinter unserer Zeitreisenden.
Was musste Maria Lindström , die sich selbst stolz Aphrodite
nennt, nicht alles überstehen! Auf dem Flug zum Pluto wurde sie ohne ihre
Zustimmung als Versuchsperson benutzt und unfreiwillig schwanger. Das war aber
nur der Anfang einer langen Leidensgeschichte. Der Sturz durch Raum und Zeit in
die Vergangenheit sollte die Leidensfähigkeit der Zeitreisenden auf eine harte
Probe stellen. Ihr Schicksal in der Sklaverei und ihre erzwungenen Hurendienste
sind für sie unvergessene traumatische Erlebnisse. Es war ein ewiger
Überlebenskampf, der sie tief in ihrem Herzen geprägt und für immer geformt
hat. Dass sie später zu Macht und großem Reichtum gelangte, hat daran nichts
geändert. Am Ende blieb ihr nur die Flucht. Ihr Leben danach auf dem Planeten
der Frauen war ebenso spektakulär. Vielleicht hat sie es aber doch geschafft,
dort das Rad der Geschichte ein Stück weiter zu drehen. Die Abenteuer in der
Zukunft hätten sie beinahe das Leben gekostet. Doch ihr Wirken hat auch dort
für ein Umdenken gesorgt und die Macht der Unsterblichen für immer gebrochen.
Zurück in ihre Welt, die Welt des 23.Jahrhunderts, war ebenfalls kein
Spaziergang. Die Freude, Bruder und Schwester zu sehen, wurde schnell von
dunklen Machenschaften verschiedener Kreise getrübt. Für den Entschluss, zurück
in die antike Zeit zu reisen, wurde sie nicht belohnt. Das Land der Pharaonen
wollte sie ebenfalls nicht haben. Nun soll sie den Kampf gegen außerirdische
Zivilisationen in einer fernen Vergangenheit, in der Steinzeit, aufnehmen. Wird
ihr das gelingen? Hier der etwas überraschende und zumindest in Aphrodites Fall
völlig hüllenlose Beginn, wie es der Autor offenbar nicht ungern hat:
Die Einweisung
Aphrodite schlägt die Augen auf und
sieht, wie sich der Sarkophag gerade öffnet. Wie gewohnt steigt sie aus und
streift sich dabei mit den Händen den letzten Rest der grünen Flüssigkeit vom
Körper. Dabei stellt sie überrascht fest, dass sie nicht die geringsten Spuren
der Schwangerschaften und der Geburt der beiden Kinder an sich erkennen kann.
Sie hatte sich damit abgefunden, dass eine hässliche Narbe vom Kaiserschnitt
zurückbleibt. Doch ihr Körper erscheint perfekter denn je. Sind auf Wunsch der
Männer ihre Brüste noch größer geworden? Nicht dass die Brüste ihr jetzt zur
Last werden! Die Männer sind mit ihren Fantasien scheinbar maßlos geworden. Sie
denken nicht daran, dass zu viel des Guten für eine Frau zu einer echten
Belastung werden kann. Am Po hat sie auch zugelegt. Oder war sie schon immer so
gebaut? Was solls, sie muss sich nehmen, wie sie eben ist. Sie schaut sich um.
Überrascht stellt sie fest, dass die Sarkophage auf der anderen Seite auch
schon offen sind. Hat sie etwas verpasst? Wo sind die Kinder?
Sie hört eine unbekannte tiefe
Stimme hinter sich sagen: Hallo, Mutter. Wie geht es dir? Bist du wohlauf?
Aphrodite dreht sich um und sieht
einen jungen Mann vor sich stehen. Der hübsche schlanke junge Mann trägt eine
Kombination aus einem silbrig schimmernden Stoff. Er hat einen prächtigen
schwarzen Lockenkopf und strahlend blaue Augen. Aphrodite weiß, es sind ihre
Augen, die sie ihrem Sohn mitgegeben hat. Der junge Mann vor ihr hat sehr viel
Ähnlichkeit mit ihren anderen Söhnen. Nur hat dieser pechschwarzes Haar und
scheint auch größer als ihre Söhne Alexander und Adam zu sein. Woher er wohl die
schwarzen Haare haben könnte? Aber der junge Mann gefällt ihr auf den ersten
Blick und darum sagt sie: Hallo, Söhnchen! Hallo, Marotti! Du siehst gut aus.
Wie geht es dir? Komm zu deiner Mama und lass dich umarmen!
Jetzt geht sie auf ihren Sohn zu.
Auch er kommt ihr entgegen und schaut sie dabei nur so komisch an. Aphrodite
drückt ihn fest an ihre Brust. Sie spürt es jetzt ganz deutlich, das ist ihr
Sohn. Plötzlich wird Aphrodite bewusst, dass sie immer noch völlig nackt ist.
Aha, darum hat ihr Söhnchen so komisch geguckt. Er ist mein Kind, er darf mich
so sehen, entschuldigte sie sich und genießt die Nähe des jungen Mannes.
Der junge Marotti bekommt einen
roten Kopf, ihm gefällt aber auch spürbar ihre innige Umarmung und er sagt:
Mutter, du bist einfach nur umwerfend. Du fühlst dich richtig gut an. Alles an
dir ist so herrlich weich und warm. Jetzt begreife ich, warum Männer in deiner
Nähe den Verstand verlieren. Er löst sich zaghaft von ihr. Aber du solltest
erst einmal unter die Dusche gehen und dir dann etwas anziehen. Auch wenn du
meine Mutter bist, bleibst du immer noch eine wahnsinnig schöne Frau. So eine
schöne Frau, wie du es nun mal bist, darf nicht völlig nackt vor einem Mann
herumlaufen. Du bist Verlockung und Lust pur. Auch oder gerade deshalb solltest
du deinen Sohn nicht so sehr verwirren!
Ach, neuerdings stört es dich, wenn
ich nackt vor dir herumlaufe? Ja, ich sehe es jetzt auch, du bist ein richtiger
Mann geworden!, sagt Aphrodite spöttisch, löst sich ganz von ihrem Sohn und
geht unter die Dusche, die wie aus dem Nichts aus der Wand kommt. Sie genießt
die Dusche und seift sich extra ein.
Ihr Sohn: Soll ich dir den Rücken
einseifen?
Das wäre lieb von dir, mein Sohn,
ich meine Marotti!, sagt sie und hält ihm schon ihren Rücken hin.
Mit viel Gefühl wird jetzt ihr
Rücken eingeseift. An ihren Po traut er sich aber nicht heran. Aphrodite
genießt seine sanften Hände. Nach der Dusche stellt sie wie immer die
Luftdusche an. Der angenehm warme Luftstrom duftet nach Kräutern, die in den
Bergen Siziliens gedeihen. Mit geschlossenen Augen glaubt sie, in ihrem Palast
in Syrakus zu stehen. Für einen kleinen Moment fühlt sie sich gar ins antike
Syrakus zurückversetzt. Doch die Illusion ist nur von kurzer Dauer. Etwas
traurig steigt sie aus der Dusche. Ihr Sohn empfängt sie mit einem Tuch und
reibt sie jetzt auch sorgfältig ab. Der junge Mann braucht dafür auffallend
lange. Er nutzt das Tuch, um seine Mutter gründlich zu erkunden. Man merkt ihm
an, dass er mit viel Genuss ihre Rundungen ergründet. Aphrodite nimmt es locker
und genießt seine Aufmerksamkeit.
Plötzlich fühlt er sich ertappt und
reicht Aphrodite, verlegen geworden, das Tuch: Mutter, du bist wirklich eine
schöne Frau!
Für deine Gefühle brauchst du dich
nicht zu schämen. Dass eine Frau bei einem Mann allein durch ihre Erscheinung,
ihre Anwesenheit Gefühle auslöst, ihn erregen kann, ist etwas ganz Natürliches.
Für dich, der solange körperlos gelebt hat, ist es etwas Neues. Du musst
lernen, damit umzugehen. Jeder Mann muss lernen, seine Gefühle zu kontrollieren
und sich nicht wie ein Tier, nur vom Trieb gesteuert, auf die Frau, das
Lustobjekt in seinen Augen, zu stürzen. So wie ich jetzt aussehe und beschaffen
bin, das habe ich euren Künsten zu verdanken. Ich bin euer Fantasieprodukt. Ihr
wolltet es doch so, dass ich als Frau mit allen weiblichen Attributen üppig
ausgestattet werde. Die Macht, die ihr über mich habt, hat das möglich werden
lassen. Oder irre ich mich?, behauptet Aphrodite. Sie weiß nicht, ob es
wirklich so gut ist, Produkt ausufernder Männerfantasien zu sein. Sie ist es,
die mit diesem Körper leben muss.
Du hast recht, Aphrodite. Es ist
wahr, du bist unsere Schöpfung und zugleich der Inbegriff der vollendeten
Schönheit. Wir halten den Körper der Frau für die Krönung der Schöpfung. Die
Schönheit und die gleichzeitige perfekte Funktionalität des weiblichen Körpers
halte ich für unübertroffen in der Natur!
Danke. Genug der Lobhudelei, sonst
bilde ich mir darauf noch was ein. Kehren wir zurück in die Welt der objektiven
Realität. Oder in die Welt, die wir für die Realität halten. So sicher bin ich
mir nun nicht mehr. Sag mir bitte, wo ist deine Schwester?, fragt Aphrodite
und streift sich das von ihm gereichte Tuch endlich über. Es ist auch für sie
ein unangenehmes Gefühl, so ganz nackt vor ihm zu stehen.
Marotti hat sich wieder gefangen und
erklärt sachlich: Weil du als Mutter ein Recht auf deine Kinder hast, haben
wir keine Mühen gescheut und Maria kommen lassen!
Von woher ist sie denn jetzt
gekommen? Nein, anders gefragt, wohin ist sie denn gegangen?, fragt Aphrodite.
Der junge Marotti schaut auf ein
Display an der Wand und sagt: Perfekt, sie ist eben angekommen. Sie ist für
ein paar Augenblicke aus dem fernen Joppe des Biblischen Judäa zu dir
gekommen.
Tatsächlich kommt in diesem
Augenblick eine schöne junge Frau auf Aphrodite zu. Auch sie hat wie ihr Bruder
langes schwarzes Haar und trägt ein einfaches Gewand, wie es in der Antike
üblich ist.
Erstmals 1976 veröffentlichte Klaus Möckel im
Verlag Neues Leben Berlin damals noch unter dem ein Wort kürzeren Titel Die Einladung seine Zukunftsgeschichte Die geheimnisvolle
Einladung, wie sie bei der Wiederveröffentlichung im Jahre 2012 genannt wurde:
Der Schriftsteller Rubin, angesehen und von sich überzeugt, erhält unter
mysteriösen Umständen eine Einladung. Er soll in einem ihm unbekannten Klub aus
Werken lesen, zu denen er nicht mehr steht oder die er noch gar nicht
geschrieben, die er bestenfalls angedacht hat. Er sieht sich gefoppt und
herausgefordert. Mit gemischten Gefühlen besteigt er den Wagen, der ihn zu
einem fremden Ziel entführt.
Die
Reise ins Jahr 2079 bringt dem Dichter ungewöhnliche Begegnungen und bizarre
Überraschungen. Er wird mit einer Zeit konfrontiert, die er sich so nicht
vorgestellt hat, vor allem aber mit sich selbst und einem Urteil der Nachwelt
zu seinen Werken, das ihm überhaupt nicht gefällt.
Diese
Konstellation bietet dem Autor so viel Gelegenheit zu Verwicklungen und
Verwirrungen, schrieb nach dem Erscheinen des Buches ein Rezensent aus Bern, dass
man aus dem Schmunzeln nicht mehr herauskommt und voller Spannung auf den
Fortgang der halb realen, halb surrealen Geschehnisse wartet ... Dem
Ostberliner Übersetzer, Lyriker und Erzähler ist mit diesem vom Umfang her
kleinen Roman ein Volltreffer gelungen ... Diesem Urteil ist nur noch
hinzuzufügen, dass die amüsante Geschichte in der Zwischenzeit nicht das
Geringste von ihrer Frische eingebüßt hat. Und davon können sich Leserinnen und
Leser gleich selbst überzeugen, wenn sie zuvor die folgende ziemlich
hintersinnige Anmerkung des Autors, also Klaus Möckel, zur Kenntnis genommen.
Aber Achtung, bitte genau lesen:
Der Autor
versichert, alle Namen frei erfunden und Ähnlichkeit mit lebenden Personen
nicht beabsichtigt zu haben. Sollte sich dennoch jemand getroffen fühlen, so
ist er gemeint.
1. Kapitel
Sie lag vor mir
auf dem Schreibtisch - ein einfach gefaltetes Stück festen weißen Kartons, von
dem ein schwacher silbriger Glanz ausging. Ein Schimmer, wie ihn bestimmte mit
Perlmutt eingelegte Gegenstände besitzen. Sie lag da, eine bescheidene
Klappkarte, und fiel unter den anderen Papieren auf. Sieh an, so etwas
Schlichtes und zugleich Elegantes bringen wir also fertig, wenn wir nur wollen,
dachte ich. Ich nahm die Karte zur Hand, las das schwarz gedruckte Wort
EINLADUNG vorn auf der ersten Seite und betrachtete flüchtig die Skizze, die
sich unterhalb dieses Wortes befand. Es war eine Federzeichnung, ein Plan
vielleicht, von dem ich nicht wusste, was er darstellte, der mir aber irgendwie
bekannt vorkam. Linien, Punkte, Kreise, schraffierte Flächen mit einer
eigenartig leuchtenden Tusche ausgeführt - wäre ich mit meinen Gedanken mehr
bei der Sache gewesen, mir hätte schon damals etwas auffallen müssen.
Aber ich war
nicht bei der Sache; ich hatte die Karte eher unbewusst in die Hand genommen;
innerlich beschäftigte ich mich schon mit den Tagesarbeiten, und so bemerkte
ich nichts. Ich kam auch nicht dazu, die Klappkarte aufzuschlagen und den Text
zu lesen - irgendwas musste ja drinstehen -, denn ich wurde durch Maren, meine
Frau, abgelenkt, die nach mir rief, weil sie zur Kosmetikerin wollte und wieder
einmal ihre Wagenschlüssel nicht fand. Wenn Maren etwas suchte, war es vorbei
mit der Konzentration. Ihre nichtigen, aber stets vorrangigen Probleme! Früher
hatte ich das nicht gesehen, früher war ich in vielerlei Hinsicht blind
gewesen, doch jetzt...
Leicht
verärgert legte ich die EINLADUNG auf den Tisch zurück, verschob die
Angelegenheit auf später. Dachte auch nicht mehr an sie, als das mit den
Wagenschlüsseln geklärt war. Es war ein frischer, sonniger Herbstmorgen, und
ich hatte es mir seit langem zur Gewohnheit gemacht, an solchen Tagen keine
Zeit auf Nebensächlichkeiten zu verwenden. Auf Nebensächlichkeiten, zu denen
ich vier Fünftel meiner Post zählte: Zuschriften irgendwelcher Nörgler,
Zeitungskritiken, die mir der Verlag oder wohlmeinende Freunde zusandten,
Invitationen. Nein, alles das konnte warten; meine Zeit war zu kostbar, um mit
Kram vertan zu werden. Ich wollte gleich nach dem Frühstück ans Diktieren
gehen, und wenn am Nachmittag Irene, die Schreibhilfe, kam, würde sie das
zweite Band besprochen vorfinden. Denn ich war gerade in den letzten Tagen gut
in Schwung gekommen und musste das Eisen hämmern, solange es glühte. Einen
großen Anlauf hatte ich für dieses Bändchen, meine II. Poetische Reise,
gebraucht - Dichtung war eben nichts, was man auf Bestellung schuf -, doch nun
flossen mir die Gedanken und Bilder in die Feder. Zum Glück, denn durch Presse,
Funk und Fernsehen war schon einiges über das Projekt an die Öffentlichkeit
gedrungen. Noblesse oblige. Mein Publikum, eine, wie ich mit einigem Stolz
vermerken darf, für einen Poeten relativ große und treue Leserschar, sah dem
Buch mit Ungeduld entgegen. Ihnen, meinen Anhängern, wusste ich mich
verpflichtet, und es wäre ungerecht gewesen, sie wegen zweitrangiger Dinge
warten zu lassen.
Aus diesen verständlichen
Gründen also vergaß ich die EINLADUNG, nachdem ich sie auf den Schreibtisch
zurückgelegt hatte, sofort. Mitunter verhält man sich wie ein
Briefmarkensammler, der über seinen mehr oder weniger wertvollen Stücken die
für das Leben oft wichtigeren Dinge außer Acht lässt. Wenigstens so lange, bis
er mit der Nase darauf gestoßen wird. Soll ich es Glück nennen, dass mir in der
Folge mit dieser Klappkarte nicht widerfuhr, was mir mit so mancher Einladung
des Schriftstellerverbandes, des PEN-Klubs, der Akademie der Künste passierte:
dass sie sich von selbst erledigte? Dass sie wegen Terminüberschneidung in den
Papierkorb wanderte, oder weil ich erst wieder an sie dachte, als der
angegebene Zeitpunkt längst vorüber war? Glück, schicksalhafte Fügung - ich
halte nicht viel von solchen Worten. Aber vielleicht muss man in dieser ersten
Phase, da ich den Text noch nicht gelesen, den Stachel, der in ihm verborgen
war, noch nicht gespürt hatte, darüber sprechen. Trotz der Stöße, des
Schlägehagels, der später auf mich niederprasselte und den ich bis jetzt noch
nicht völlig verwunden habe. Hätte ich jedenfalls gewusst, was sich hinter
dieser EINLADUNG verbarg, ich wäre keineswegs so ruhig frühstücken gegangen,
als Maren endlich verschwunden war. Und ich hätte in den nächsten Tagen kaum
soviel Zeit auf die II. Poetische Reise verwandt, ein Werk, das ich heute,
nach dieser Erfahrung, trotz allen Lobs in der Presse nicht mehr für gar so
wertvoll halten kann.
Aber irgendwie reizt in diese geheimnisvolle Einladung dann
doch, Rubin (welch schön ausgewählter Name!) reist in die Zukunft und erlebt
dort doch rechts Unerwartetes. Und die Leserin und der Leser dürfen sich
vergnügen. Viel Spaß dabei, weiter einen schönen Frühling und bleiben auch Sie
im Monat des blauen Bandes (Achtung, lyrische Anspielung, die nichts mit einer
gewissen TITANIC zu tun hat, die kam erst später zu zweifelhaften Ehren.)
weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
Ach, da wir
gerade bei Zeitreisen sind, kennen Sie eigentlich das Großvater-Paradoxon? Bei
Wikipedia lesen wir unter diesem Stichwort dazu eingangs Folgendes: Das
Großvaterparadoxon ist ein Paradoxon, das kausale Folgewidrigkeiten und
Widersprüche bei Zeitreisen in die Vergangenheit zum Gegenstand hat. Es hat
seinen Namen von einem bekannten Gedankenexperiment zu seiner Verdeutlichung:
Angenommen, eine Person reist in die Vergangenheit und verursacht dort den Tod
eines ihrer Großväter, noch bevor dieser das entsprechende Elternteil gezeugt
hat; damit ist aber eine kausal notwendige Bedingung der Existenz der
Zeitreisenden nicht mehr gegeben. Weiterhin ist aber auch die Kausalkette, die
zur Zeitreise und zum Tod des Großvaters führte, unterbrochen. Damit wird auf
eine grundlegende Problematik von Zeitreisen verwiesen. Es stellen sich z. B.
die Fragen,
ob sich durch die Zeitreise eine neue
Zeitlinie ergeben hat, zu deren Vergangenheit die Zukunft der alten Zeitlinie
zählt, oder
ob sich damit die Unmöglichkeit von
Zeitreisen insgesamt aufzeigt, oder
ob angenommen werden muss, dass eine
Zeitreise die (isolierten) Bedingungen ihres Zustandekommens selbst nicht
aufheben kann, oder
ob die Vergangenheit trotz Zeitreise
unveränderlich ist.
Neben der
direkten Diskussion der Möglichkeit von Zeitreisen und kausaler Paradoxien
berührt das Paradoxon auch weitere Bereiche der philosophischen Logik, z. B.
bzgl. der Identität über mögliche Welten. Schauen Sie mal nach