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Memoiren ohne Rücksicht, ein sozialer Erdrutsch sowie Glück und Leid eines aufrechten Mannes - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 19.04. 2024) – In der Literatur ist es eine oft geübte Praxis, gesellschaftskritische Texte der Vorsicht oder anderer politisch-künstlerischer Gründe halber in anderen Ländern oder gleich auf anderen Kontinenten spielen zu lassen. So kann man immer sagen, das eigene Land sei nicht gemeint. Dennoch wissen die Leute Bescheid. Meistens jedenfalls. Das könnte auch für das zweite der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote dieses Newsletters gelten, die eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 19.04. 24 – Freitag, 26.04. 24) zu haben sind.

In seinem erstmals 1993 im Verlagshaus Thüringen Erfurt veröffentlichten Polit-Thriller „Der Tresor des Diktators“ entwirft Ulrich Völkel folgendes Szenario: Der Vizepräsident und der Chef des Geheimdienstes putschen gegen den Präsidenten der Republik, um einer drohenden Revolution zuvorzukommen. Der Coup gelingt. Aber wohin nun mit dem gestürzten Diktator? Er muss, wenn die Putschisten wenigstens scheinbar ihr Gesicht wahren wollen, vor Gericht gestellt werden. Aber welche Aussagen haben der ehemalige Vizepräsident, nunmehr selbst an der Macht, und der Chef des Geheimdienstes von ihrem Gefangenen zu erwarten? Sie entschließen sich zu einem „Handel“ dergestalt, dass dem Gefangenen eine Villa in einem gutbewachten weitläufigen Park zur Verfügung gestellt wird, wo er ohne Rücksicht auf irgendwelche Personen seine Memoiren schreiben und in einem Safe bis zu seinem Tode verwahren kann; erst dann sollen sie veröffentlicht werden. Wie wird sich der gestürzte Präsident verhalten?

Völkel hatte seinem Buch eine bemerkenswerte Bemerkung vorangestellt: „In Ansehung jüngerer und jüngster Vorgänge sieht sich der Verfasser dieses Buches verpflichtet, unmissverständlich zu erklären, dass es sich bei dem vorliegenden Werk um eine reine literarische Erfindung handelt. Auch er ist bestürzt von der frappierenden Ähnlichkeit mit Vorgängen aus der Realität.“

Und jetzt darf man sich natürlich fragen, wo dieser Polit-Thriller eigentlich spielt? In Südamerika, wie am ehesten zu vermuten ist. In Afrika? Oder vielleicht doch in Deutschland? Aber ist in Deutschland tatsächlich eine Revolution zu erwarten, der irgendjemand zuvorkommen zu müssen glaubt. Ausgeschlossen. Absurd. Oder doch nicht?

Auch die beiden nächsten Bücher stammen von Ulrich Völkel, spielen allerdings zu sehr unterschiedlichen Zeiten. Im Mittelpunkt seiner erstmals 1999 veröffentlichten Erzählung „Daheim, in meinem fremden Land“ steht das Schicksal eines jungen Arbeiters, den der gesellschaftliche Umbruch besonders abrupt trifft. Hier riecht nichts nach Bitterfelder Unkräutern, die am Wege welken. Die existenzielle Krise, in welche der Protagonist durch den sozialen Erdrutsch gleich mehrerer Gesellschaftsordnungen gerät, zwingt ihn zu einer Rückschau.

Um eine heute nicht mehr so unumstrittene historische Persönlichkeit wie noch vor einigen Jahrzehnten geht es in dem erstmals 1987 veröffentlichten Roman „Adler mit gebrochenem Flügel“. Diese historische Persönlichkeit ist Ernst Moritz Arndt. Ulrich Völkel schildert nach seinem erfolgreichen Theodor-Körner-Roman „Mit Leier und Schwert“ dieses Mal das wechselvolle Schicksal Ernst Moritz Arndts, Glück und Leid eines aufrechten Mannes, der wie Körner während des Befreiungskriegs den Höhepunkt seiner Laufbahn erfährt, dann aber, verfolgt und verfemt wie viele Patrioten, zum „Adler mit gebrochenem Flügel“ wird.

„Stern von Gea“ – so lautet der erstmals 2011 veröffentlichten Band 4 der Raumlotsen-Saga von Carlos Rasch. Dieser abschließende Band der Reihe ist ein Episodenroman, dessen Handlung lange nach den ersten drei Bänden auf der Siedlungswelt JUWELA spielt. In der Gesellschaft aus Nachkommen von Erdbewohnern, die in drei verschiedene Gruppen geteilt ist - die einfachen Siedler, über etwas moderne Technologie verfügende Orbitaner und die meist im Tiefschlaf liegenden Raumfahrer von der von Menschen verlassenen Erde - verschärfen sich nach zweihundert Jahren die Gegensätze bis zur offenen Auseinandersetzung.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Täglich gibt es Nachrichten über rechte und rechtsextreme Gedanken und Gewalt. Eine neue faschistische Gefahr ist möglich. Da ist es gut und wichtig, sich daran zu erinnern, dass es schon einmal mutige Menschen gab, die sich gegen den damaligen Faschismus zur Wehr setzten – bis zum Einsatz ihres eigenen Lebens. Sie dürfen nicht vergessen werden – gerade heute nicht.

Erstmals 1981 veröffentlichte Heinz Kruschel im Verlag Neues Leben Berlin als Heft 414 der Riehe das Neue Abenteuer „Sein letzter Tag. Die letzten Stunden von Conrad Blenkle“: Wer war Conrad Blenkle? Wer weiß heute noch etwas über diesen kommunistischen Politiker und antifaschistischen Widerstandskämpfer, der am 28. Dezember 1901 in Berlin geboren und am 20. Januar 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde? Blenkle, der während der Nazizeit illegal in Deutschland, Dänemark, Holland und in der Schweiz arbeitete, war am 16. Dezember 1941 nach der deutschen Besetzung Dänemarks von der dänischen Polizei verhaftet, an die Gestapo in Hamburg überstellt und bis Juli 1942 als „Schutzhäftling“ im Gefängnis Fuhlsbüttel festgehalten worden. Am 25. November 1942 sprach der Volksgerichtshof das Todesurteil über Blenkle wegen Vorbereitung zum Hochverrat aus. Er wurde nur 42 Jahre alt.

Das Buch beginnt mit einer drastischen Beschreibung seiner ausweglosen Situation am 24. November 1942:

„Sein letzter Tag

Schiefergraues Licht in der engen Zelle, draußen nicht mehr Tag, aber auch noch nicht Nacht. Conrad stand auf dem Hocker und sah hinaus. Körniger Schnee stob über den Platz. Die hohe Mauer war von einer Eiskruste bedeckt. Hinter dieser Mauer lag die große Stadt, seine Stadt, versteckt unter dem Kältenebel, und in dieser Stadt würde in ihrem Zimmer Gertrud sitzen, tränenlos, leergeweint. Er rieb sich die steif gewordenen Finger, drehte sich langsam um, weil die Schmerzen im Nacken sich wieder meldeten, stieg vom Hocker herab und stellte ihn wieder an den Tisch. Ein Wintertag wie vor zwei Jahren, als sie ihn verhafteten. Er hörte, wie die Beamten durch den Gang gingen, sie trugen zwar Schuhe mit Gummisohlen, aber an diesem kalten Tag drangen alle Geräusche in die Zelle. Sie gingen nur draußen vorbei; wenn sie einander begegneten, redeten sie nicht miteinander. Es war still, tödlich still. Die Stille vibrierte in Conrads Ohren und schwoll zu einem Rauschen an. Seine Stirn fasste sich schweißfeucht an, obwohl es kühl in der Zelle war. Er wollte nicht starr werden unter der Gewissheit, er wollte ruhig werden. Die Zelle war ein hallender Saal, eine dunkle, dröhnende Schlucht. Die Todeszelle. Morgen also, morgen sollte es sein, es wird nur noch einen Morgen geben, endgültig. Er zwang sich zu einem Lächeln. Die Wörter „endgültig“ und „marxistisch“ passen nicht zueinander, dachte er, sie sind unvereinbar, aber für mich ist es endgültig vorbei. Es gibt noch einen Morgen für mich, einen sehr kurzen Morgen, für mich ist die Zeit bedeutungslos geworden.“

Ebenfalls im Verlag Neues Leben war von Heinz Kruschel erstmals 1975 „Der Mann mit den vielen Namen. Roman um Conrad Blenkle“ erschienen, der auch bei EDITION digital zu haben ist: Wer war Blenkle? Wer kennt ihn heute noch? Warum über ihn schreiben? Das fragt sich Kalle Kortum, dem man gesagt hat, dass er ein Buch über den Mann schreiben soll, von dem er nur weiß, was im Lexikon steht. Aber die Aufgabe, so unlösbar sie zu sein scheint, lässt ihm keine Ruhe. Je mehr Material er sichtet, je öfter er Menschen befragt, die Blenkle kannten, um so deutlicher ersteht vor ihm das Bild eines Mannes, der Leidenschaft und Mut, Klugheit und Konsequenz in einer Zeit bewies, als die Menschlichkeit mit Füßen getreten wurde, der viele Namen annahm, um sich zu verbergen, und der doch immer er selbst blieb. Kalle Kortum sagt sich: Du musst es schaffen, die Gestalt dieses Mannes lebendig werden zu lassen, du musst das Wesen dieses Mannes ergründen.

In der folgenden Leseprobe zu "Der Tresor des Diktators" von Ulrich Völkel liefert ein entmachteter Diktator, inhaftiert und angeklagt von der neuen demokratischen Regierung, scharfe Kritik an seiner Verfolgung und spottet über die Vorwürfe gegen ihn. Der Kontrast zwischen seiner früheren autoritären Herrschaft und den neuen demokratischen Gesetzen, die ihn nun zur Rechenschaft ziehen wollen, offenbart eine tiefgehende Auseinandersetzung über Gerechtigkeit und Macht.

„Ein Prozess gegen mich kann nur eine Farce werden”, sagte der gestürzte Diktator. „Bereits die Tatsache, dass ich über zwei Jahre ohne ordentliches Gerichtsverfahren gefangen gehalten werde wie ein Schwerverbrecher, ist lächerlich und widerspricht jedem Rechtsgrundsatz.”

Lu Mores hätte sagen können, dass die Bedingungen, unter denen der Gefangene 3815 lebte, schwerlich als für einen wirklichen Verbrecher angemessen bezeichnet werden konnten. Und es war auch seltsam, dass ausgerechnet der Mann, der in seiner Amtszeit geltendes Recht bedenkenlos gebrochen hat, wenn es darum ging, seine Macht zu verteidigen, von Rechtsbruch der neuen Regierung sprach. Auch diese Bemerkung unterließ der Oberst. Es war nicht seines Amtes, mit dem Gefangenen über dessen zukünftigen Prozess zu disputieren.

„Vertrauensmissbrauch!”, höhnte der alte Mann. „Wer hat denn wessen Vertrauen missbraucht und hinter meinem Rücken einen Putsch vorbereitet? Wollen mich Staatsanwälte und Richter verurteilen, die Staatsanwalt oder Richter in meiner Amtszeit gewesen sind, eingesetzt durch mich, auf der Basis von Gesetzen Recht sprechen, die ich erlassen habe und die sie formulierten? Lächerlich! Lächerlich das ganze Unternehmen, mein Lieber.”

„Es gibt neue Gesetze, Exzellenz”, warf Lu Mores ein, „die der Demokratie ausreichend Handhabe geben.”

Damit konnte der Gefangene nicht beeindruckt werden. Es sei, sagte er, absurd, jemand verurteilen zu wollen für den Bruch von Gesetzen, die es zu seiner Zeit gar nicht gegeben habe. Einen Paragrafen Vertrauensmissbrauch, wie er von der neuen Regierung erlassen worden sei, um einen Anklagepunkt für ihn fabrizieren zu können, habe während seiner Amtszeit in keiner Lex gestanden. „Und was heißt: Demokratie? Können Sie mir das einmal erklären?”

„Durchaus, Exzellenz”, antwortete Lu Mores. „Das ist die Herrschaft des Volkes.”

„So”, entgegnete der alte Mann. „Herrschaft des Volkes. Schwachsinn. Der Bauer will Regen haben für seine Saat, die Bäuerin Sonnenschein für ihre Wäsche. Und nun machen wir Demokratie. Ich sage Ihnen, Oberst, Herrschaft des Volkes ist eine demagogische Illusion. So groß ist kein Thron, dass sich ein ganzes Volk mit dem Arsch darauf setzen könnte. Das Volk muss und will regiert werden. Man muss ihm sagen, was es tun und was es lassen kann. Alles andere ist Anarchie, weil jeder seine Gesetze für die allein gültigen erklärt gemäß seinen Interessen.” Er schüttelte den Kopf über so viel Einfalt bei einem ansonsten klugen Mann, wie es der Oberst gewiss war.

„Wenn die Interessen des Einzelnen den Interessen der Mehrheit zuwiderlaufen, wenn dieser Einzelne dann auch noch über die Macht verfügt, der Mehrheit seinen Willen aufzuzwingen, dann, Exzellenz, haben wir Anarchie.”

„Fein”, spottete der Gefangene. „Und wie ist der Einzelne, von dem Sie reden, zu dieser Macht gekommen? Durch freie Wahlen, Oberst. Das Volk hatte doch die Möglichkeit, mir sein Vertrauen zu entziehen. Wahlfälschung kann mir nicht unterstellt werden. Und selbst wenn ich vierzig Prozent der Stimmen hätte manipulieren lassen - ich weiß zwar nicht, wie ich das hätte anstellen sollen, aber nehmen wir ruhig an, es wäre mir gelungen -, hätte immer noch mehr als die Hälfte für mich votiert. Wessen Vertrauen habe ich also missbraucht? Ihres vielleicht, Oberst? Im Übrigen, wenn Sie einmal nachlesen wollen, hat ein gewisser Pal Griener als nationaler Wahlleiter fungiert. Lustig, was?”

„Sie hatten meine Stimme nicht, Exzellenz. Ich gehörte der AGORA an.” Der Oberst wusste, auf welch schwachen Füßen seine Argumentation stand.

In der folgenden Leseprobe aus "Daheim, in meinem fremden Land" von Ulrich Völkel entführt uns der Autor auf eine abenteuerliche Reise durch Russland, gespickt mit Herausforderungen und unvergesslichen Begegnungen. Begleiten Sie die Protagonisten in einem zusammengewürfelten Fahrzeug auf ihrer turbulenten Fahrt, die sie schließlich in eine atemberaubend schöne Landschaft führt, wo sie auf unerwartet herzliche Gastfreundschaft stoßen.

Wir fuhren mit dem Auto von Kolja. Kolja war Ingenieur im Eisenwerk und mit Wolfgang befreundet. Das Auto nenne ich lieber ein Fahrzeug. Ich weiß nicht, aus wie viel Teilen verschiedenster Herkunft es zusammengesetzt war, aber es müssen ein paar Hundert gewesen sein. Abenteuerlich. Mit so etwas haben die den zweiten Weltkrieg gewonnen. Es war ein Mittelding zwischen Handwagen und Panzer, der hintere Teil ein Kübel ohne Fenster. In dem saßen wir vier, außer Wolfgang und mir noch Achim und Huckleberry Finn, der eigentlich Hubert hieß, aber ungern so gerufen werden wollte. Ich erfuhr seinen Familiennamen erst viel später: Hubert Friedrich Ginther von Auwald-Steckelsheim. Als Huckleberry Finn fühlte er sich sehr wohl.

Wir mussten uns in diesem Käfig einsperren lassen, denn mit einem Trassen-Fahrzeug hätten wir uns nicht in die Basa otdycha trauen dürfen. Es gab Vorschriften der Miliz, nach denen sich unsere Autos nur auf der exakt eingezeichneten Marschrut bewegen durften. In größeren Abständen dieser Wege befanden sich die Wachtürme der GAI, die Staatliche Straßeninspektion, in deren unmittelbarer Nähe in aller Regel ein wahnsinnig demoliertes Auto auf einer Hebebühne stand, was wenigstens für die nächsten Kilometer warnend wirkte. Die Miliz registrierte jedes Fahrzeug und meldete es an den folgenden Posten weiter. Kam es dort nicht nach einer angemessenen Zeit an, wurde eine Suchaktion gestartet. Und wehe, der Fahrer hatte die vorgeschriebene Route verlassen! Die Miliz verstand keinen Spaß. Und sie ließ keine noch so gute Ausrede gelten, schon gar nicht die Wahrheit, wenn sich einer tatsächlich verfahren hatte. Es war ein Erfolg für Stefan Macher, mit dem Gebietssekretär Einigung dahin gehend erzielt zu haben, dass die Übeltäter nicht länger als vierundzwanzig Stunden eingebuchtet blieben, was in der Regel ausreichte, nie wieder die Marschrut zu verlassen.

Nach zwei Stunden erreichten wir unser Ziel, gerädert im Sinne des Wortes. Aber die grässlichen Flüche über die katastrophalen Straßenbedingungen und die wahrscheinlich völlig ungefederten Achsen blieben uns auf der Zunge liegen, als wir ausstiegen und sahen, wo wir uns befanden. Alter, so etwas habe ich mein Lebtag nicht wieder gesehen, so eine Landschaft, so etwas Sanftes, so etwas Schönes. Du hast bestimmt schon viel von den russischen Birkenwäldern gehört. Du musst sie gesehen haben. Ich trau mich gar nicht recht, den Vergleich auszusprechen, weil du dann denken könntest, bei mir ist eine Schraube locker, aber ich sage es dir: mir war, als ob mich eine noch vom Schlafen warme, wunderbare Frau umarmte. Meinetwegen lach' darüber. Ich hatte das Empfinden. Ich habe so etwas nie wieder erlebt. Nie wieder.

Und der Fluss, der breit und behäbig dahinrollte. Das unverschämt klare Wasser. Zu Hause, also in Deutschland, traust du dich ja nicht einmal mehr, deine Füße in einen Gebirgsbach zu stellen. Baden in den großen Flüssen kannst du total vergessen. Aber hier, inmitten des Birkenwaldes, die wirklich grünen Uferwiesen, und dieses Wasser!

Etwas oberhalb der Wiese, in unmittelbarer Nähe der mächtigen Birken, befanden sich mehrere Häuser aus Holz mit geschnitzten Ornamenten und kleinen gemütlichen Fenstern. Aus den kurzen Schornsteinen stiegen dünne Rauchwölkchen auf. Über Nacht war es noch ziemlich kühl. Der Tau glitzerte silbern im Gras.

Wir waren eben ausgestiegen, als die Leute ohne Hast zu uns kamen, lächelten, uns wie gute alte Bekannte begrüßten und Gespräche begannen. Wie geht es dir. Woher kommst du. Was machen Vater und Mutter.

Sie nahmen uns auf, als gehörten wir seit eh zu ihnen und wären nur einmal kurz weg gewesen.

Ich habe mich damals oft gefragt, ob sie wirklich so vergesslich sind, vor allem die Älteren. Man weiß doch aus den Geschichtsbüchern, wie deutsche Soldaten gerade in dieser Gegend gehaust haben. Und dann noch die SS. Es gibt kaum einen Menschen in diesem ungeheuer großen Land, der nicht auf irgendeine Weise unter dem Krieg gelitten hat. Was wussten wir von den anderen Leiden, von den Verbrechen Stalins oder den ukrainischen SS-Leuten?

Während wir uns mit den Männern unterhielten, bereiteten die Frauen das Picknick vor. Jede brachte etwas anderes mit. Der lange Tisch - breite Bohlen auf stabilen Holzböcken -bog sich bald. Gebratene Hühnerkeulen, Unmengen marinierte Pilze, Lauch und Zwiebeln, Radieschen, Beerenkompotte, Marmeladen, Honig, Trockenfisch und frisch geräucherter Wels, Gebackenes und Gesottenes, gefüllte Eier, Fleischklößchen, Piroggen, grobkörniges Brot, Pelmeni, dicker Schmand, Tee, Kwas, Wodka natürlich und Samogon, Landbier und eine undefinierbare Limonade, vergorener Birkensaft, wie ich später erfuhr.

Aber es war nicht die überraschende Fülle von Speisen und Getränken, wie du vielleicht denkst, weil, wenn man in die Läden ging, über die tränenüberströmten herauslaufenden Mäuse stolperte, die nichts Fressbares im Magasin gefunden hatten -, es war vor allem das Drumherum, weißt du, die Art und Weise, wie jeder mit etwas kam, sich dazusetzte, lächelte, Wärme, Freundlichkeit verbreitete und das Gefühl, dass du selbstverständlich dazugehörst. Und das in diesem Land. Und das zu uns Deutschen. Ich hatte es schon anders erlebt, ganz anders.

In "Adler mit gebrochenem Flügel" von Ulrich Völkel tauchen wir tief in die turbulente Zeit der napoleonischen Kriege ein, verfolgen persönliche Konflikte und die innere Zerrissenheit der Charaktere. Der Protagonist Frieder Oswald, eine lebendige und herausfordernde Figur für den historischen Ernst Moritz Arndt, bringt ein persönliches Dilemma mit sich, das in einer dramatischen Begegnung gipfelt, wie die folgende Leseprobe illustriert.

Frieder Oswald war eine Herausforderung für Ernst Moritz Arndt — und eine Mahnung. Er mochte ihn. Die forsche Art zu widersprechen erinnerte ihn an sein eigenes ungestümes Verhalten in diesem Alter. Was ihn aber auf besondere Weise mit ihm verband, war die Erinnerung an jene Abendstunde in Leipzig, als er diesen jungen Mann in der Uniform des Feindes ohne das Eingreifen Reils fast in den Tod getrieben hätte, ohne einen anderen Grund als seinen Hass auf den Eroberer Napoleon. Damals war ihm auf besonders nachdrückliche Weise deutlich geworden, dass es eine Sache ist, Aufrufe zur Vernichtung der Feinde des Vaterlandes zu verfassen, und eine ganz andere, einen Menschen in der Uniform des Feindes zu töten.

Als Oswald ihn in Frankfurt aufsuchte, kurz nachdem er Johanna weggeschickt hatte, war er, Arndt, es, der Hilfe brauchte, denn schon auf dem Weg in sein Zimmer war ihm klar geworden, wie ungerecht, ja wie gemein er sich gegen die Geliebte verhalten hatte. Er hätte sie um Verzeihung bitten müssen, weil ihm der Brief Wilhelms die erwünschte Gelegenheit bot, sich gegen sie zu entscheiden; und gemein war auch, wie er ihr seine Entscheidung mitgeteilt hatte. Er hätte ihr schwören müssen, dass er sie liebte und dennoch nicht mit ihr leben könne. Das wäre die Wahrheit gewesen. Aber er hatte dazu die Kraft nicht. Er hätte vor sich selber ausspeien können, so übel war ihm von der eigenen Schäbigkeit. Da kam Frieder Oswald, und die Wiedersehensfreude half ihm über die schlimmsten Selbstvorwürfe hinweg. Er musste dem Besucher Rede und Antwort stehen, also konnte er nicht mit sich selber ins Gericht gehen. Wer weiß, welche Abgründe er sonst in sich entdeckt hätte.

Arndt führten die Dienstgeschäfte häufig nach Mainz. Ergab sich die Möglichkeit, besuchte er Frieder Oswald in dessen Elternhaus, oder sie gingen, soweit das die noch immer schmerzenden Glieder Frieders erlaubten, am Rhein spazieren. Als sie eines Tages am Ufer des Stromes die Abendstimmung genossen, sagte Oswald mit freundlichem Spott, indem er aufs Wasser zeigte: „Der Rheinstrom, Deutschlands Weinstrom, aber nicht Deutschlands Rainstrom.“

Arndt brauste auf. „Mir scheint, Sie haben ein bisschen viel Kotzebue gelesen!“

Oswald grinste. „Wenn er recht hat, hat er recht. Ich mag seine rührseligen Stücke nicht und ebenso wenig seine albernen Possen, aber hat der von Ihnen über alle Maßen gepriesene Zar aller Reußen, der den Preußen liebend gern das P abschneiden würde, Kotzebue nicht zu seinem Generalkonsul in Königsberg ernannt?“

In "Stern von Gea" von Carlos Rasch entfaltet sich eine packende Szenerie, in der Enia, eine charismatische Waldhüterin, während eines Regensturms einen dringlichen Aufruf startet. Die folgende Leseprobe zeichnet ein lebendiges Bild von ihrer Ansprache, den dynamischen Geschehnissen am Sammelplatz und den turbulenten Ereignissen, die sich unter den Siedlern abspielen.

Sobald Enia den Sammelplatz am Beginn einer Serpentine ins Hochland erreicht, legen sich Regensturm und Gewitter so plötzlich, wie das Unwetter losgebrochen ist. Der Prasselregen lässt nach. Südwind treibt die dicken Wolken über die Hohe Kante ins Hochland davon. Auch die Globulen verschwinden. Es nieselte nur noch kurze Zeit. Zwischen den Wagenburgen und ihren zahllosen Huf- und Radspuren schmatzt Schlamm. Die Waldhüterin schlägt ihre Kapuze zurück. Dieser halbkreisförmige Sammelplatz befindet sich direkt am Fuß der Hohen Kante. Der Wald ist gelichtet. Überall sind Planwagen zu kleinen Gevierten zusammengestellt. Enia zügelt Sandschreiter, reitet aber langsam weiter, um eine Runde zu absolvieren und um auf sich aufmerksam zu machen. Die Pferde der Eskorte umtänzeln nervös Kamel und seine Reiterin, je mehr Leute kommen. Mehrere Personen schieben eilig einen Karren mit Pauken heran. Sie schützen die Pauken mit Schirmen vor den letzten Spritzern des Nieselregens.

»Versammelt euch! Schlagt die Pauken! – Heraus aus den Planwagen!«, ruft Enia, ohne vom Kamel zu klettern. Sie bläst ihr Signalhorn, hebt die Lanze und strafft die Standarte mit dem Emblem der Waldhüter. – »Im Namen der Legatin! Im Namen des Kometen über dem Baum! Tretet heran! – Die Pauken sollen tragen eine Botschaft weit ins Land! – Gestern hörten wir, die Raumfahrer wollen zu uns kommen! – Heute muss ich euch sagen, Widersacher regen sich gegen diesen Besuch. – Sühnlinge flohen von der Mörderinsel. – Sonderbare Dinge geschehen! – Ein Knüppeldamm wurde zerstört!«

Vereinzelt ertönen Wutschreie. Die Kesselpauke dröhnt eine erste Signalfolge, als ob damit Stichworte des eben verkündeten Unheils übersetzt werden. »... Gerüchte werden verbreitet über die angebliche Absicht der Sternenleute, uns zu verlassen. Das ist falsch!« Bravorufe ertönen. Wieder rasseln die Pauken mit erneut kurzer Signalfolge von Stichworten. Zwei Männer stellen sich zum Nachrichtenkarren. Sie haben besonders große Trommeln mitgebracht. Die Wolken reißen auf. Der Boden dampft unter der aufblitzenden Sonne. Die Waldhüterin hebt erneut Ruhe heischend die Hände:

»Leute! Siedler! Frauen und Männer: Letzte Nacht sollten ich, der Großkerl Ticktick und der Wanderbursche Jost getötet werden!« Ein Stöhnen und Murmeln des Entsetzens geht durch die Menge. Vier Pauken dröhnen los, stoppen mit den Schlegeln hochgehoben in Erwartung des nächsten Satzes Enias.

»Zugleich wollten der Orbitaner Hadrian und ein Sühnling den Erzsucher Rando entführen!«, setzt Enia fort. Die Aufregung der Menge nimmt zu. Die Waldhüterin reckt sich auf im Sattel und schüttelt die Lanze mit dem Angriffsschrei der Stockkämpfer.

»Wir schlugen ihnen ein Schnippchen, denn was sie köpften, waren Graspuppen. Und wen sie entführten, war nur Brummsang, der Ordenspelzler.« Das angestaute Entsetzen entspannt sich in erlösendem Gelächter mit Klatschen und Bravorufen. Der Streich ist nach dem Herzen der Siedler. Sogar die Trommler vollbringen fröhliche Wirbel. Ein weiterer Schwarm von Leuten benachbarter Wagenpulks kommt und vergrößert die Zuhörerschar. Die Waldhüterin holt aus der Satteltasche zwei Handys hervor und hebt sie an.

»Seht her, Leute! Schurkische Orbitaner hatten zwanzig Handys in einer Höhle der Hohen Kante versteckt! Heute wurden sie gefunden! Diese zwei auch!« Erneut hallt Enias Kampfruf, begleitet von einem kollektiven Aufschrei der Leute und vervollständigt von einer Paukensequenz, der sich weitere Nachrichtentrommler hinzugesellen. Ihr vereinter Rhythmus fängt an, zur betäubenden Kanonade eines Trommelfellorchesters zu werden. Die Leute erstarren erwartungsvoll. Sie lieben Sonderbares und Pfiffiges. So sind viele Balladen über zweihundert Jahre seit Landung der Gea Solaris entstanden, von Mund zu Mund, von Trommel zu Trommel und von Generation zu Generation weitergegeben.

»Sie gehören den Siedlern in den Baumhäusern aus dem Tal der hohen Zylindertürmlinge und den Familien aus Windrast. Hella Wipfling! Komm zu mir als Treckführerin von Türmlingstal! Schreite auch du herbei, Treckführer Bombaro aus Windrast. Dieses hier sind eure Handys. Im Namen des Sterns von Gea gebe ich zurück, was nach dem Willen der Raumfahrer euch gehört. Nehmt sie wieder an euch! Es war eine Lüge einiger Orbitaner, dass diese Handys unbrauchbar wurden und nicht mehr zu reparieren sind. – Doch seid nicht über alle Orbitaner verärgert. Es ist nur eine kleine Gruppe, die schuldig ist.«

Die Waldhüterin beugt sich vom Kamel tief herunter, überreicht Bombaro und Hella Wipfling die Geräte und schüttelt gratulierend deren Hände. »Mögen nun der Windgeist, die Funkwellen oder was auch immer eure Stimmen wieder über die großen Wälder von JUWELA tragen!« Die Menge klatscht. Hüte fliegen in die Luft. Enia verliest noch die Liste der anderen Dörfer, deren Handys gefunden wurden und die umgehend von kindlichen Vogelreitern ausgeteilt werden sollen. Das vereinigte Paukenorchester setzt wieder ein.

Das Sammelfeld am Zugang zum Schleifenweg hinauf zur Hohen Kante ist zur Treckzeit ein lauter Ort: Mal schlammig, mal staubig, jedoch immer schwül voller Geschrei und Hektik. Die Nachricht von zwanzig unterschlagenen Apparaten verbreitet sich wie Feuer im trocknen Steppengras. Enia reitet eine weitere Runde und wird von Planwagen zu Planwagen freudig begrüßt. Sie liest überall immer wieder die Namen der Dörfer vor, die in den letzten Jahren unter der angeblichen Unreparierbarkeit ihrer Geräte litten. Überall herrscht Freude über diesen Fund stellvertretend für jene, die zwar genannt werden, die aber irgendwo unterwegs im Tiefland oder auch schon im Hochland ab dem kommenden Tag wieder Verbindung zum Zentral.com und damit zum ganzen Siedlungsraum haben werden. Geduldig wiederholt die Waldhüterin auch, wie sie den Sühnling Rolk Bergwald eigentlich fangen wollte, er dann aber mit dem Beutel voller Handys am Seil von der Steilwand herabgeklettert kam und sie abgab.

In "Sein letzter Tag" von Heinz Kruschel werden wir in eine dramatische Szene zwischen Conrad Blenkle und dem Pfarrer Poelchau eingeführt, die sich in den letzten Stunden von Conrads Leben entfaltet. In dieser intensiven Leseprobe begegnen wir den tiefgründigen Reflexionen und Dialogen der Charaktere, die sich mit schwerwiegenden moralischen und persönlichen Fragen auseinandersetzen.

Conrad schrak nicht zusammen, als sich die Tür wieder öffnete und Poelchau hereintrat. „Lassen Sie sich durch mich nicht stören, ich setze mich still hin und lese, aber sie kontrollieren die Zellen, Sie dürfen ungefesselt nicht allein sein.“

„Dann lassen Sie mich wieder fesseln.“

„Bin ich Ihnen so zuwider, Herr Blenkle?“

Conrad lächelte. „Entschuldigen Sie, Doktor, bleiben Sie hier, Sie stören mich nicht mehr, ich bin darüber hinweg.“ Er aß wieder eine Scheibe Brot und trank einen Schluck Tee. Es lag ihm fern, Poelchau zu beleidigen, der Pfarrer war ein tapferer Mann, der viel für die Todgeweihten riskierte.

„Sie schreiben noch nicht? Ich finde das nicht überraschend, ich habe so viele Menschen in den letzten Stunden ihres Lebens kennengelernt, und viele, die hier sterben mussten, haben nicht dumpf geschlafen vorher oder sich betäubt oder getobt und geschrien, das habe ich früher bei kriminellen Häftlingen erlebt, Sie sind von anderer Art, Sie und Ihre Freunde haben viel Kraft und holen sich nicht den Zuspruch eines andern, nein, Bestätigung und Zuspruch werden aus dem eigenen Leben entnommen, meine Hochachtung, Herr Blenkle, entschuldigen Sie ...“ Der Pfarrer, verlegen die letzten Worte murmelnd, vertiefte sich in die Bibel. „Sie ... geben mir selber ... viel, Blenkle.“

So hatte Conrad den Pfarrer noch nicht erlebt, er nahm sich vor, mit ihm zu reden, aber erst nach seiner letzten Arbeit, nach dem Fazit, wie er dachte. Poelchau würde das dünne Tuch der Stille, das in diesen Stunden über der Anstalt lag, nicht zerreißen, er war zu taktvoll und feinfühlig. Conrad schloss die Augen. Er dachte: Ich will mir das heranholen, was wichtig war in meinem Leben, was man Zäsuren nennt, und ich will mich selber betrachten wie einen Freund, zu dem man kritisch sein muss, dem man nie gleichgültig gegenüberstehen darf.

Und so tauchten in seiner Erinnerung Orte und Namen, Sätze und Geschehnisse, Szenen und Personen auf, nicht geordnet in einem zeitlichen Nacheinander, eher in einem Nebeneinander wie Mosaiksteine, die man nicht alle - aus zeitlichen Gründen - würde aufnehmen, ordnen und zu einem Bild zusammensetzen können.

Gertrud. Gertrud hatte ihm einmal vorgeworfen, nicht träumen zu können, sie hatte Lenin und Majakowski zitiert, ein Kommunist müsse träumen können, denke mal zwanzig Jahre weiter, ein sozialistisches Deutschland. Oder dreißig, vierzig Jahre, ein sozialistisches Europa. Gut, Gertrud, träume du, ich muss morgen gegen Ruth Fischer sprechen, die die Einheitsfrontpolitik mit den Sozialdemokraten ablehnt, die unsere ganze Situation maßlos überschätzt, auch unsere gegenwärtigen Kräfte, die träumt schon zu gefährlich, zu gefährlich für die ganze Partei ...

Die Fischer. Dann sprach er gegen sie, die die Parteiführung vertrat und gewählt worden war. Sie hatte vor ihm geredet: „Die Situation, Genossen, ist akut revolutionär!“ Und sie konnte reden, temperamentvoll, zündend, mit Verve, und viele hatten ihr Beifall gezollt, der gut aussehenden, üppigen Frau, die in einem weit ausgeschnittenen Kleid hinter dem Rednerpult gestanden hatte, eine ultralinke Jeanne de Arc, eine vollbusige Diana der Revolution ... Und dann kam der junge Genosse, erst seit Kurzem Vorsitzender der deutschen Jungkommunisten, eine unauffällige Erscheinung. Er wartete, bis sich der Beifall legte, einen spöttischen Zug um den Mund, und sagte: „Mit so nackten Tatsachen wie die Genossin Fischer kann ich freilich nicht aufwarten, aber …“ Und da brach der Beifall wieder aus, diesmal von der Arbeitergruppe um Thälmann, und Conrad analysierte sachlich die Lage, zerstörte in wenigen Sätzen die schillernden Schleier der Illusionen, forderte die parlamentarische Arbeit der Kommunisten, forderte die Kleinarbeit in den Gewerkschaften, mit den sozialdemokratischen Arbeitern: „Unsere Weltanschauung ist keine Sammlung von Rezepten in jeder Situation ohne Berücksichtigung der konkreten Lage, Genossen …“

Brunner. Der Exkommunist Brunner, der Wahlredner der SPD, hatte ihm noch im Schlesischen, als die Nazis bereits an der Macht waren, die Maslow und Fischer und Scholem vorgeworfen und gemeint, die Geschichte der Kommunistischen Partei bestünde aus einer Kette von Fehlern. Frei von Fehlern sind wir nicht, Brunner, aber unsere Fehler sind im Vorwärtsgehen begangen worden, im Kampf um die beste Strategie. Und im Vorwärtsgehen haben wir immer versucht, die Fehler zu überwinden. Dieser Brunner, diese Straße in Bremen um die Mittagszeit, der Margarineverkäufer: Ich will was tun, Conrad, du kennst mich doch. Er musste ihn abweisen. Aber was mag aus ihm geworden sein? Vielleicht haben sie ihn wieder eingestellt, Beamter mit Pension, ein Denunziant. Oder sie haben ihn eingezogen und in einer der Schlachten im Osten eingesetzt, dekoriert oder begraben ...

Hoernle, der kluge, gute Edwin Hoernle. Conrad stellte sich den Saal vor, das Siminatheater in Moskau, die Abordnungen aus den Fabrik- und Schulzellen, Kopf an Kopf, Komsomolzen, überfüllt der ganze riesige Kuppelraum, in dem eine Melodie angestimmt wurde, ein bekanntes Lied: Die Junge Garde - Molodaja Gardia. Und er sah sich auf der Bühne sitzen im Präsidium, neben Jefim Zetkin, Richard Schüller und Edwin Hoernle. Reden und tosende Zustimmung, als der Versammlungsleiter ihn, Blenkle, den Vertreter der Jugend des revolutionären Berlins, ankündigte. Und sie sprangen alle auf, und Conrad stand mit seiner roten Fahne vorn an der Rampe, in der Fahne des Tuchs waren noch die Spuren der Kugeln, die aus Noskes Maschinengewehren am Jugendtag 1919 auf die jungen Demonstranten abgefeuert worden waren. Zwei Fäuste um den Fahnenschaft: die eines deutschen und die eines russischen Arbeiters. Dann sah er sich, wie sie ihn auf die Schultern hoben, dann hörte er Hoernle: „Wir sagen der Fahne nicht ade, ihr werdet sie uns entgegentragen, wenn der Tag der Befreiung des deutschen Proletariats anbricht, und wir werden euch entgegenmarschieren ...“

Ottomar Geschkes Stimme am Telefon: „Der Reichstag wurde aufgelöst. Das Zentralkomitee braucht dich für die Wahlarbeit, du fährst als Vertreter der Jugendinternationale zurück. Du weißt, dass du in Deutschland gesucht wirst. Du fährst mit dem ,Roten Pfeil‘ nach Leningrad und von dort mit einem sowjetischen Frachter nach Hamburg. Du musst dich beim Einfahren in die deutschen Gewässer verstecken. Sollten dich Zöllner dennoch entdecken, so fragst du immer nur ,Tschto on askasal? Was hat er gesagt?‘ und grüße Teddy!“

Das kleine Büro in der Rosenthaler, der Blick von oben auf die belebte Straße - und die Meinung eines Genossen:

„Du bist mein Vorbild, Conrad, aber in organisatorischen Dingen bist du manchmal zu großzügig, darüber müssen wir uns im Jugend-Zentralkomitee mal aussprechen. Das ist falsch, die organisatorische Arbeit überlässt du uns, in grundsätzlichen Fragen bist du exakt bis zur Kleinlichkeit, aber Organisation hat viel mit grundsätzlichen Fragen zu tun. Ich konstatiere einen Widerspruch bei dir, Conrad.“

„Ich begreife dich nicht, du hast dich doch immer an Teddy orientiert, Conrad. Du stimmst nun einem Antrag der Versöhnler zu, Teddy abzulösen, schön, sie haben euch überrumpelt, aber du revidierst dich nicht wie die andern, dabei hast du dich doch geirrt!“

„So einfach ist das nicht, Gertrud. Wittorf hat Parteigelder unterschlagen, und er war mit Teddy befreundet ...“

„Ja, ja, ja, das weiß ich, aber ich weiß auch, dass Heckert und Ulbricht und viele andere in Moskau waren, als der Antrag gestellt worden ist, ein geschickt gewählter Zeitpunkt also, und du weißt, Conrad, wie die Gruppen im ganzen Land gegen den Beschluss protestierten, wie das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale Einspruch erhob. Der Versuch war doch durchsichtig, sie wollten die Gelegenheit nutzen und die Parteiführung ändern. Du bist kein Versöhnler.“

„Also, bitte sachlich. Ich weiß, dass Thälmann nichts mit der Sache zu tun hat, er ist für mich völlig integer, und was er mir bedeutet, das weißt du genau.“

„Dann revidiere dich.“

„Das kann ich nicht, weil ich der Meinung bin, dass nicht einmal der Schatten eines Verdachts auf unseren Vorsitzenden fallen darf.“

„Dickkopf und Fantast! Conrad, es ist wohl eine Kunst, beharrlich auf einem gemachten Fehler zu bestehen, denke ich.“

„Lass mich, Gertrud, das dauert bei mir.“

„Sie werden dich als Vorsitzenden ablösen.“

Aktuell ist wieder einmal öfter von der DDR und davon die Rede, wie sie gewesen und wie sie zugrunde gegangen ist. Und was sie mit den Menschen gemacht hat – vor und nach der Wende. Eine spannende Wortmeldung zu diesem Thema bietet die ein Jahrzehnt nach ihrem Untergang veröffentlichte Erzählung „Daheim in meinem fremden Land“ von Ulrich Völkel, die hier noch einmal der Aufmerksamkeit der Abonnenten des heutigen Newsletters empfohlen sein soll. Vielleicht provoziert es das Nachdenken darüber, wie man selbst die Veränderungen erlebt hat und wie man heute über die sogenannten DDR-Zeiten sowie über die Wende und ihre Folgen denkt. Das ist eine ebenso individuelle wie gesamtgesellschaftliche Frage. Fühlen Sie sich zu Hause im heutigen Deutschland? Daheim in einem fremden Land. Oder wie?

Ausdrücklich hingewiesen sei aber auch noch einmal auf den vierten Band der Raumlotsen-Saga „Stern von Gea“ von Carlos Rasch, zumal es dort nicht zuletzt um die Frage geht, wie Konflikte entstehen und wie sie gelöst werden können, ehe es zur Katstrophe kommt. Auch wenn dieser utopische Roman nicht auf der Erde spielt, dürften einem die dort beschriebenen Konflikte durchaus irdisch vorkommen.

Bleiben Sie ansonsten weiter vor allem schön gesund und munter und der Welt der Bücher gewogen. Das neue Bücherpaket ist schon gepackt.

In der nächsten Woche wartet der wahrscheinlich erste Kriminalroman der DDR auf seine Leserinnen und Leser. „Großgarage Südwest“ von Wolfgang Schreyer wurde 1952 veröffentlicht. Neun Jahre vor dem Mauerbau führt dieser Krimi in das geteilte Berlin: Schauplatz der fantasievollen Story. Das Buch bietet dem krimiverwöhnten Leser der Gegenwart noch immer atemberaubende Spannung und erinnert an die Zeit, als sich die Westberliner und Ostberliner Kriminalpolizei bei der Gangsterjagd noch gegenseitig unterstützten. Ein echter Schreyer eben. Auch wenn es sein literarisches Debüt war.

DDR-Autoren: Newsletter 19.04.2024 - Memoiren ohne Rücksicht, ein sozialer Erdrutsch sowie Glück und Leid