Reformation und Bauernkrieg, eine tödliche Verstrickung und eine bizarre Wiederbegegnung - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 21.02.025) Zu den besonderen Fähigkeiten des Schriftstellers und Dramatikers Friedrich Wolf, von dem auch heute wieder alle insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote stammen, die sieben Tage lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 21.02. 2025 bis Freitag, 28.02. 2025) zu haben sind, gehörte es, eindrucksvolle Bilder zu zeichnen. Das zeigt sich gleich zu Beginn des vierten E-Books mit einem Text aus dem Jahre 1953 ein Filmszenarium für einen Film über Thomas Münzer, das drei Jahre später tatsächlich von der DEFA verfilmt wurde:
Veränderungen stehen an. Friedrich Wolf nutzte dafür einen gut nachvollziehbaren Vergleich, wie man gleich nachlesen kann:
1. Eine Kette Wildenten zieht im Frühherbst 1514 über Deutschland nach Süden. Man sieht aus der Höhe der Zugvögel von Norden nach Süden das deutsche Land Berge, Wälder, Seen, Felder, Ströme (also wie auf den Bildern von Altdorfer und Dürer). Doch wie die Wildenten jetzt tiefer und tiefer streichen
2. Über den Harz und die goldene Aue bei Frankenhausen, werden deutlich fronende Bauern sichtbar, die eingeschirrt im Joch wie Tiere Holzstämme durch eine Waldschneise zerren. Hinüber von den Nachbarfeldern klingen Jagdhörner und der Hussaruf des Grafen Mansfeld und seiner Kumpane, die mitten durch die reifen Kornfelder galoppieren, während ihnen einzelne Bauern, auf ihre Sensen gestützt, drohend nachschauen und ein Bauer, zu den nach Süden ziehenden Wildenten aufschauend, zu dem andern sagt: Es gibt nen frühen Winter
3. Und im Kupferbergwerk des Grafen Mansfeld wehrt sich ein Bergknappe gegen die Hiebe des Aufsehers; er schlägt ihn, zum Entsetzen der umstehenden Knappen, mit seinem schweren Bergmannshammer wütend zu Boden und flieht eine blutende Strieme über Stirn und Wange; jetzt wird er von den berittenen Knechten des Grafen draußen wie ein Wild durchs Unterholz eines Waldes gejagt, springt unerreichbar für die Reiter ins dichte sumpfige Röhricht eines Sees
4. Und weiter gen Süden fliegen die Zugvögel übers deutsche Land, über Ströme, Berge und Wälder. Schwere Abendwolken wälzen sich übers Gebirge. Man ahnt: Das Land kommt in Bewegung
In seinem Szenarium, das sich mit einer der gewaltigsten und noch bis heute nachwirkenden gesellschaftlichen Umwälzungen im Deutschland des 16. Jahrhunderts Reformation und Bauernkrieg befasst, entfaltet Wolf ein kraftvolles Panorama aus Vision und Revolution: Von den leidenschaftlichen Predigten Thomas Münzers gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit bis hin zu den erbitterten Kämpfen der Bauernbewegungen. Stichwort Panorama. In diesem Zusammenhang muss man fast ohne Alternative an das Bauernkriegspanorama Frühbürgerliche Revolution in Deutschland des Leipziger Malers und Kunstprofessors Werner Tübke denken, das zwischen 1976 und 1987 in Bad Frankenhausen und ursprünglich zum Gedenken an den Deutschen Bauernkrieg und den Bauernführer Thomas Müntzer entstanden war die Schreibung des Nachnamens differiert.
Im Zentrum der Film-Handlung steht Münzer, der unerschrocken für eine gerechtere Welt kämpft und dabei nicht nur gegen Fürsten und Adlige, sondern auch gegen die inneren Widersprüche seines Glaubens und seiner Überzeugungen antritt. Vom Schachspiel der Mächtigen bis zu den flammenden Aufständen des Volkes, von den Schwabenhaufen bis zur Kanzel in Allstedt - das Werk zeigt eindrucksvoll die Dynamik zwischen Glauben, Macht und Revolution.
Das Szenarium von Friedrich Wolf wurde 1956 in der Regie von Martin Hellberg in den Jahren 1962/1963 Generalintendant des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin und bekannt für seine großartigen filmischen Massenszenen unter dem etwas erweiterten Titel Thomas Müntzer Ein Film deutscher Geschichte verfilmt. Gedreht wurde der zum 10. Jahrestag der Gründung der DEFA entstandene 113-Minuten-Streifen in Quedlinburg im heutigen Sachsen-Anhalt, damals DDR-Bezirk Halle. Als Thomas Münzer war Wolfgang Stumpf (1909 bis 1983) zu sehen - nicht zu verwechseln mit dem etwas anders geschriebenen Dresdner Schauspieler, Kabarettisten und TV-Kommissar Wolfgang Stumph, Jahrgang 1946 - zu sehen. Stumpf war einer der wenigen westdeutschen Schauspieler, die bei der DEFA Hauptrollen für aufwändige Spielfilmproduktionen angeboten bekamen wie eben als Hauptdarsteller in Thomas Münzer und 1956 für das Kriegsepos Wo Du hingehst.
Zu den Mitwirkenden gehörten Wolf Kaiser als Schwabenhannes, Martin Flörchinger als Heinrich Pfeiffer, Wolfgang Kaehler als Markus Stübner und Ruth Maria Kubitschek als Bärbel Buss sowie Ulrich Thein als Student, Gerhard Bienert als Graf Ernst von Mansfeld, Agnes Kraus als Hofdame und Willi Schwabe als Kleiner Höfling.
In der DDR wurde der Kinofilm, in dem das Leben und Wirken von Martin Luther fast vollständig ausgespart ist, am 7. April 1956 staatlich zugelassen und am 17. Mai 1956 erstmals gezeigt. Die Länge betrug in dieser Originalfassung 135 Minuten. In einer Dienstbesprechung beim Minister für Kultur wurde am 8. Mai 1973 beschlossen, den Film anlässlich der Feierlichkeiten zum 450. Jahrestag des Bauernkrieges 1975 wieder verstärkt, aber in einer stark verkürzten Fassung einzusetzen. Daraufhin wurde der Film von Regisseur Martin Hellberg entsprechend den Vorgaben verändert. Der Neustart war am 18. Oktober 1974.
In der 1934 entstandenen kraftvollen Erzählung Papa Schmidt und seine Töchter berichtet der Autor aus den frühen Tagen der sowjetischen Kollektivwirtschaft. Im Mittelpunkt steht der griesgrämige, aber unermüdliche Papa Schmidt, ein deutscher Mennonit, der als Gärtner und Pionier für den Aufbau eines neuen Waldes kämpft. Doch mit seinem Tatendrang gerät er n Konflikt mit den bürokratischen Strukturen und den neuen Kollektivisten. Mit seiner schroffen Art, aber visionären Plänen, verkörpert Papa Schmidt den schwierigen Übergang von der alten, ländlichen Lebensweise zur neuen sozialistischen Ordnung. Papa Schmidt und seine Töchter ist eine zeitlose Geschichte über den Konflikt zwischen Idealismus, Realität und dem Wunsch, die Welt zu gestalten.
Das 1949 geschriebene Filmtreatment Der Rat der Götter von Friedrich Wolf und Philipp J. Gecht ist ein packendes Drama über Macht, Verantwortung und die dunklen Verstrickungen der deutschen Industrie mit der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie. Basierend auf den Akten der Nürnberger Prozesse und Dokumentationen von 1947, folgt die Handlung dem Vorstandsvorsitzenden Geheimrat Mauch und dem Chemiker Dr. Scholz, die sich im Netz von Kriegsgewinn, Schuld und Vertuschung verstricken. Geheimrat Mauch, eine Anspielung auf den verurteilten Kriegsverbrecher Carl Krauch, lenkt die Rüstungs- und Giftgasproduktion der I.G. Farben, während Dr. Scholz, von seiner Arbeit besessen, lange die Augen vor den Verbrechen verschließt, um seine Karriere und Familie zu schützen. Doch als das Nürnberger Tribunal die Verantwortung auf ihn abwälzen will und eine neue Katastrophe die Zivilbevölkerung trifft, beschließt Scholz, sein Schweigen zu brechen und sich gegen die Wiederaufnahme der Kriegsproduktion zu stellen. Gleichzeitig zeigt der Film die Interessen der US-Wirtschaft, die nach dem Krieg eine brisante Zusammenarbeit mit deutschen Konzernen aufrechterhalten will.
Der Stoff wurde 1950 von der DEFA unter der Regie von Prof. Kurt Maetzig verfilmt. Für diese Produktion wurden Friedrich Wolf und andere Mitglieder des Filmteams 1950 mit dem DDR-Nationalpreis I. Klasse ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde Der Rat der Götter beim Internationalen Filmfestival Karlovy Vary außerdem mit einem Sonder-Ehrendiplom bedacht.
1927 schrieb Friedrich Wolf die Novelle Kampf im Kohlenpott, worin er die packende Lebensgeschichte von Hick Jörres erzählt, einem Kaufmannssohn, der zwischen den Welten gefangen ist: die heiteren Tage seiner Jugend, die dunklen Schatten des Ersten Weltkrieges und der erbitterte Kampf für eine gerechtere Gesellschaft. Kampf im Kohlenpott stellt nicht zuletzt die ewige Frage nach dem Sinn des Lebens. Dieser Text ist eine zeitlose Erzählung über den Verlust von Idealen und über die Suche nach dem, was wirklich zählt.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. In der heutigen Geschichte geht es um das Thema Verantwortung, in etwas bizarrer Weise zumindest aus einer von zwei Perspektiven.
Kurz, aber eindrucksvoll so lässt sich der 1947 entstandene Text Das heulende Hühnerauge oder schwarz auf weiß charakterisieren, in der sich zwei Männer zwei Mal begegnen allerdings in sehr unterschiedlichen Konstellationen und zu unterschiedlichen Zeiten:
Friedrich Wolf erzählt eine doppelt unglaubliche Geschichte. Im November des vorletzten Kriegsjahres 1944 gelingt einem Antifaschisten auf dem Wege von Düsseldorf zum Gericht nach Berlin, wo ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Todesurteil wegen Volksverrats erwartet, auf waghalsige Weise die lebensrettende Flucht.
Nach dem Krieg begegnet der entflohene Häftling seinem Bewacher wieder. Aus dem damaligen Gestapomann ist in der alten Bundesrepublik die Handlung ist jeweils in Düsseldorf angesiedelt ein diensteifriger Kriminalinspektor geworden, der offenbar keine Gewissenbisse kennt, sondern seinerseits Vorwürfe erhebt. Ein tatsächlich bizarrer Fall menschlichen Verhaltens.
Die folgende Leseprobe aus Papa Schmidt und seine Töchter gibt einen lebendigen Einblick in die Welt von Papa Schmidt, einem engagierten Kolchosbauern, der mit Leidenschaft an der Zukunft seines Dorfes arbeitet. Während er mit knurrigem Charme über die Herausforderungen des Kollektivs klagt, leuchten zugleich seine Visionen für eine blühende Obstkultur auf. Der Text fängt nicht nur die Dynamik zwischen Skepsis und Tatendrang ein, sondern stellt auch die Familie in den Mittelpunkt allen voran seine Tochter Nina, die mit ihren Kindern eine neue Generation im Dorf repräsentiert.
Seit 1921. Da hab ich mir das Haus gebaut, sechzehn Hektar Land gab mir der Dorfsowjet.
Aufgeteiltes Land?
Natürlich. Dafür haben wir doch die Sowjets!
Er merkt, dass er gelobt hat, wo er tadeln wollte; dafür schimpft er jetzt: Aber es kommen immer mehr in unsern Kolchos, wie Bienen auf den Zucker kommen sie seit dem letzten Jahr, dreißig Aufnahmegesuche in einer einzigen Sitzung; bald wird kein Platz mehr sein.
Wird man die Gesuche abweisen?
Wie kann man das? Er kommt jetzt ganz nahe heran und flüstert mir wie ein süßes Geheimnis ins Ohr: Wissen Sie, wenn ich meinen Plan erst hier durchgedrückt habe; Baum- und Beerenobst in jeden Garten, auf die Felder, an die Straßen ein Paradies wird das hier, Nahrung für noch einige Schock Menschen! Aber sofort fällt er wieder in sein Knurren: Ach was, das erlebe ich ja doch nicht, das verdammte Ischias, meine achtundfünfzig Jahre Er hopst zwischen den blühenden Apfelkulturen umher, bricht die überzähligen Triebe und Blüten der Zweijährigen, bindet die Fünfjährigen, knurrend, schimpfend, arbeitend, mit erregtem, glücklichem Gesicht, uns von den kommenden Obstkulturen seinen Plänen während der nächsten zehn Jahre im Kollektiv erzählend. Das ist der Papa Schmidt.
Im Haus treffen wir seine ältere Tochter, Nina Kober. Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt, eine kräftige blonde Frau, rein deutscher Typ. Sie hat zwei Kinder. Ein Bündelchen strampelt im Bettchen.
Mitten in den politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen der frühen 1930er Jahre entfaltet sich die Szene dieser Leseprobe aus dem Filmszenarium Der Rat der Götter. Während in den Industriegebieten Westdeutschlands einfache Arbeiter um ihre Existenz kämpfen, werden hinter den leuchtenden Fenstern der Villen der Hochfinanz folgenschwere Entscheidungen getroffen. Die Begegnung von Onkel Karl und Kättchen mit den Fahrern vor der Villa steht symbolisch für die gesellschaftlichen Spannungen jener Zeit zwischen den Mächtigen, die über die Zukunft entscheiden, und denen, die von ihren Beschlüssen betroffen sein werden. Die düstere Atmosphäre, durchdrungen von Vorahnungen und Zynismus, führt schließlich in die rauchgeschwängerten Salons der Industriellen, wo das Schicksal eines ganzen Landes verhandelt wird.
im westdeutschen Industriegebiet, wo ringsum die Essen und Schlote ihren Feuerschein zum nächtlichen Himmel werfen, radelt ein etwa 50-jähriger Arbeiter, während vorn auf dem Rad ein 20-jähriges Mädel sich aufgeklemmt hat, die einen kleinen struppigen Pinscher im Arm hält. Vor einer höher gelegenen, hell erleuchteten Villa, an deren Auffahrtsrampe viele schwere Limousinen stehen, werden sie durch die Scheinwerfer eines großen Mercedes geblendet und landen im Graben. Das Mädel, sich aufrappelnd zu dem alten Arbeiter: Da wären wir ja, Onkel Karl!
ONKEL KARL: Still, Kättche, besser einmal im Graben als dat janze Leben lang tot.
Der Pinscher bellt.
KÄTTCHEN nimmt ihn hoch: Komm, Bummi! Gegen einen Fahrer: Könnt ihr eure Lokomotiven nicht abblenden?
Die Fahrer sind neugierig und lachend hinzugetreten.
JUNGER FAHRER: Wollten dich sehen, Puppe! Packt sie am Arm. Nicht übel, wo einem in so ner Nacht die Spucke im Mund gefriert.
ONKEL KARL dazwischen: Ich glaube, Jungens, es wird bald wärmer werden.
ÄLTERER FAHRER zu den erleuchteten Fenstern der Villa: Ja, da oben wird mal wieder ne ganz große Kugel geschoben.
JUNGER FAHRER sich vor Kälte die Füße vertretend, mault: Von mir aus könnts losgehn!
Neben dem großen Mercedes-Kompressor steht ein Fahrer in Ledermantel und Ledergamaschen; er hat mit wachsender Ungeduld dem Gespräch zugehört und tritt nun vor; dieser andere Fahrer spricht überlegen und doch zackig.
DER ANDERE: Na, Kollegen, was ist denn? Mit der Stimme seines Herrn: In dieser historischen Stunde knurrt ihr wegen einem bisschen Kälte, während unsere sechs Millionen Erwerbslosen sich am Riemen reißen und die Nation sich im Aufbruch befindet!
Er wendet sich plötzlich ab, als habe er schon zu viel gesagt und tritt zurück zu zwei Motorradfahrern sportlichen Brachialgestalten, die bei ihren Motorrädern warten.
ÄLTERER leise zum Jungen: Du, das ist der von IHM!
JUNGER erschrocken, eilt dem andern nach: Kollege, Moment, das mit der Kälte war ja nicht so gemeint.
ONKEL KARL mit Spott: Führer befiehl, wir folgen!
KÄTTCHEN stößt ihn in die Rippen: Los, Onkel Karl!
Onkel Karl fährt mit Kättchen und Bummi schnell davon.
ist inzwischen großes Leben. Die Sitzung ist offenbar zu Ende. Einzelne Herren der Industrie und Hochfinanz erheben sich und gehen zur Garderobe. Man hört einzelne Gesprächsfetzen: Exakt der Mann, den wir brauchen todrichtig ist er sagte ich Ihnen nicht, der wird dem Chaos Einhalt gebieten und die Karre aus dem Dreck ziehen.
Die große Treppe herunter kommt atemlos ein etwa 60-jähriger Mann, der alte Bürodiener Scholz, mit einer großen hellledernen Aktenmappe. Ein Diener eilt ihm nach
DIENER: Vater Scholz, wohin?
VATER SCHOLZ: Der Geheimrat hat seine Aktenmappe vergessen.
DIENER: Weshalb denn so eilig, Vater Scholz?
VATER SCHOLZ etwas verlegen: Sie warten zu Hause mein Geburtstag, mein sechzigster.
DIENER: Aber, Vater Scholz, nen Augenblick, das ist doch fast so n großer Tag wie der heute hier! Erregt: Haben Sie IHN gesehen? Wissen Sie schon?
VATER SCHOLZ: Nee, nee, lassen Sie man, das ist nichts für unsereins, ich muss zum Geheimrat.
In diesem Augenblick hört man hastige Schritte. Man sieht die Stufen der Treppe heruntereilend zuerst nur die Beine von IHM, typisch in Reitstiefeln und grauer Tuchhose, dann, je weiter ER die Treppe heruntersteigt, aus der Perspektive des Vater Scholz und des Dieners mehr und mehr IHN als Halbfigur von unten, von den Stiefeln bis zur Hüfte, die Hand im Leibgurt, kriegerisch, cäsarisch. Auf halber Treppe wird ER von zwei Paar ähnlichen Stiefeln, die die Hacken zusammenknallen, empfangen. Vater Scholz und der Diener stehen versteinert da.
Die Chauffeure verstummen plötzlich in ihrem weitergeführten Gespräch, wie die drei Paar Stiefel auf der Außentreppe erscheinen und eine scharfe Stimme ruft: Der Wagen! Der schwere Mercedes, gesichert von zwei Motorradfahrern und Beifahrern, je zwei vor und hinter dem Wagen, springt an, die drei Paar Stiefel springen hinein, die Tür knallt zu, der Wagen, gesichert von den Motorradfahrern, braust los. Die anderen Fahrer schauen ehrfurchtsvoll dem Wagen nach.
ÄLTERER FAHRER starr: Mensch, das war ER!
JUNGER FAHRER beeindruckt: Wie ER die Tür zuknallte, ich denke, die Scheibe fliegt heraus!
ÄLTERER FAHRER ebenso: Bei jedem anderen wäre sie auch rausgeknallt; Kinder, ich sage euch
Im Rauchsalon der Villa. Beim Hausherrn, dem Geheimrat Mauch, stehen die zurückgebliebenen Chefs des Chemietrusts in kleinen Gruppen oder sitzen um das Rauchtischchen: Geheimrat Mauch, er ist ein soignierter ruhiger, vorerst durch nichts zu erschütternder 65-jähriger Mensch, der Vorsitzende des Aufsichtsrates des Trusts, ferner der Leiter der Außenabteilung, Direktor Tilgner, der Typ des internationalen Gentleman-Industriellen, schlank, sportlich mit leicht cleverem Einschlag, etwa 35-jährig, dann der Direktor der chemotechnischen Abteilung, Dr. ten Bosch, 45-jährig, eine in sich geschlossene rundliche Figur des wissenschaftlichen Fachmannes, und Oberst Schirrwind, der Verbindungsoffizier des Luftfahrtministeriums der Reichswehr, 40-jährig, unpolitischer preußischer Offizier, dennoch mit weltmännischen Umgangsformen, da in ständigem Kontakt mit den Herren der Schwerindustrie. Die Herren befinden sich offenbar nach Beendigung der wichtigen und erfolgreichen Konferenz mitten in einem resümierenden Gespräch.
TILGNER: Ich glaube, Herr Geheimrat spüren es selbst, jetzt wird Leben in die morsche Bude kommen!
GEHEIMRAT: Die Sache ist gegenseitig, mein lieber Tilgner; denn in seiner NSDAP beginnt es in letzter Zeit erheblich zu wackeln.
OBERST: Ich denke auch, so stark, wie sich der Bursche macht, ist er gar nicht.
TILGNER zynisch: Er ist genauso stark, Herr Oberst, wie wir ihn machen werden.
TEN BOSCH: Er ist wie Dynamit!
OBERST leicht skeptisch: Und wie stark ist die Sprengladung?
GEHEIMRAT: Herr Oberst, wir haben heute doch nur die Wahl zwischen der ansteigenden roten Flut mit den Millionen Erwerbslosen und IHM und seiner neuen Ordnung.
OBERST: Das heißt keine Wahl.
TILGNER: Das heißt, wenn ER nicht schon da wäre, müsste man IHN direkt erfinden.
Sofort Überblendung auf die
des chemischen Laboratoriums der IG-Farben. Dort sieht man den Sohn des alten Vater Scholz, Dr. Hans Scholz, einen etwa 30-jährigen Chemiker, sachlich, ganz mit seinen Versuchen beschäftigt, Typ des jungen Wissenschaftlers, der gerade die letzte Titrierprobe beendet hat und das Resultat aufschreibt, wobei auf dem Notizblock das Wort Hydrazin heraussticht. Er stellt dann die Apparate ab und macht sich fertig zum Weggang.
Wieder im
Geheimrat Mauch, Direktor Tilgner, Oberst Schirrwind um das Rauchtischchen, zum Teil sitzend. Die Herren führen ihr Gespräch weiter. Es herrscht immer, trotz des geschäftlichen Themas, die Atmosphäre einer scheinbar leidenschaftslosen, gentlemanliken Unterhaltung, gleichsam über den Wolken. Geheimrat Mauch, angeregt von einer wichtigen Wendung des Themas, ist gerade aufgestanden, hat sich eine Importe angezündet und geht auf und ab, während die anderen ihm aufmerksam folgen.
GEHEIMRAT: Meine Herren, wir sind unter uns. Die Kollegen von Stahl und Kohle, die sich eben an dem Wahlfonds für die NSDAP beteiligten, haben es relativ leichter. Hitler garantiert mit der Aufrüstung der Reichswehr zugleich eine rapide Belebung ihrer Produktion. Bloß diese Produkte sind eine feste reale Größe
OBERST: Und Ihr synthetisches Benzin, Ihr künstlicher Gummi wären keine festen Größen?
GEHEIMRAT: Leider, nein, Herr Oberst, unser synthetischer Treibstoff ist vorerst noch eine hypothetische Größe; er ist im Vergleich zum Weltmarktpreis des amerikanischen Erdöls viel zu teuer und unrentabel, langsam, betont: falls er nicht in sehr großen Mengen von der Regierung gefordert wird.
OBERST ihn fixierend: Genauer gesagt, von der Reichswehr
GEHEIMRAT: Richtig von der Reichswehr als dem größten Verbraucher; sie müsste hierfür ein bindendes Interesse zeigen.
OBERST: Ich verstehe zum mindesten in der Zukunft.
TILGNER hitzig: Herr Oberst, Sie können die Zukunft ruhig in die Gegenwart verlegen! Der Führer ist der Mann, der seine Pläne verwirklichen wird, und wenn der Himmel dabei einstürzt!
GEHEIMRAT mit Ironie: Ich denke, mein lieber Tilgner, auf das Letztere legen wir nun gerade keinen Wert.
TILGNER: Es sollte nur versinnbildlichen, Herr Geheimrat: Ein Führerwort gilt!
Die Leseprobe aus Kampf im Kohlenpott führt uns mitten in die Schulzeit zweier ungleicher Freunde, Hick Jörres und Alf Loe. Während Hick pflichtbewusst die Erwartungen seines hart arbeitenden Vaters erfüllt, stürzt sich der brillante, charismatische Alf ins Leben sprachgewandt, draufgängerisch und voller Fantasie. Doch zwischen Schulbänken, sportlichen Wettkämpfen und jugendlichen Schwärmereien entfaltet sich eine tiefere Geschichte: die Suche nach Identität, Freundschaft und Wahrheit. Was als unbeschwerte Rivalität beginnt, mündet in einen spektakulären Betrug und eine Schule hält den Atem an.
Hick Jörres, Kaufmannssohn und Sekundaner, bebrütet in seiner Pennälerbude des alten Cicero unsterbliche Abhandlung über das Greisenalter. Die einzelnen Vokabeln müssen aus einer tausendseitigen Schwarte herausgeangelt werden; sie kommen wie dicke tote Karpfen mit verglasten Augen. Vergebens hatte der Ordinarius Dippel versucht, die fünfzehnjährigen Windhunde nach dem Vorbild des alten Römers für die erhabenen Freuden des Greisenalters zu begeistern. Die Jungens bauten sich lieber Kajaks, Seelenverkäufer aus Bohrstangen und geteerten Betttüchern dunkler Herkunft. Sie lagen auf den Krippen und Sandbänken des Stroms, legten sich den wutschnaubenden Kapitänen der Schleppdampfer vor die Fahrtlinie oder begannen an Hand einer Inge, Asta und Ruth die Freuden des Jünglingsalters zu erproben.
Soweit stimmte alles.
Auch dass es Sonderlinge gab; dass Hick Jörres, dies viel zu hochgeschossene, eckige junge Holz, an dem leuchtenden Herbstmittag gewissenhaft Wort um Wort die Freuden des Greisenalters aufzubauen begann. Sein Vater, ein kontorgrauer, spirrdürrer Span, nahm sich kaum die Stunde zum Essen: Das Studiengeld für diese und die späteren Universitätsjahre musste herbei; er litt an einem verschleppten, sehr schmerzhaften Blasenleiden, weil er jahrelang tagsüber die fünf Minuten zum W. C. sich nicht abringen konnte ein heroisches Opfer stummen Fleißes. Es wäre frevelhaft gewesen, wollte Hick die auf ihn gegründeten Erwartungen und Mühen enttäuschen. Vor ihm stand die hohe graue Brandmauer des Vorderhauses, nur zur Linken im schmalen Riss strahlten die schon gelben Blätter des Birnbaums.
Nicht träumen!
Nach dem Cicero warteten noch die Schlachtgesänge des Tyrtäus, die sphärische Trigonometrie und der Vortrag über den Reinke de Voß des Hinrik van Alkmar. Hände in die Ohren, Nase ins Buch, gebüffelt!
Plötzlich durchzuckts ihn wie ein elektrischer Schlag herum, hoch, was hat ihn gepackt!
Mensch, Hix, Brüderlein
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den jungen Tag
Vergolden, ja vergolden!
Lachend parodiert der blonde Bengel hinter ihm den Stormvers mit des Direx schmalziger Betonung: Was! Kegelschnitte entwickelt der Mensch! Junge, Hix, Stockfisch, weißt du nicht, dass man im Leben dafür Tabellen hat!
Im Leben
Nur für das Leben lernen wir
Die Zähne aufeinanderbeißen
Richtig, du alter Römer! Mit siebzig Jahren! Cicero ,De senectute'!
Sie haben was geleistet!
Ja, als Hannibal ante portas, da legten sich diese siebzigjährigen senatorlichen Tugendbolzen zwischen je zwei achtzehnjährige pralle Puellae, um stoßkräftige Entschlüsse fassen zu können! Wir tuns auch ohne! Ins Boot, Hix! Ozon ins Blut! In zehn Minuten hast du draußen den dreifachen Salat gelöffelt, ich memorier mit dir überm Fluss in den Riemen!
Geht nicht, Alf! Hab noch nichts getan!
Getan! Getan!, wirft der Strohschopf seine zu langen Strähnen zurück und klappt über Hicks Schulter das Buch zu: Aus und gar! Getan!
Was ist denn Tat? Was ist Nichttun?
Nie bist du frei von allem Tun nur einen Nu
Musst achten auf das Nichttun auch.
Hindukusch! Hindukusch!, fledert Hick die Trigonometrie jetzt in die Mappe. Der Bhagavatgitavers ruft ihre Blutsbrüderschaft hoch: In dem linken Unterarm beider Jungens ist mit Eosinrot das dritte Auge Buddhas eingestochen: ein Punkt, darum ein Kreis, darum das Dreieck. Ihr Blut war ineinandergeronnen feierlich, geheim, jungensstark: das leichte helle Rinnsal Alf Loes, des Sohnes des Wandsbecker Husarenmajors, und Hick Jörres schwerer, dunkler Saft.
*
Wie sie über die herbstgelben Straßen gehen, spricht Alf halbsingend Sanskritverse im Urlaut der Veden; es klingt, wie weicher, klagender Vogelton. Der Fünfzehnjährige ist ein Sprachphänomen: in Syntax und Grammatik eine geradezu Katilinarische Existenz, schimmerlos, unter dem Standpunkt der Klasse. Aber er spricht Latein, er spricht Griechisch, er spricht Französisch, Italienisch, Spanisch, Englisch, als sei er in den Ländern geboren sobald er die erste Schranke überwunden, sowie er sich mit Auge und Fantasie in die Landschaft hineingeschwungen, fließt auch die Sprache wie aus einem Stauwehr von seinen Lippen. So hält er lateinische und griechische Vorträge, so spricht er tatsächlich die alten Sanskritidiome, wie ein alter Germanist mühsam festgestellt; doch es kann auch geschehen, dass er von der Baghavatgita plötzlich einen Satz macht in eine Horazische Ode oder in eine Sapphische Strophe. Wie ein Känguru springt seine Fantasie. Selbst in der Mathematik arbeitet er mit Zahlenbildern, sieht er die Kegelschnitte und Formeln als plastisches Dominospiel. Sein Gedächtnis ist wie ein hundertköpfiger Vogel, der alles schlingt und nach Wunsch wie Gewöll wieder speit. Er ist müheloser Primus der Klasse. Kein Magister wagt sich mehr zweifelnd, mäkelnd an ihn heran; wie gebändigte Cerberusse umlagern sie ihn, in kaltem Staunen.
Auf der anderen Front lagern die Sirenen. Auch da keine Gefahr. Seine Fantasie schafft sich sogleich Klänge, vor denen alles verschwindet.
Er hat sich in der Hand.
Einer nur gönnt er Raum: Gesche Goch. Einer Sechzehnjährigen mit tizianrotem Feuerschopf, der Tochter eines Obersten. Sie ist mittelgroß, fast schon zu reif, ihm gewachsen. Die Sommersprossen ihrer hellen Haut verhüten billige Schönheit. Virtuos spielt sie die Geige: das Violinkonzert, die Varianten Marteaus und Wilhelmys. Hick, dem schwarzen Bürgerproleten, ist sie ein fernes Wunder. Alf ist sie Kampfpreis, Waffe, Sporn. Eines Abends rückt er Hick auf die Bude, knipst das Licht aus, zündet nur eine Kerze und liest seinen Gesang an das Götterweib mit dem lodernden Kehrreim:
Die Lampe aus! Und lass uns trinken
Du meine Kraft, ich Deinen Leib,
In Deinem Arm will ich versinken,
Du Götterweib!
Stumm vor Bewunderung hat Hick gelauscht und dem Freund ergriffen die Hand gepresst. Wie oft stand er nachts Posten auf dem dunkeln Schulhof, der an den Garten des Oberst stößt, stundenlang, in Regen und Kälte, bis Alf zurückgekehrt. Ohne zu fragen. Trontje, den finstern Hagen von Trontheim, hat Gesche ihn getauft.
Da jetzt die beiden Freunde zum Strom schlendern, zuckt Alf wie unter elektrischem Stoß: die gelbe Gardine hängt um den Fensterknauf, zum Knoten verschlungen. Sie ist im Zimmer!
Turnen!
Sie stehen im großen Spielplatz des Pennals, im Turndress, das hohe Reck ist eingelegt. Hick lockert mit der Hacke das Sägmehl. Alf drückt eine Zugstemme und geht langsam in den Handstand.
In ihrem Zimmer steht Gesche und schaut auf den dunkeln Hof, der von ihrem Garten durch eine hohe, glasgespickte Mauer getrennt. Alf beginnt jetzt die Riesenwelle, im Kamm- und Ristgriff, umgreifend, von rechts nach links, von links nach rechts ein weißblitzendes Rad in seinem hellen Trikot bremsend zum Handstand, hohe Hocke ab. Die Reihe ist nun an Hick. Ohne ein Wort klar: er darf den Freund nicht ausstechen. So produziert er eine biedere Kraftübung mit der Wage vorwärts und rückwärts, eine Sache, die es in sich hat, doch nach nichts aussieht. Alf setzt seine Adlerwelle dagegen mit hoher Wende. Sturmspringen über Bock und Pferd und schließlich Ringen.
Hier ist Hick der Härtere.
Doch er lässt sich legen.
Wie er doch einmal einen Griff durchführen will, spürt er plötzlich des wütenden Freundes unfaire Drosselung am Hals; schnell gibt er frei.
Noch denselben Abend gegen acht kommt Alf, sehr erregt: Los, Hix! Zu!
Hick folgt stumm, er spürt das Zittern des Freundes. In Alfs Bude, hoch im dritten Stock brennt eine kleine Lampe, deren Nickelreflektor wie ein Mantel das Licht dreiviertel umgreift und als Scheinwerfer nur einen schmalen Streifen entlässt. Der Raum ist sonst dunkel: die Wände mit den knienden Buddhas, den Majolikadrachen, der Totenmaske von Kainz, den Lorbeerkränzen der Turnfeste und Regatten früherer Behauser; auch die schlanken Spitzbogen der zwei Fenster sind durch tiefblaue lange Vorhänge verdeckt.
Auf einmal ertönt ein Geigensolo leise, aus der offenen Tür, die zum Schlafraum führt. Wie die Geige verstummt, hört Hick plötzlich Alfs Stimme: Verse in fremden Zungen, eifernde, donnernde, brausende dann wieder wie Vogelsang, Sanskritverse, glatt wie Meeresspiegel und wieder die Geige, und wieder die Stimme, Ruf durch Wälder. Jetzt leuchtets im Scheinwurf der Lampe wie Feuer: Nur in ihr offenes, glutrotes Haar gehüllt steht Gesche, den Kopf tief über die Geige gesenkt und streicht Akkorde Rau, verzweifelt, krachende Wetter.
Hicks Kopf ist tief in seine Hände vergraben, auf seinen Knien, er schluckt wie an einer roten Schnecke, weshalb er zwingt den Blick hoch: Alfs helles, weiches Gesicht, sein rundes Kinn, die halbgeöffneten Lippen, schlürfend, Griechenliebling ihm fremd, alles in ihm borstet dagegen, körperlicher Schauder, Schwüle, hinaus, hinaus!!
Er fällt die Treppe fast herab, so rennt er.
Alf lacht ihn am nächsten Morgen nur aus: Cicero De senectute! Stählerner Römer! Am Nachmittag, wie sie im Doppelskuller über den Strom zocken, meint Gesche vom Steuer her: Trontje, hattest du Angst oder wolltest du mich belehren?
Er ist ein Kind!, schnauft Alf.
Hick schweigt.
Nichts ist anders zwischen ihnen, Alf ist lachender Gott, er ist Lehnsmann, Alltagsmensch, Büffler.
Ostern.
Versetzung, dank Alfs Hilfen. Stürz dich einmal ins Leben, Trontje! Einmal was Tolles, Senator!, ruft Alf ihm zu, wie der Zug anzieht, der ihn nach Hamburg in die Ferien führt.
Hick geht mit Gesche heim, vom Bahnhof über den Damm.
Er hat recht!, sagt sie plötzlich, du erstickst in deiner Haut, wenn du sie nicht einmal durchbrichst! Jede Larve, jede Eidechse tut das, wenn sie wächst! Du bist immer derselbe!
Ich kann nichts dafür , schaut er weg.
Doch kannst du, Trontje!, wird sie ganz eifrig, du bist nicht freudig! Aber sofort hält sie inne und merkt ihre Torheit: In den Ferien muss er die Konto- und Warenbücher des Vaters nachtragen, dessen verzehrtes, schmerzverzogenes Gesicht besser als alle Worte sagt: weil du studieren sollst! Diese graue Härte steht jetzt schon in dem herben Jungensgesicht. Gesche fasst seine Hand und lenkt den Weg zu den Krippen, Steinbuhnen, die weit in den Strom hinausspringen. Dort sitzen sie nieder. Die Wellen schießen in scharfen Strudeln um die vordersten Blöcke: Freiheit! Plötzlich bückte sich Hick, zerrt einen schweren Schiefer heraus, schwingt ihn auf die Rechte und schleudert ihn mit Wucht in den Strom.
Wasser überklatscht sie.
Verrückt!, schilt Gesche. Nun trag mich zur Insel; da kann man trocknen.
Er nimmt sie hoch, über die Sandbank zu waten; schwer trifft ihn die Fülle ihres Körpers, und wie ertappt, bestürzt, schwindelnd setzt er sie nieder, in ihren Schuhen, mitten ins fußhohe Wasser der Sandbank.
Bleib, wie du bist, Trontje! sagt Gesche auf dem Heimweg.
*
Hick hat die Ferien über den Kontobüchern verbracht.
Alf kehrt braun wie ein Indianer ins neue Semester: Ritte mit der Schwadron seines Vaters, Segelfahrten über den Sund. Der Geografielehrer fragt: Gletscherbrand, Loe? Waren wohl in Norwegen, auf dem Hardanger und Jotunfield?
Auf den Färöer und Island, antwortet Alf prompt.
Die Klasse staunt Bauklötze. Wisli, der Magister, erregt: Dann könnten Sie uns wohl einen geografisch-geologischen Vortrag halten!
Der Vortrag steigt.
Dippel, der Cicero De senectute und Klassendynast, muss hierzu seine Lateinstunde opfern. Alf hat kalt diese Zeit gefordert, da er das große völkerkundliche, geografische und reisetechnische Thema sonst nicht ausschöpfen könne. Neben zwei Geografiemagistern und dem Lateinordinarius wohnt der Direx in Person dem Vortrag bei. Alf Loe steht mit großem Zeigestab vor der Wandkarte und führt in zweistündiger freier Rede die Staunenden durch die Wunderwelt des Nordens. Projektione der Fjorde und Gletscherfelder, der uralten Felsinschriften, Rezitationen der Edda im isländischen Sprachidiom beleben die mitreißende Schilderung. Man glaubt, mit den abgesprengten Claninsassen der Färöer auf Otter- und Salmfang zu ziehen, mit den Rentiereskimos in die Tundra, mit den Kajakfahrern gegen die Walrosse. Meine Herren, wendet der Fünfzehnjährige sich öfters an die sprachlosen Schulmänner mit der Geste eines Universitätsdozenten, meine Herren, wir verlassen jetzt die ethnologisch wichtigen Südbezirke und wenden uns dem geologisch bedeutsameren Binnenland zu.
Ehrfürchtig wortloses Staunen.
Der Direx bedankt sich mit Handschlag für das ungemein anschauliche und tiefschürfende Referat; er stellt Alf den Klassenkameraden als Vorbild eines Menschen hin, der seine Ferienreise nicht dumpf genießerisch durchtaumelt, sondern sie zum bewusst fruchtbaren Erlebnis emporgeläutert.. Die Klasse sitzt mit offenen Mäulern und starren Augen.
Wisli, der Geograf, strahlt.
Der Ordinarius zeigt süßsauer lächelnd seine braunen Stoßzähne.
Am Stiftungsfest des Gymnasiums muss Alf den Vortrag in der großen Aula wiederholen. Selbst die Behörden sind geladen, der Landrat, die Spitzen des Gerichts, die Militärs, die Direktoren der Nachbarschulen mit ihren Damen, fast ein gesellschaftliches Ereignis. Der fünfzehnjährige helläugige Junge entledigt sich seiner Aufgabe mit höchster Sicherheit und Grazie. Nansen, Peary und Amundsen konnten ihre Referate nicht spannender halten.
Der Applaus ist enorm.
Ganz benommen noch beglückwünscht man den Direx zu dieser Zierde der Anstalt. Anerkennende Blicke fallen verstohlen auf Gesche. Hick rennt hinaus an die Krippen des Stroms, er muss schreien vor Freude.
Alf ist der Halbgott der Schule. Die Magister scheinen ihn um Verzeihung zu bitten, wenn sie ihn einmal wegen des Pensums überhören. Dippel, der Ordinarius und Zerberus, redet ihn seltsam verkniffen mit Herr Loe an.
*
Eines Tages muss die Klasse lange auf den Stundenbeginn warten. Der Pedell kommt und fordert Alf Loe zum Direktor. Was ist, Loe?, rufen alle gespannt.
Pst!, winkt der Favorit. Ich soll den Geografieunterricht in der Oberklasse des Mädchenlyzeums übernehmen!
Die Klasse platzt vor Neugier und Neid.
Gerenne über die Gänge, Gesumm in den Nebenklassen. Der Posten an der Tür meldet: Alle Pauker zum Direx! Konferenz! Und Alf dabei! Was ist los? Hick, du weißts, du stilles Wasser!
Hick weiß es nicht.
Niemand weiß.
Auf einmal fliegt die Tür auf; der Horchposten sinkt Dippel in die Arme. Klassenbuch! Schon ist er eingetragen. Dann aber richtet der Cerberos sich hoch, rückt seinen Kneifer scharf aufs Nasenbein, zeigt seine Stoßzähne und sagt nur: Aufschlagen! Philoktet Seite 47 bis 49! Die vor Erregung fiebernde Klasse muss nun nachlesen, wie der wunderbare Bogenschütze vom Aussatz befallen in die furchtbaren Jammerrufe ausbricht. So auch in unserer Zeit!, ruft Dippel jäh und schmettert sein Buch aufs Katheder, so auch in unserer Zeit kommt stinkender Betrug und eitrig schwärender Hochmut vor dem Fall!
Dies aber der Fall: Die ganze Islandfahrt Alf Loes war von Anfang bis Ende ein schamloser Schwindel, eine dreiste Erfindung! Den Direktor belogen, das Kollegium zum Karren gehabt, den Ruf der Anstalt öffentlich geschändet! Alf Loe war nie in Island oder Norwegen gewesen! Er selbst hatte es, von den Göttern verblendet, in einer dunklen Stunde seiner Hetäre anvertraut! Diese, noch stolz auf das Lügenwerk ihres Helden, habe lachend das Schwindelmanöver am häuslichen Herde erzählt.
So ward alles ruchbar!
Auch die Klasse ist geschändet!, schreit Dippel gelb vor Wut. Aber die Klasse steht dumpf und stumpf wie ein Kalb nach dem Hammerschlag. Für Idioten hat er euch gehalten, für unreife dumme Jungens, euch diese faustdicken Lügen aufzubinden!
Das sitzt.
Alf erhält fünfzehn Stunden Karzer, in drei Tagen zu verbüßen; zudem das Concilium abeundi. Allein mit Rücksicht auf die Schmach, die auch auf den Vater fällt, sieht man von der Entfernung aus der Anstalt ab. Hick ist es, als müsse er sich unter die Bänke verkriechen. Kann er solch schamlosen Betrug verteidigen? Das Blutzeichen des Buddhaauges sitzt ihm wie ein Brandmal im Arm.
Die Klasse aber erwartet Alf.
Nach vier Tagen erscheint er, sauber, hell, heiter, als sei nichts geschehen. Dippel hat die erste Stunde. Er beginnt wieder mit Philoktet, spricht von Schuld und Sühne, dass erst nach den furchtbarsten Martern der Held gereinigt worden, und plötzlich: Auch in diesem Raum ist so lange einer unter euch für mich Luft, bis die Klasse selbst die Schande von ihrem einst so blanken Schild abgewaschen!
In den Wirren der Nachkriegszeit begegnen sich Täter und Opfer auf überraschende Weise wieder. Die Leseprobe aus Das heulende Hühnerauge oder schwarz auf weiß schildert ein unerwartetes Wiedersehen zwischen einem ehemaligen Gestapo-Transporteur, der nun als Kriminalinspektor Karriere gemacht hat, und dem Mann, den er einst auslieferte der jedoch auf erstaunliche Weise überlebt hat. Während der eine sich über seinen beruflichen Aufstieg freut, sieht der andere sich mit der absurden Ironie konfrontiert, dass sein einstiger Verfolger nun in neuer Uniform vor ihm steht. Ein Schlaglicht auf die Kontinuitäten und Brüche im Deutschland der Nachkriegszeit.
1946 war nun unser Mann, der seinen Kopf so gerettet hatte, wieder in Düsseldorf. Die Neugier trieb ihn, seinen Gestapotransporter, Herrn T., zu suchen. Tatsächlich, Herr T. befand sich in Düsseldorf. Mehr noch: Er war zum Inspektor, zwar nicht mehr bei der Gestapo, aber bei der Kriminalpolizei avanciert. Es kam zu einem erstaunlichen und erstaunten Wiedersehen. Bevor nun unser Mann der seinen Kopf auf so originelle Weise gerettet hatte den Herrn Kriminalinspektor begrüßen konnte, hatte auch dieser ihn erkannt. Mensch, sind Sie wahnsinnig? Sie leben noch? Sie sind doch der S.!? Wissen Sie, dass Sie mich damals durch Ihre Unüberlegtheit in tolle Ungelegenheiten gebracht haben? Sechs Monate Gefängnis hat man mir wegen Ihnen aufgebrummt! Sechs Monate Gefängnis einem Kriminalbeamten.
An dieser Stelle möchte die Newsletter-Redaktion noch einmal darauf hinweisen, dass wir uns im Jahre 2025 befinden. Und das bedeutet auch, dass wir uns 500 Jahre nach einer der größten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in der deutschen Geschichte befinden, die auch heute noch nachwirken Reformation und Bauerkriege.
Wie immer in der Geschichte ging es bei solchen Auseinandersetzungen um Freiheit, Gerechtigkeit und um ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen Männer, Frauen, Kinder und Jugendliche.
Wie immer in der Geschichte ist dringend von allzu platten und vereinfachenden Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart abzuraten, aber dennoch darf wohl die Frage nach den Gemeinsamkeiten der damaligen Auseinandersetzungen und der heutigen Konflikte im In- und Ausland erlaubt sein. Mindestens ebenso spannend wie diese Frage dürften die Antworten darf sein.
Und ein kleines Gedankenexperiment sei hier angeregt: Wie wäre wohl die deutsche Geschichte weitergegangen, hätten vor 500 Jahren die Bauernheere im Zeichen von Bundschuh und Regenbogen, die Fürsten besiegt?
Noch eine kleine Geschichtszahl gefällig?
Am 15. Mai dieses Jahres jährt sich die Schlacht bei Frankenhausen, eine der bedeutendsten Schlachten während des Deutschen Bauernkriegs, zum 500. Mal. In ihr waren die von Müntzer geführten aufständischen Bauern Thüringens von einem Fürstenheer vollständig besiegt worden. Müntzer selbst wurde gefangen genommen und am 27. Mai in Mühlhausen enthauptet, nachdem er auf die Festung Heldrungen gebracht und gefoltert worden war.
Und was wäre geworden, wenn Mün(t)zer und seine Genossen gesiegt hätten? Fragen über Fragen.
Bleiben Sie ansonsten wir immer weiter vor allem schön gesund und munter und Welt der Bücher gewogen. Der Hubschrauber für die neuen Sonderangebote der nächsten Woche ist schon in Godern gelandet. Die Besatzung macht nur noch eine kleine Rauchpause, dann werden die E-Books verladen. Einer der Piloten, ein Nichtraucher, hat sich eines der fünf neuen Sonderangebote herausgegriffen auch in der nächsten Woche wieder alle von Friedrich Wolf.
Er hält dessen Roman Zwei an der Grenze aus dem Jahr 1938 in den Händen: - ein fesselndes Zeitdokument, das die Kämpfe und Hoffnungen einfacher Menschen im Schatten des Nationalsozialismus schildert. In einem kleinen sudetendeutschen Dorf in der Tschechoslowakei nahe der deutschen Grenze prallen die Widersprüche zwischen privatem Glück und politischem Engagement, zwischen Solidarität und Verrat mit voller Wucht aufeinander. Unser Pilot denkt an heutige politische und persönliche Auseinandersetzungen und liest sich fest. Hoffentlich verpasst er den rechtzeitigen Abflug nicht. Aber Frau P. wird ihn schon daran erinnern