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Sie sind hier: DDR-Autoren: Newsletter 21.03.2025 - Aufregung im Föhrenwald, Hoffnung auf eine gerechtere Welt und Widerstand

Aufregung im Föhrenwald, Hoffnung auf eine gerechtere Welt und Widerstand in Hitlerdeutschland - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 21.03. 2025) – Es ist ein unglaubliches Geschehen, das sich da zu Beginn des dritten der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote dieses Newsletters abspielt, die sieben Tage lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 21.03. 2025 bis Freitag, 28.03. 2025) zu haben sind. Dieses Geschehen versetzt Ärzte und Krankenschwestern in einem österreichischen Krankenhaus südlich von Wien in höchste Aufregung und Alarmbereitschaft:

In dem Kreisgesundungshaus im Föhrenwald musste etwas Besonderes vorgegangen sein. Mit feierlich ernsten Gesichtern gingen die Pflegeschwestern umher. Die Ärzte gingen nicht nur grüßend aneinander vorüber wie im Alltag, sie blieben stehen und tauschten einige Worte. Auch aus ihren Mienen sprach, was sich auf den Gesichtern der Schwestern widerspiegelte: Freude und ernste Besorgnis zugleich.

„Haben Sie schon gehört, junger Freund? Sie ist zum Leben erwacht. Ich komme gerade von ihr …“, sagte der Professor zu dem jungen Arzt, der ihm auf einem Waldweg begegnet war.

„Jetzt wird es ernst. Bisher war die Mumie für uns nur ein Phänomen, eine seltsame Erscheinung, ein Mensch, abgemagert zum Gerippe, ohne Bewegung, der aber nicht erkalten wollte, und dessen Herz schlug – aber nun hat er nach hundertjährigem Schlaf die Augen aufgeschlagen, und nun ist es …“, der Professor legte sein Gesicht in ernste Falten, „keine Erscheinung mehr … nun ist die lebende Mumie zum lebenden Menschen geworden, und nun muss unsere schwache Kunst her, das zarte Fünkchen Leben anzufachen.“ Bald wäre der Alte poetisch geworden.

„Marianne ist nicht einen Augenblick von seinem Bette gewichen, seit er die Augen aufgeschlagen hat. Sie hat noch keinen Schritt aus der ,Villa‘ gemacht.“

So hießen die Ärzte des Gesundungsheims den einsamen Pavillon, dessen einziger Tag und Nacht behüteter ständiger Bewohner seit zwanzig Jahren die „lebende Mumie“ war. Auf dem Plan der Anlage führte die „Villa“ den Namen: „Haus der lebenden Mumie“, wie andere Häuser des in dem Föhrenwalde verstreuten Gesundungshauses örtliche Flurnamen trugen, wie das „Haus am Geyereck“, das „Dreiföhrenhaus“, das „Haus am Waldteich“. Die Gesundheitsverwaltung hatte längst mit der alten Art gebrochen, die einzelnen Häuser, die kranke Menschen dem Leben wiedergewinnen sollten, mit Nummern zu bezeichnen.

Ehe Richard Fröhlich in dieses Haus gebracht worden war, hatte es „Waldzauber“ darum geheißen, weil es fast ganz von der Waldschlingrebe mit ihren duftig zarten Blütenballen verkleidet war; bis auf das Dach kroch die Clematis. Wie wenn Millionen silber-graue Schneeballen an zarten Stielen über das Häuschen kletterten, so sah es aus. Das Dunkelgrün des Föhrenwaldes gab einen prächtigen Hintergrund.

So beginnt der erstmals 1929 veröffentlichte einzige Roman des österreichischen Reporters und Journalisten, Schriftstellers und Politikers Max Winter (1870 bis 1937) „Die lebende Mumie. Ein Blick in das Jahr 2025“. Winter, der als der Schöpfer der Sozialreportage im deutschsprachigen Raum und als entscheidender Wegbereiter der verdeckten Recherche gilt, hat mit der „lebenden Mumie“ vor fast 100 Jahren einen Rückblick in die Zukunft gewagt – in eine Zukunft, die unsere Gegenwart ist.

Dieser Roman des Menschen- und Kinderfreundes, der sich stets für die Interessen der Schwachen, Benachteiligten und „Unzufriedenen“ eingesetzt hat, ist eine echte Entdeckung und lädt zum Vergleichen mit dem wirklichen 2025 ein.

Besonders erstaunlich sind zwei Dinge: So hoffte Max Winter zum einen in der Zukunft auf eine Welt ohne Ungerechtigkeit und Unterdrückung sowie ohne den Schrecken der Kriege und die Egoismen des 20. Jahrhunderts - eine Utopie im besten Sinne des Wortes. Und zum anderen überraschen ein „vereintes Europa“ sowie „Fernsehapparate in den Wohnzimmern“ und Flugzeuge, die von Dächern starten. Die Menschen leben gesund und im Einklang mit der Natur. Besonderer Wert wird zudem auf die Bildung der Kinder gelegt.

Bei Wikipedia ist voller Anerkennung über Max Winter zu lesen:

„Insgesamt verfasste Max Winter rund 1.500 Reportagen, um Missstände durch stringente Beweisführung aufzuzeigen, das öffentliche Gewissen aufrütteln und die Verantwortlichen zum Handeln zu drängen. Stets untermauerte er seine Artikel mit Aktenbelegen und Archivmaterialien.“

Auf seinem Grabstein in New York steht die nach 1945 dort angebrachte Inschrift:

„Sein Wort sprach für Freiheit und Recht.

Seine Feder diente den Verkannten und Enterbten.

Sein Herz aber schlug für die Kinder.“

Und wer Lust auf Max Winter und seine teils sehr langen und sehr detaillierten Texte wie „In der Branntweinschänke“ (Arbeiter-Zeitung Nr. 103 vom 15. 4. 1900) im Original bekommen hat, der kann sich einmal auf dieser Website umschauen:

http://www.max-winter.org/

Die anderen vier Sonderangebote des heutigen Newsletters stammen wieder alle von Friedrich Wolf, darunter drei Schauspiele, die alle drei in Moskau entstanden, wo der Arzt und Schriftsteller seit 1934 mit seiner Familie im Exil lebte und arbeitete.

1936 schrieb er dort „Peter kehrt heim (Bajonette und Brot)“. Ein Stück von der deutschen Okkupation der Ukraine 1918“: Dieses Drama entfaltet ein vielschichtiges Bild einer Generation, die von den Fronten des Ersten Weltkriegs zurückkehrt und keinen Frieden findet - weder in der eigenen Seele noch in einer Welt, die von politischen Umbrüchen und sozialer Not geprägt ist. In den ukrainischen Dörfern, die von Krieg, Armut und revolutionärem Geist durchdrungen sind, steht der Kriegsgefangene Peter Buck im Zentrum. Er kämpft zwischen Loyalität, Überlebenswillen und einer neuen politischen Idee, die Hoffnung auf eine gerechtere Welt weckt.

Ein Jahr zuvor entstand „Floridsdorf. Ein Schauspiel von den Februarkämpfen der Wiener Arbeiter“. Darin rückt der Autor die dramatischen Ereignisse des Arbeiteraufstands in Österreich im Februar 1934 in den Mittelpunkt rückt. Vor der Kulisse Wiens in einer Zeit politischer Spannungen und gesellschaftlicher Umbrüche entfaltet sich die packende Geschichte von Mut, Solidarität und Verrat. Mit scharfer Beobachtungsgabe und lebendigen Dialogen schildert Wolf die Konfrontation zwischen Arbeiterklasse und faschistischer Staatsmacht, beleuchtet die Hoffnungen und Opfer einer Generation und stellt die universelle Frage nach Gerechtigkeit und Widerstand.

1936 schrieb Friedrich Wolf „Das Trojanische Pferd. Ein Stück vom Kampf der Jugend in Hitlerdeutschland“ - eine eindringliche Anklage gegen Unterdrückung, Manipulation und den Missbrauch von Ideologien. Mit unerbittlichem Realismus und packender Dramatik zeichnet Wolf ein erschütterndes Bild von Zwangsarbeit, Propaganda und Widerstand im nationalsozialistischen Regime. Im Zentrum stehen junge Arbeiter, gefangen zwischen Gehorsam und Aufbegehren, die sich mit Fragen nach moralischer Verantwortung und persönlicher Integrität konfrontiert sehen.

„Das Trojanische Pferd“ bleibt ein zeitloser Appell an Menschlichkeit, Solidarität und den Mut, sich gegen Unrecht zu erheben. Eine Geschichte über Verrat und Standhaftigkeit, die bis heute die Kraft der Kunst als Mittel des Widerstands bezeugt.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Gibt es einen größeren Gegensatz als Liebe und Krieg?

1941 entstand die Erzählung „Gaston – Liebe im Schatten des Krieges“ (Aus: „Die unsichtbare Brigade“): In einem Paris, das von der Ungewissheit des Krieges durchzogen ist, spielt die Geschichte zweier Menschen, deren Liebe inmitten von Angst und Zerstörung einen Anker in der stürmischen See des Schicksals bildet. Jan Brosek, ein erfahrener Kämpfer, der schon zwei Kriege überlebt hat, findet dank der jungen und entschlossenen Renée Kerval neuen Lebensmut. Während die Stadt von Panik und Bombenangst beherrscht wird, kämpfen Jan und Renée um ihr persönliches Glück. Doch die Schatten des Zweiten Weltkrieges kommen unaufhaltsam näher, und ihre Liebe wird auf die Probe gestellt. Wird es ihnen gelingen, in dieser düsteren Zeit eine Zukunft zu finden? Eine packende Erzählung, die sowohl die Kriegsängste als auch die Macht der Liebe in den dunkelsten Momenten des Lebens einfängt.

Schon der Beginn dieses Textes, in dem auch die Liebe Friedrich Wolfs zu Frankreich deutlich zu spüren ist, nimmt einem den Atem:

„Wo zwei Menschen sich lieben, da ist die Welt.

Im Grunde hatte kaum ein Mensch in diesem gesegneten Lande an den Krieg geglaubt. In diesem Lande, in dem auch der kleine Mann mit Grazie und mit Verstand sein Diner aus drei Gängen zu sich nahm und die Reste des Obstes oder des Fromage de Brie nicht mit dem Zahnstocher beseitigte, sondern mit ein paar kräftigen Schlucken des in bauchigen Karaffen auf dem Tisch herumstehenden Pinards hinunterspülte.

„Man wird sich schon einigen, wie vor einem Jahr!“, sagten die meisten.

„Jawohl, das alles ist bloß wieder ein Bluff!“, ergänzten die andern.

Die Eingeweihten aber belehrten die Zweifler: „Ein moderner Krieg ist psychologisch und technisch heute einfach unmöglich … technisch, grade wegen der hoch entwickelten Technik, weil zu viel vernichtet würde; psychologisch, weil unsre Politiker dies ganz genau wissen, und weil weder der Staat noch auch die Industrie irgendein Interesse am allgemeinen Chaos in Europa haben!“

Und nun war dieser unmögliche Krieg da. Ein Teil der Bewohner von Paris hatte panikartig die Stadt verlassen, weil man schon in der ersten Nacht schwere Luftangriffe der Deutschen mit Giftgas erwartete. Zweimal nachts heulten die Sirenen Alarm. Alles stürzte in die Keller. Man las jetzt beim Schein der elektrischen Taschenlampen die eiligst herausgegebenen Merkzettel über die „schweren“ Giftgase, die vor allem in der Tiefe sich festsetzen; man sah, dass die Keller nach allen Seiten offen waren; alles rannte jetzt hinauf in die obersten Etagen und auf die Dächer.

Als in der Nacht nichts geschah, hatte man sich am nächsten Tag schon wieder beruhigt. Die Magazine versahen befehlsgemäß ihre Schaufensterscheiben mit Klebestreifen, damit sie vom Luftdruck der Bomben nicht zersprangen. Das Wesentliche bei dieser Übung aber war, dass die Dekorateure der großen Geschäfts- und Modehäuser in der Rue de Rivoli und der L’Avenue de l’Opéra wahre Wettbewerbe der kunstvollsten Klebeornamente veranstalteten. Auch die weiblichen Büroangestellten, die Verkäuferinnen und Midinettes hatten sich über die erste nicht eingetretene Giftgasnacht schnell hinweggefunden, und schon am nächsten Tag trug man die neuen Gasmasken sehr schick und individuell: vorn an der Schulter in einem bunten pompadourartigen Futteral, auch militärisch an einem hellen Lederriemen an der Seite, oder man schlenkerte sie in einem Netz wie ein Tennisracket in der Hand. In den Quartieren der Porte St. Martin, um den Gare du Nord, in den Vororten Vincennes, Villejuif und Ivry dagegen standen viele Arbeiterfrauen da wie vor den Kopf geschlagen. Tausende ihrer Männer waren an die Front gerückt.

Hunderte andere aber hatten die „Flics“ und die Garde mobile nachts aus den Betten verhaftet und verschleppt, nach der „Santé“, in die Gefängnisse der Provinz oder hinter Stacheldraht auf entlegene Inseln vor der bretonischen Küste.

Wolf verwebt in dieser Szene aus „Peter kehrt heim (Bajonette und Brot)“ persönliche Schicksale mit historischen Gegebenheiten und lässt seine Figuren mit pointierten Dialogen und eindringlichen Bildern für sich sprechen. Besonders die Begegnung mit deutschen Siedlern in der Ukraine sowie die Auseinandersetzung mit dem Militärregime werfen Fragen nach Identität, Zugehörigkeit und dem Umgang mit der Vergangenheit auf. Die Heimkehr bleibt für Peter Buck und seine Kameraden ungewiss – ein Symbol für die Desillusionierung einer ganzen Generation.

Die Heimkehrer (Erstes Bild)

„Milch bleibt Milch und Mensch bleibt Mensch …“

Verladerampe einer ukrainischen Bahnstation zwischen Odessa und Nikolajew. Frühlingsabend im April 1918. An der Böschung des Bahndammes liegen drei Männer in abgetragenen, feldgrauen Uniformen: die Heimkehrer Buck, Lutz und der Professor. Lutz und Buck tragen alte deutsche Militärkappen, der Professor, ein fünfzigjähriger Vollbart, eine breitrandige Russenmütze und eine zerschlissene Sanitätsbinde um den Arm. Über einer Feuerstelle aus ein paar Ziegelsteinen hängt ein Kochgeschirr. Der Professor packt aus einem alten Sanitätstornister Brotrinden, Grütze, Tee, teilt alles in drei Teile. Buck geht zur Verladerampe, brummt mit, während Lutz und der Professor bereits aus voller Kehle singen.

LUTZ und PROFESSOR:

Komm vom Gebirge gestiegen,

Wo die Lawine rollt,

Seh zu den Füßen ich liegen

Schlösser im Abendgold.

Schöner aber und besser

Denn alles Glück, das ich fand,

Denn alle Berge und Schlösser

Bist du, mein Hei-mat-la-and …

PROFESSOR: Genug, Jungens, wo rollen hier Lawinen, da wir jetzt schon drei Wochen durch den Staub der ukrainischen Steppe ziehn, die flacher ist als mein Handteller – exakter, schärfer, peinlicher – wo liegen hier Schlösser?

LUTZ: Für mich liegen hier – mit großartiger Handbewegung – Berge und Schlösser, soviel du willst, weil es nämlich heimwärts geht. Singt.

Schöner aber und besser

Denn alles Glück, das ich fand,

Denn alle Berge und Schlösser

Bist du, mein Heimatland, bist du, mein Hei-mat-land …

Er zieht eine kleine Kiste unter sich weg, aus deren einem Loch der Kopf einer Gans schaut, aus zwei Seitenöffnungen ihre Flügel; er spricht zu ihr.

Hörst du, „Elli“, heim geht es, heim!

PROFESSOR: Solltet lieber mal nach Speck und Salz gehn, ihr Nachtigallen.

LUTZ zur Gans: Nachtigallen nennt uns der Karbolfähnrich, dabei bist du weiß und mächtig wie ein Schwan.

PROFESSOR befühlt sie: Und fett wie ein Spanferkel.

LUTZ: Fort mit deinen Metzgerhänden! „Elli“ streichelnd. Hat sie nicht wunderbare Augen, ganz wie meine Elli in Berlin!

BUCK von der Rampe her: Kameraden!

LUTZ hinzu: Was ist?

BUCK an einem Waggon, liest: Eisenbahn-ober-direktion Karlsruhe! Strahlend, als erhle er eine wunderbare Geschichte. Ein Waggon, der nach Deutschland fährt, nach Karlsruhe …

PROFESSOR nahe heran, fast feierlich: Unbestreitbar: Eisen-bahn-ober-direktion Karlsruhe.

BUCK glücklich, wie im Traum: … und dann geht’s noch bei Worms über die große Brücke, über den Rhein, grün und kristallklar ist der wie Gebirgswasser und breit wie ein ganzer See, und dann noch eine halbe Stunde, dann kommt Landau …

PROFESSOR: Wo deine Mutter und dein kleines Mädel …

BUCK: Schnell, Professor, du weißt doch etwas von Entfernungen?

PROFESSOR nimmt Papier und Bleistiftstummel aus dem Mützenrand: Wie weit ist es? Nun … Odessa–Bukarest–Wien–München, sagen wir 2000 Kilometer, und dann München–Karlsruhe nochmals 400 Kilometer … 2 500 Kilometer in dreieinhalb Tagen.

BUCK leise: In vier Tagen daheim? Streichelt den Waggon, will sich schnell unten auf die Wagenachse legen.

PROFESSOR zieht ihn wieder hervor: Mach keinen Blödsinn, Peter! Wo ein Waggon steht, da steht auch Militär …

Stimmen, Wagenräder; mit Säcken kommen einige Bauern: der alte Boländer, Heiner, Philipp und Erna.

BOLÄNDER absetzend: Geh einer zum Feldwebel.

LUTZ: Sakra, die Muschiks sprechen ja deutsch!

PROFESSOR zu Boländer: Grüß Gott, Vater, woher des Wegs?

BOLÄNDER misstrauisch: Von … da unten.

PROFESSOR: Ist das eine Antwort, lieber Freund?

BOLÄNDER: Woher kommt denn ihr?

LUTZ mit Handbewegung: Von … dahinten.

PROFESSOR schnell: Aus Krassnojarsk, dem Gefangenenlager in Sibirien, sind auf der Heimkehr nach Deutschland.

LUTZ zu Boländer: Vater, mir dreht sich der Magen um vor Kohldampf, habt ihr da im Sack nicht was Nahrhaftes für mich und „Elli“?

BOLÄNDER: Ist alles abgewogen auf Sack und Kilo.

PROFESSOR stolz: Deutsche Wirtschaft.

PHILIPP: Ja, die deutschen Soldaten können rechnen; bei uns in Landau …

BUCK aufhorchend: In Landau?

PHILIPP: Nun ja, in Landau, in unserm Dorf da unten.

BUCK: In eurem Dorf da unten … Erregt, packt ihn. Mensch, ich bin doch aus Landau, aus Landau in Deutschland!

ERNA: Aus Landau in Deutschland?

PROFESSOR: Aus dem eure Vorväter kamen. Schulmeisternd. Und wann?

BOLÄNDER: Vor über hundert Jahren, sagt man.

PROFESSOR: Richtig. Bedeutsam. Von der großen Katharina – exakter, schärfer, peinlicher – seit 1763. Die war ja eine deutsche Prinzessin, die wusste genau, weshalb sie ihre deutschen Brüder als Kolonisten hierher in die Steppe holte.

ERNA mit Buck beiseite: Ist bei euch auch Steppe, Soldat?

BUCK lachend: Steppe? Nein. Aber Städte mit fünfstöckigen Häusern und Trams und Fabriken … Kann sich nicht genugtun. Und Wiesen mit fettem Klee und Schlüsselblumen und Berge mit Wein und Hopfen, so weit du sehen kannst, und dann der Rhein, blaugrün und breit.

Bahnwache, kommt heran: Gefreiter Kupitz und Münzner; Gewehr, Stahlhelm, umgeschnallt.

KUPITZ zu den Bauern: Abladen! Gegen Lutz: Und du Wilddieb?

LUTZ: Nichts „Wilddieb“. „Elli“ schützend. In Ehren erworben und großgezogen.

Feldwebel Hufschlag mit dickem Notizbuch vorn im Rockschlitz, links von ihm Unteroffizier Wrede. Die Bauern haben sich vor dem Mächtigen schon halbmilitärisch aufgebaut, ebenso die Heimkehrer.

KUPITZ meldend: Drei Fuhrwerke aus den deutschen Dörfern. Nimmt von Boländer die Lieferungsscheine, gibt sie dem Feldwebel.

FELDWEBEL liest: Hundertsechzig Pud Getreide, wo zweihundert zu liefern? – Nun?

BOLÄNDER: Euer Wohlgeboren …

FELDWEBEL: „Wohlgeboren“ ist hier ein Affendreck! Ich bin der Feldwebel Hufschlag, verstanden?

BOLÄNDER: Herr Feldwebel, es ist im Dorf nichts mehr aufzutreiben.

FELDWEBEL polternd: Weil die Bauern sich drauflegen mit ihrem dicken Hintern. Wir werden ja sehen! Zu den Heimkehrern. Was sind denn das für gefleckte Hyänen?

LUTZ stramm, in seinen Lumpen: Kriegsfreiwilliger Lutz, Reserve-Infanterieregiment 103, aus dem Gefangenenlager …

PROFESSOR vorstürzend zum Unteroffizier: Otto! Junge! Du hier?

WREDE ihn erkennend: PROFESSOR?

FELDWEBEL: Hier ist wohl alles aus dem Häuschen?

PROFESSOR außer sich vor Freude: Das ist doch der Otto, mein Discipulus in Deutsch und Geschichte, mein Sorgenkind, ein Lausebengel … na, Otto, wann waren die Karolinger und die salischen Kaiser? Nun – exakter, schärfer, peinlicher – alles vergessen? Packt ihn am Ohr.

WREDE haut ihm auf die Finger: Wohl wahnsinnig, Mann! Nehmen Sie die Hacken zusammen, wenn ich mit Ihnen rede!

PROFESSOR wie versteinert, hilflos: Otto, so sprichst du mit deinem alten Professor, der zwei Jahre in Sibirien lag …

FELDWEBEL vorwitternd: Und der mir jetzt vielleicht einmal sein Soldbuch zeigt und seine Erkennungsmarke, der Herr Sibirienprofessor! Hat dessen Jacke geöffnet, darunter die nackte Brust. Also, ohne Erkennungsmarke schleicht das hier um die deutsche Armee, wie die Buschräuber, wie …

LUTZ: Wir wollen heim, Herr Feldwebel!

BUCK erregt: Nach Deutschland, ich habe ’ne Mutter, im Badischen, am Rhein, seit 1915 habe ich sie nicht gesehn, und auch mein fünfjähriges Mädel – ist jetzt wohl schon acht – meine Frau ist tot, aber mein Mädel, und da steht dieser Eisenbahnwaggon …

LUTZ: Dieser Waggon Nummer 71482 nach Karlsruhe …

FELDWEBEL auf ihn zu: „Dieser Waggon Nummer 71482 nach Karlsruhe …“ Plötzlich. Dein Notizbuch!

LUTZ: Ich habe keins, Herr Feldwebel.

FELDWEBEL nimmt seine Mütze, reißt das Mützenfutter auf: Deine Aufzeichnungen, du Hyäne! Da er nichts findet, zum Unteroffizier: Allen die Köpfe rasieren!

WREDE: Befehl.

FELDWEBEL: Meint ihr, wir wissen nicht, wie es der griechische König damals machte? Zwinkernd. Was, Unteroffizier?

PROFESSOR mit Blick auf Unteroffizier: Hat er Ihnen von einem griechischen König erzählt!? Das sieht ihm ähnlich! Empört. Der Perserkönig Darius schrieb seinem Sklaven Nikandros einen Geheimbrief auf den rasierten Schädel, ließ ihm die Haare wachsen und sandte ihn …

FELDWEBEL: … an seine Agenten. Wie gut du das weißt, mein Täubchen, du Russenmoses mit der Russenmütze!  Schlägt ihm die Mütze vom Kopf.

PROFESSOR bebend: Erlauben Sie, Herr Feldwebel, ich bin für mein Vaterland mit siebenundvierzig Jahren als Freiwilliger ausgerückt.

FELDWEBEL: Ein Bolschewik bist du, verstanden? Rote Hetzer sind alle, die aus den Lagern kommen, an keinen Gott glauben und mit zehn Weibern unter einer Decke schlafen. Hände vorzeigen! Während die Heimkehrer ihre Hände vorstrecken. Pfui Teufel, ihr Schmierlapps, Pfoten wie die Zigeuner … und wie eure Gebeine in der Montur hängen, ihr sibirischen Waldaffen! Man muss euch erst wieder zu Menschen machen! – Verstanden, Unteroffizier?

WREDE schmunzelnd: Befehl, Herr FELDWEBEL!

FELDWEBEL zu den Bauern: Vorwärts, zum Hauptmann!

Mit den Bauern ab; nur Erna bleibt bei den Getreidesäcken.

WREDE „freundlich“: Also, Kameraden, gestattet, wenn wir jetzt uns wieder einmal als gebildete Lebewesen unterhalten. Der Größe nach angetreten, marsch, marsch!

BUCK enttäuscht: Fängt’s damit wieder an?

WREDE: Damit fängt alles an, seit Adam und Eva. – Zu Kupitz und Münzner. Laden – sichern!

Die beiden schauen einen Augenblick den Unteroffizier an, werfen dann die Gewehrkammern auf und legen Patronenstreifen ein.

WREDE ohne zu schreien: Stillgestanden! Einzeln im langsamen Schritt an mir vorbei – Abstand halten – der Vollbart nochmals zurück, aber etwas plötzlich, wenn ich bitten darf! Professor muss zurück, kommt wieder vorbei an dem Unteroffizier, der auf sein Seitengewehr gestützt wie ein General auf einem Feldherrnhügel dasteht. Das Köpfchen höher – Beine freier weg – mal herkommen der Freiwillige! Professor kommt heran. Sagen Sie mal, Freiwilliger, Ihnen gefällt wohl das Kriegsspielen nicht mehr? Professor sieht ihn an. Sollt euch schämen vor dem deutschen Mädel da! Überall müsst ihr auffallen durch deutsche Disziplin, deutsche Sauberkeit, deutsche Kultur! Und grade hier in der Ukraine, die seit Urzeiten von den Ostgoten und Deutschen besiedelt ward …

PROFESSOR zusammenzuckend: Falsch! Lange vor den Ostgoten wohnten die Griechen und Skythen in der Ukraine; Odessa, Cherson, Sebastopol– alles griechische Namen …

WREDE: Hier im Dienst rede nur ich! – Stillgestanden! Knie–e beugt!

Professor blickt hilflos auf die Heimkehrer und die Soldaten mit schussbereitem Gewehr, geht in Kniebeuge, stützt sich dabei auf.

WREDE: Hände nach vorn!

Gascha, ein kräftiges ukrainisches Mädchen von etwa dreiundzwanzig Jahren, kommt mit zwei Milchkannen.

GASCHA: Brauchen die Soldaten Milch?

WREDE: Störe hier nicht! Zu den drei andern. Weitermachen!

Die zwei Heimkehrer marschieren mit scharfer Kopfwendung an dem Unteroffizier vorbei.

WREDE plötzlich: Achtung! Alles vorn bei der Lokomotive antreten! Marsch! Marsch! Die Heimkehrer rennen nach links, der Professor will mit; Wrede drückt ihn wieder in die Kniebeuge. Bemühe dich nicht, alter Freund! Zu Münzner. Du meldest, falls er aufsteht! Mit Kupitz ab.

Kurzes Schweigen, währenddessen Gascha Milch aus der großen Kanne in eine kleine schüttet und die Soldaten beobachtet.

GASCHA zu Professor: Setz dich doch hinten auf die Hacken, Väterchen, dann hast du’s ganz bequem.

PROFESSOR versucht es: Wahrhaftig … wunderbar, direkt genial.

GASCHA: Siehst du.

PROFESSOR: Ein gutes Mädel, wie heißt du?

GASCHA: Gascha.

PROFESSOR immer in Kniebeuge: Deutsche?

GASCHA: Ukrainerin, meine Mutter ist Russin; ich diene bei der deutschen Gutsherrin Madame Keller.

PROFESSOR: Siehst du, etwas deutsches Blut muss doch in dir sein?

GASCHA: Weshalb?

PROFESSOR: Hast so etwas Frisches, Gesundes.

GASCHA: Ja, frisch sind die Deutschen. Wie ein Sturm rücken die vor.

ERNA: Und einen gesunden Appetit haben sie auch.

GASCHA: Müssen Soldaten haben.

ERNA auf den Säcken: Requirieren das letzte Korn, bald sind wir ratzekahl.

GASCHA: Dafür ist Krieg.

MÜNZNER dazwischen: Seit Brest–Litowsk ist Frieden.

PROFESSOR eifernd: Frieden? Erst wenn hier unsre Kultur gesichert ist! Wir Deutschen bilden hier den kulturellen und militärischen Schutzwall gegen das asiatische Barbarentum!

GASCHA: Wie klug du bist!

PROFESSOR: Ich halt’s auf den Hacken nicht mehr aus. Kniet.

GASCHA: Bist ja ganz schwach; hier ein Becher Milch! Gibt ihm. Siehst du, Milch bleibt Milch, und Mensch ist Mensch.

MÜNZNER nimmt, während er sich umschaut, von Gascha ebenfalls schnell einen Becher: Bin auch bloß ein Mensch.

GASCHA: Übertreib nicht!

MÜNZNER leiser: Was meinst du denn? Mit verhaltener Erregung. Ich will hier kein Schloss erben und keine Bauernwirtschaft; aber heim will ich, heim, zu meiner Frau, meiner Arbeit; bin schon vier Jahre weg.

GASCHA betrachtet ihn: Bist ein strammer Junge, wirst auch noch ein Jährlein aushalten.

MÜNZNER gegen sie: Vier Jahre schon, Mädel!

ERNA: Die ist selten eisern, wie ein deutscher Soldat!

Unteroffizier Wrede mit Kupitz und den zwei Heimkehrern, die jetzt in frischen Mützen im Gleichschritt heranmarschieren. – Kupitz stülpt dem Professor schnell eine neue Soldatenmütze über. Die zwei Bahnposten und drei Heimkehrer haben sich zu einer Linie aufgebaut. – Hauptmann v. Leers und der Feldwebel mit den Bauern von links.

WREDE meldend: Ein Unteroffizier, zwei Mann Bahnwache, drei Heimkehrer angetreten.

HAUPTMANN: Rühren! Zu den Bauern: Mag sein,meine Freunde, es wird bis Herbst etwas knapp bei euch. Doch kein Vergleich mit unsrer deutschen Heimat, die auch eure Heimat war und ist. Dort – jawohl, hier muss ein offenes Wort gesagt sein – dort bäckt man jetzt „Brot“ aus Rüben, Kartoffeln und Kleie! Landsleute, wollt ihr eure Heimat verraten?

BOLÄNDER benommen: Wir wollen alles für euch versuchen.

Boländer sieht die beiden andern Bauern und Erna an; dann tragen sie die vollen Säcke nach links zur Rampe.

HAUPTMANN zum Feldwebel: Heimkehrer?

FELDWEBEL leise: Aus den Russenlagern!

HAUPTMANN zu den drei Neuen: Wohl schwere Zeiten durchgemacht, Kameraden?

LUTZ stramm: Jawohl, Herr Hauptmann!

HAUPTMANN auf „Elli“: Lebendige eiserne Ration?

LUTZ: In Berlin sei es knapp, Herr Hauptmann.

HAUPTMANN vor Professor, fasst ihn am Bart: Hast dir da aber einen Fußsack zugelegt, Kamerad! Wohl kalt in Sibirien?

PROFESSOR: Sehr kalt, Herr Hauptmann!

HAUPTMANN: Was arbeitest du?

PROFESSOR: PROFESSOR der Literatur und Geschichte, Herr Hauptmann!

HAUPTMANN: Donnerwetter, ist ja allerhand, großartig, da werden Sie uns ja gute Dienste tun. – Feldwebel! Der Herr Professor soll genau die Geschichte der Kompanie während unsres Feldzuges in der Ukraine aufschreiben, Tag für Tag, Schritt um Schritt!

PROFESSOR stolz: Befehl, Herr Hauptmann.

HAUPTMANN zu Buck: Und Sie?

BUCK: Peter Buck, III. Bataillon Grenadierregiment 110, gelernter Schuster.

HAUPTMANN „loyal“: Du willst natürlich heim, zu Weib und Kind, wird geschehen. Nur, Kameraden, ihr saht da eben unsre Landsleute, deutsche Bauern. Sie leben unter einem furchtbaren Druck: die Bolschewiken im Norden, Kosaken und Mongolen im Osten, Banden, Terror, Bürgerkrieg. Wollt ihr eure deutschen Brüder hier dem roten Chaos preisgeben? Nein, das wollt ihr keineswegs! Auf und ab. Wir werden also in den nächsten Tagen vorrücken, gemessen an den Schlachten von Verdun, in Flandern und am Isonzo ist dieser Marsch in die Ukraine ein Sonntagsspaziergang. Seine blütenweißen Handschuhe betrachtend. Legt ihn so zurück, dass ihr am Sonntagabend sagen könnt: Es war ein festlicher Tag. – Weggetreten!

Scharfe Kehrtwendung der Mannschaft; alle bis auf Feldwebel und Hauptmann ab.

HAUPTMANN: Ich finde die Heimkehrer nicht schlecht.

FELDWEBEL: Herr Hauptmann haben eine glänzende Art mit den Leuten umzugehn, so … stramm väterlich.

HAUPTMANN: Also übermorgen Weitermarsch nach Osten, Richtung Nikolajew.

Feldwebel ab; Erna ist von links gekommen, nimmt einen leichteren Sack.

HAUPTMANN betrachtet sie wohlgefällig: Nun, mein Kind?

ERNA gernd: Kommen die Soldaten auch zu uns?

HAUPTMANN: Wenn ihr uns wollt.

Erna schweigt.

HAUPTMANN: Wie heißt du denn?

ERNA: Erna … Erna Hert.

HAUPTMANN: Erna Hert … ein schöner Name für ein deutsches Mädel. Sucht in seiner Tasche. Wart mal, Erna, – zieht eine Tafel Schokolade hervor – für dich, Erna, aus Deutschland, aus unserer Heimat, Erna. Grüßt, dann ab.

ERNA betrachtet die Schokolade: Aus Deutschland … die werd ich gleich mal den andern zeigen. Überlegt, steckt sie schnell weg. Nein, keinem werd ich sie zeigen, keinem! Links ab.

Von rechts ist Buck gekommen; er schaut sich scheu um, geht dann zu dem Waggon.

BUCK liest langsam: Eisenbahnoberdirektion Karlsruhe … Er sucht den Waggon zu öffnen, vergebens; will ihn leidenschaftlich mit seinen Armen umfassen, vergebens; überlegt, sieht sich um, kriecht unter den Waggon, legt sich auf die Achse des Wagens.

Von rechts hinten Kommandostimme des Unteroffiziers Wrede: Musketier Buck! Antreten zum Stiefelfassen! – Musketier Buck!!

BUCK der unter der Suggestion des Kommandos unter dem Waggon wieder hervorgekrochen ist: Jawohl, Herr Unteroffizier! Richtet mit dem Zeigefinger seine Mütze zurecht: Kokarde genau über der Nasenwurzel, schaut noch einmal auf den Waggon, dann. Sofort, Herr Unteroffizier! Rennt nach rechts hinten. Sofort!

Licht weg.

Die hier gezeigte Szene aus „Floridsdorf. Ein Schauspiel von den Februarkämpfen der Wiener Arbeiter“ spielt im Schlingerhof, einem sozialistischen Gemeindebau, der wie viele andere Wiener Wohnanlagen zum Symbol des roten Wien geworden ist. Doch unter der Oberfläche des alltäglichen Lebens brodelt es. Während der junge Seppl zwischen der Liebe zu Gretl und seiner politischen Überzeugung hin- und hergerissen ist, ringt die alte Arbeitergeneration um eine Antwort auf die drohende Konfrontation. Die Gespräche über Waffenlager im Keller, politische Intrigen und unklare Befehlslagen spiegeln die Unsicherheit jener Zeit wider.

Wolf stellt die entscheidende Frage: Werden die Arbeiter die Kraft finden, sich gegen die drohende Diktatur zu wehren, oder wird ihr Zögern ihnen zum Verhängnis? Mit schnellem Dialog, scharfer Charakterzeichnung und einer Atmosphäre voller Anspannung verdichtet das Stück die Stimmung der letzten Stunden vor dem offenen Aufstand.

Wohnraum im Schlingerhof Wien-Floridsdorf. Nacht vom 14. zum 15 März 1933. Das Zimmer ist leer, halbdunkel, durch den Reflex der Straßenlichter schwach beleuchtet. – Von rechts kommt eine Gestalt, schleicht nach links zur Tür, findet die Tür verschlossen, geht dann leise zum Fenster im Hintergrund, öffnet vorsichtig einen Fensterflügel, will hinaussteigen, muss den Fensterflügel weiter aufdrücken … ein Krach: eine Blechkanne mit Wasser, durch eine Schnur am Fenster befestigt, fällt herab. Ehe die Gestalt von dem Guss sich erholt und davongemacht hat, ist das Licht angeknipst. Rechts aus dem Nebenraum stürzt eine fünfzigjährige Frau von gewaltigem Körperumfang: Mali; sie packt zu und ergreift Seppl, ihren achtzehnjährigen Jungen. Der steht da in kurzen Turnhosen und im Sporttrikot, die eigentlichen Hosen um den Leib gebunden, die Schuhe in der Hand, die Haare noch triefend vom Wasser. Auch der Betriebsrat Schani, ein fünfundfünfzigjähriger Graukopf, in Hemd und Hose, ist hinzugekommen.

MALI den Seppl nach vorn ziehend, wütend: Hab ich dich, Bürschl! Wie ’ne Ratte im Wasserkübel muss man ihn fangen! Mit achtzehn Jahren nachts zum Mädel schleichen, wie ’n Dieb, wie ’n Don Juan! Zieht ihn nach vorn. Du Schandfleck!

SCHANI packt ihn, doch mehr dozierend: Hast denn gar keinen Verstand, Seppl? Nachts wie ’n Dieb aus dem Fenster zu steigen, wie ’n Dieb, hier, aus dem Schlingerhof … –feierlich – den wir uns erbaut haben als ein sozialistisches Gemeindehaus, als ein Symbol …

MALI ihn zu sich drehend: Was er bloß hat an dem Weibsbild, der Hosenmatz. Entrüstet. Fünfundzwanzig Jahr alt ist das Mädel, du bist achtzehn; ’ne Lehrerin ist das Mensch, du bist Eisendreher; das passt grad zueinander wie Zwetschgenkuchen zum Hering und wie ein Igel zum Handtuch!

SEPPL: Aber Mutter, die Gretl …

SCHANI dreht ihn zu sich: Die Gretl, die Gretl! Bürschl, in deinem Alter braucht das Gehirn nachts keine Gretl, sondern Schlaf! Als ich so alt war wie du …

MALI wütend: Skifahren wollen sie, die beiden; die Brettl haben sie schon hergerichtet für nächste Woch! – Aus ist’s! Marsch ins Bett! Und die Hose brauchst nit, wenn du schläfst! Nimmt ihm die Hose weg.

SCHANI zu Seppl, der mürrisch dasteht: Seppl! Die Mädel laufen einem nicht weg, aber der Schlaf, der Schlaf … Remitierend.

Was wir dem Schlaf an Stunden stahlen,

Das holt für ihn sein Bruder ein,

Das müssen wir dem Tod bezahlen,

So bleibt es bei der Sippschaft fein!

MALI hat aus Seppls Hose eine große Steyrpistole hervorgezogen: Das ist’s?

SEPPL greift nach der Waffe: Lass, Mutter!

MALI zieht die Hand zurück: Zum Schießen gehst nachts, nit zum Mädel?

SCHANI: Drum kommt auch der Ferd nit heim?

Seppl schweigt.

MALI geht schnell an die Wasserleitung, presst ihr Ohr an das Leitungsrohr, horcht: Sie hauen wieder in die Wand, mit Eisen, drunten im Keller … aus den Zementwänden hauen sie’s raus, die Gewehre, die Maschinengewehre! Springt zu Seppl, packt ihn in tierhafter Angst. Aber dafür hab ich meine Buben nit geboren, dass sie sich herumschießen sollen mit den Heimwehren und dem Dollfuß, dass man sie mir in Fetzen zurückbringt, wie im 27er Jahr vom Justizpalast! Seppl, Drecksbub, Sakramenter, mein Bub, machst deiner Mutter nit den Jammer, versprich mir’s! Plötzlich. Geh in die Berg mit deiner Gretl, nur los, mit euren Schiern, nix als dos, nur weg jetzt aus dem brandigen Wien! Klopft links an die Wand. Gretl! Hörst denn nit, Gretl?! Will die Pistole in Papier wickeln. Die bring ich morgen weg!

SEPPL packt ihren Arm: Die gibst wieder, Mutter! Unser Zugführer vom „Alarm“ hat befohlen … Will der Mutter die Waffe aus der Hand ziehen; ein Schuss geht los.

SCHANI hoch: Seppl!!

SEPPL: Das ist nix für Frauen. Sichert die Waffe.

Gretl, ein fünfundzwanzigjähriges Mädchen, Lehrerin, mit einfachem, kräftigem Gesicht, schnell herein; sie trägt Rock und Hemd, hat einen Schal eilig umgeworfen.

GRETL: Was ist?

MALI wieder zornig: Nimm ihn dir, deinen Lausekerl, deinen Lumpazius, dein Hähnchen, nimm ihn dir nur, Gretl, nehmt eure Brettl und los, ins Gebirg, auf die Eisfelder und Gletscher, nur los mit euch, weit weg, ich will ihn nit mehr sehn … Setzt sich hin, die Hände vor den Augen.

GRETL zu ihr: Aber Mutter Mali …

MALI: Ach was, „Mutter“; bin ich ja gar nit! Hört ihr denn auf mich? Springt auf, nimmt Seppls Waffe weg. Aber das bleibt hier! Gegen Gretl. Auch du lässt’s ja laufen, wie’s lauft!

GRETL: Was kannst du machen? Ich hab auf den SEPPL eingeredet mit aller Macht, hab mir Vorurlaub genommen, von der Schule, wir wollen zum Frühling im Gebirg sein mit unsern Brettln, und morgen ist schon der 15. März; aber die Buben hören ja nit mehr auf unsereins, bloß was ihnen ihre Kommandanten ins Ohr setzen, der Heinz, der Karl, der Franz und der Weissel …

SEPPL schnell: Die Namen lässt aus, Gretl!

GRETL: Ich mein’s ja nit so. Aber was der Weissel euch sagt, das steht für euch fest wie ’n Stern am Himmel.

SCHANI über seiner Kartothek: Der Weissel, der sollt sich um andre Dinge kümmern, der Herr Feuerwehrkommandant.

SEPPL vor ihm: Der Genosse Weissel, meinst du!

SCHANI mit Kartothekkarte: Dein „Genosse“ Weissel, der 1927 nach der Schießerei am Justizpalast ausgetreten ist aus der Partei, und der’s heut mit den Kommunisten hat … Von der Kartothekkarte lesend. Dein „Georg Weissel, Feuerwehrkommandant, fünfunddreißig Jahre alt, verheiratet, ein Kind, dreijährig“.

Herein kommen schnell der Eisenbahner Grämling, ein fünfundvierzigjähriger, in Schutzbundjacke mit Karabiner, hinter ihm seine zwanzigjährige Tochter Lene.

GRAMLING erregt: Alarm?!

SCHANI: Die Burschen blödeln.

GRAMLING: Hat’s geschossen?

MALI auffahrend gegen Grämling und seinen Karabiner: Und wenn s noch mal schießt, dann geht die Mutter Mali zur Polizei und macht der Sach ein End! Oder meint ihr, ich hab nit genug an Krieg, Mord und Totschlag die letzten zwanzig Jahr? Meint ihr, ich wollt noch den Bürgerkrieg?

GRAMLING: Der ist ja schon da.

MALI: Was ist da??

GRAMLING: Nun, Mutter Mali, wie nennst du denn das Ding, wenn der Dollfuß für morgen Nachmittag, den 15. März, den gesetzlichen Zusammentritt des Parlaments verbietet, wenn die Partei immer sagt: Das Parlament, das sind die Lungen, ohne die das Volk nicht atmen noch leben kann; will man die ihm rauben, dann, dann hätten die Arbeiter „ein heiliges Recht auf Waffen“!

SCHANI feierlich: Auf geistige Waffen, das hat der Otto Bauer und der Deutsch immer betont.

GRAMLING: Und wozu gaben der Deutsch und der Schutzbund uns dann Gewehre und Maschinengewehre?

SCHANI: Wozu, Genosse Gramling? Wozu? Zur Verteidigung unserer sozialistischen Errungenschaften, unsrer Gemeindebauten, unsres Schlingerhofs hier, unsrer Kinderheime, Arbeiterbäder, unsrer großartigen sozialen Kulturanlagen, wie keine Stadt der Welt sie besitzt!

GRAMLING: Und wenn sie morgen das Parlament auflösen …

SCHANI: Ein einziger Generalstreik …

GRAMLING: Wie 1927, als der Justizpalast brannte, als die Polizei die Arbeiter abschoss wie die Hasen, als wir Eisenbahner geschlossen in den Verkehrsstreik traten, als zwei Tage kein Rad rollte, keine Lokomotive rauchte … und der dann abgewürgt wurde, weil die Partei die Aktion von der Straße auf „parlamentarischen Boden“ verlegen wollte. Heftig. Genossen! Wenn sie uns morgen wieder zum Narren halten, dann werden wir unsern Bonzen in der Wienzeil mal einheizen!

MALI zu Gramling: Ruhe, Otto! Hast dich schon immer reingerennt mit deinem Hitzkopf! Wenn sie dich als Eisenbahner entlassen und aus der Wohnung werfen …

LENE: Soll er wegen der Pension und der Wohnung kneifen?

MALI: Halt ’s Maul, du Grasaff!

LENE tritt zu Gramling: Bloß wegen der Wohnung, darum noch lang nit, was Vater!

MALI ruhiger: „Bloß wegen der Wohnung?“ Mädel, ohne Wohnung, da bist du ein Fisch ohne Wasser, bist bloß ein halber Mensch. Weißt halt nit mehr, wie wir vor fünfzehn Jahren hausten hier in finstren Löchern, wie der Schimmel in die Betten zog und die Ratten uns nachts über die Nasen sprangen, und jetzt … – macht rechts und links die Türen auf – da noch ein Zimmer, und hier Küche und Bad und die Zimmer für die Buben; wie im Himmel leben wir heut …

Es kommen Heinz, ein vierzigjähriger kräftiger Mann, Bataillonsführer vom Alarmregiment „Karl Marx“, und Franz, sein fünfundzwanzigjähriger Zugführer.

HEINZ: War das hier?

GRAMLING auf Seppl: „Gewehrreinigen!“

MALI gegen Heinz: Den Seppl lässt mir draus aus der Sach, verstehst?

HEINZ zu Seppl: Bei wem?

SEPPL stramm: Zweiter Zug.

FRANZ meldend: Ist erst ’ne Woche bei uns.

HEINZ zu Gramling, leiser: Bereitschaft.

MALI hellhörig: Was ist?

HEINZ: Schon gut. Will mit Gramling und Franz hinaus.

MALI vertritt ihm den Weg: Nix gut, Heinz! Gar nix gut! Hast mir hier Red zu stehn, du als Kommandant! Meine beiden Buben hast schon narrisch gemacht, streichen nachts herum wie die Strauchdieb, die beiden Hosennässer; sollen wohl auch schon schießen und bluten und sterben für euren Sparren? Verzweifelt. Werdet’s bald sehen, alles wird uns wieder genommen, alles, was wir die Jahr uns geschafft: die Kinder, die Männer, die Arbeit, die Wohnung …

HEINZ: Ruhig, Mali, der Schutzbund sorgt grad dafür, dass der Arbeiterschaft nix genommen wird.

SCHANI: Heinz! Ich weiß, du bist ein fester Mensch, du hast ein Gewissen, du machst keine wilden Sachen, Heinz, mach nichts ohne Befehl der Zentrale!

HEINZ: Wir sind eine bewaffnete Truppe, Schani; Disziplin ist bei uns das erste.

SCHANI: Richtig, Heinz, und die Disziplin verlangt, dass wir die Nerven nicht verlieren, nicht vor dem kleinen Dreck, dem Dollfuß, und nicht vor den „Hahnenschwänzen“ des Starhemberg, dass wir hören einzig und allein auf unsre Partei … – begeistert – eine Partei ist das … – zu seiner Kartothek – ein Felsblock von Partei, eine Mordsriesenpartei, über eine Million Wähler in Österreich, und die Sympathien, die sie sich geschaffen hat grad durch ihre kommunale Politik …

GRAMLING spottend: Durch die Gemeindebauten …

SCHANI feierlich: Jawohl, die Gemeindebauten, Genosse Gramling! Oder ist das vielleicht nichts: der Karl-Marx-Hof, der Goethehof, der Lassallehof und hier unser Schlingerhof mit ihren Zehntausenden lichten Arbeiterwohnungen, Schulen, Kindergärten, Bädern und Versammlungsräumen! Jawohl, Genossen, das sind die Symbole und sichtbaren Hochburgen eines Sozialismus ohne Blut und Tränen! Hebt seine Kartothek wie ein Palladium. Seit Januar sind allein in unserem Bezirk wieder zweiundachtzig Mitglieder neu in der Partei.

FRANZ: Aber ein lahmer Fettwanst ist die Partei, wenn sie sich nicht rührt!

HEINZ: Pause, Franz! Disziplin sollst im Leib haben als Zugführer! Der Schutzbund empfängt seine Parolen; in die Parteipolitik soll er sich nicht mischen.

FRANZ erregt: Grad das soll er, sagt uns der Weissel!

SCHANI: Der Weissel! Genossen, da stimmt was nicht, der ist ein Anarchist …

SEPPL hervor: Der ist richtig, Vater!

MALI zieht ihn zurück: Der Satan ist der für euch Burschen!

Es klopft. – Mali nach rechts, schaut durch einen „Spion“ in der Tür; ins Zimmer: „Der Katastrophenpeppi!“; sie öffnet, herein schiebt sich ein langer hagerer Mensch in Windjacke mit einem Tirolerhut, der Katastrophenpeppi.

PEPPI zu Mali: Heißen Dank für die Anmeldung, schöne Frau! Keine Erregung, bitte, nicht der geringste Anlass zu Emotionen. Heute, Genossen, nur einige kleine Fakten: Die Italiener stehen schon am Brenner, der Horthy hat dem Starhemberg drei Züge mit Waffen gesandt.

HEINZ: Woher, Peppi?

PEPPI vornehm: Woher? Von der Wienzeil, vom Parteihaus. Wenn der Bäcker morgen früh die Semmeln austrägt, dann sitzt der junge Kaiser Otto mit seiner Frau Mutter, der Kaiserinwitwe, bereits in der Hofburg auf dem österreichisch-ungarischen Kaiserthron …

GRAMLING: Geht’s los?!

PEPPI: Morgen mittag Punkt vier.

HEINZ: Latrine!

PEPPI: Ottakring und Brigittenau holen die Waffen raus.

HEINZ: Wo ist der Befehl?

PEPPI schlägt an seine Brust: Den haben wir hier!

FRANZ: Richtig!

GRAMLING: Und wenn er wieder bremst, der Parteichef, diesmal hauen wir ihm die Bude ein, die Bonzen hängen wir auf, die Schutzbundführer werden Parteivorstand …

HEINZ drückt ihn an die Wand: Wenn du Panik machst, Otto …

PEPPI: Ein Extrablatt, bitte. Hält es Heinz unter die Nase.

Heinz nimmt, liest stumm, während alle herantreten.

SCHANI liest: „Der Zusammentritt des Parlaments am 15. 3. 1933 ist laut Notverordnung vom 18. 2. 1933 bis auf weiteres verschoben. Die Regierung ist entschlossen, jede Zuwiderhandlung gegen diese ihre Verfügung mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu unterdrücken.“ Liest das Blatt immer wieder.

HEINZ zu Peppi: Was sagt die Bundesleitung?

PEPPI: Nichts.

HEINZ: Und die Partei?

PEPPI: Nichts.

Stille.

HEINZ: Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln! Wir sind wohl ’ne Hammelherde? Genossen, wir müssen wissen, was da gespielt wird, welche Parolen die Partei ausgibt, wenn man das Parlament morgen mit Waffen auseinanderschlägt! Kollegen, wir werden sofort eine Delegation wählen, die morgen zum Vorstand geht und zur Schutzbundleitung!

SCHANI: Eine Delegation, gut.

MALI: Eine Delegation, das haben auch wir Frauen schon gemacht. Erleichtert. Setzt euch, Männer, eine Delegation, da müsst ihr doch schreiben. – Los, Mädels, wollen ’nen Kaffee kochen! Mit Gretl und Leni ab.

HEINZ: Alles schon parat, Schani?

SCHANI: Die Mitgliedsbücher vom Bezirk müssen zu jeder Zeit revisionsfähig sein, das kann man vom Bezirksobmann verlangen. Hat sich mit Feder und Papier feierlich hingesetzt.

HEINZ: Richtig, Bezirksobmann! Also oben: Re–so–lution der Delegation des Schlingerhofs Floridsdorf, Wien, XXI. Bezirk.

SCHANI schreibt: „Des Schlingerhofs Floridsdorf, Wien, XXI. Bezirk …“

HEINZ diktiert: Im Hinblick auf die durch die Dollfußregierung geschaffene bedrohliche Lage erwarten die Vertreter des Gemeindehauses Schlingerhof …

FRANZ: Der Fiatwerke Floridsdorf …

GRAMLING: Und der Eisenbahnergewerkschaft …

HEINZ: Und der Eisenbahnergewerkschaft, dass die Partei sofort durchgreifende Parolen herausgibt, und zwar: erstens Generalstreik, zweitens Rücktritt der Regierung Dollfuß, drittens Bewaffnung der Arbeiterschaft …

FRANZ: Die drei Punkte unterstreichen, Schani!

GRAMLING: Vor allem den letzten!

PEPPI an der Wasserleitung horchend: Was ist?

FRANZ ebenso: Sie hauen im Keller die Wände auf, die MGs aus den Wänden.

PEPPI: Fesche Burschen.

HEINZ wütend hinzu: Idioten!

GRAMLING vor ihm: Morgen brauchen wir sie, Heinz.

HEINZ: Ohne Befehl wird nichts „gebraucht“!

FRANZ: Die Burschen sind nicht mehr zu halten, Heinz.

HEINZ: Die Burschen schmeiß ich dreikant aus dem Bataillon! Hinaus.

Alle – bis auf Schani – rennen ihm nach. Schani, in sein Schreiben und sein „Unterstreichen“ mit Lineal ganz vertieft, fährt auf, sieht das Zimmer leer, rennt jetzt zur Tür.

SCHANI halb in der Tür, halb im Flur: Heinz, Heinz! Was ist denn? Die Resolution? Er geht zurück in die Mitte des Zimmers, horcht, schaut nach der Uhr: ein Uhr nachts, geht weiter an den Tisch, legt die Resolution beiseite, beginnt wieder die Zahlmarken in die Mitgliedsbücher zu kleben, spricht mit sich selbst. Nummro 225467 … so ’ne Partei, so ’ne Herrgottsriesenpartei, sollen sie nur kommen! Er nimmt seinen Schemel, schwingt ihn hoch, als wolle er damit den Tisch und alles Lebende und Tote zerschmettern, setzt ihn dann aber ruhig hin, sitzt darauf, nimmt sich wieder die Mitgliedskarten vor und schreibt zornig und begeistert weiter.

Die Szene aus „Das Trojanische Pferd. Ein Stück vom Kampf der Jugend in Hitlerdeutschland“ zeigt eindrücklich, wie subtile Rebellion beginnt – in kleinen Gesten, zweifelnden Blicken, versteckten Botschaften. Doch die Gefahr ist allgegenwärtig, und der Druck steigt. Wer hält stand, und wer wird gebrochen? Wolfs Stück fragt, ob der Widerstand von innen heraus gelingen kann – oder ob das „trojanische Pferd“ längst im Herzen der Jugend angekommen ist.

Gasgranatenabteilung in einem Rüstungsbetrieb, unterirdisch, mit starker Eisenbetondecke: am Laufband von der Mitte quer links über die Bühne die Jungarbeiterinnen und Jungarbeiter Hilda, Anni, Nelli, Willi, Karl, Peter und Alex. Im Verlauf des Arbeitsprozesses füllen die Mädels die Granathülsen mit Pulver, während die Jungens kleine Fläschchen mit Wachsstreifen umkleben und über die Zelle der Pulverladung stülpen. Die Jungens und Mädels sind zwischen siebzehn und zwanzig Jahren. Ganz am linken Ende des Laufbandes steht Harry, ein Scharführer der SA, hier im Betrieb „Jugendbetriebswalter“ (Jugendführer); er hat die erste grobe Kontrolle, besichtigt die Füllung und schraubt den noch nicht „geschärften“ Zünder auf. Das Anrücken des Materials, das in gewissen Abständen geschieht, wird durch Lichtsignale bekanntgegeben: Material A, B, C … 20 Stück usw. - Rechts Treppe nach oben. Die Holzverschalung des Treppenaufgangs trennt diese Ecke etwas vom Arbeitssaal.

HARRY schraubt Zündkapsel auf eine Granate, legt sie aufs Laufband: Grüß mir den Manzanares und das liebliche Madrid!

WILLI ebenso: Die salzt vielleicht ’nem Chinamann die Suppe.

HILDA: Witze macht ihr.

HARRY: Sollen wir weinen?

KARL: Wenn dir so ’n Knallbonbon mal aus der Hand rutscht, dann kommt das ganz von selbst.

HARRY: Mensch, wenn man schon vorher die Hose voll hat!

Wirft mit einem gewissen eleganten Schwung die Granathülse von der rechten in die linke Hand; schraubt dann mit der rechten den Zünder auf.

ANNI: Ich mach nicht weiter, wenn der Harry so angibt! Arbeitet. Da seht, meine Arme und Hände sind schon quittegelb von dem Schwefel; muss man da noch Quatsch machen mit dem Gas?

Harry setzt seine elegante Arbeitsbewegung fort. Hilda pfeift dazu.

HARRY misstrauisch: Was Besonderes?

HILDA: Ach wo … bloß Rhythmus. Summt, während sie arbeitet.

„Wie ein stolzer Adler schwingt sich auf das Lied,

dass es unsre Seele hoch zum Himmel zieht …“

HARRY: Hab ich nicht die Melodie schon zu was anderm gehört?

HILDA: Harry, Mensch, sieh keine Gespenster, wo keine sind; schau lieber mal dahin, wo die Dinger an den Wänden kleben.

HARRY: Was klebt?

HILDA: Wenn der Herr Jugendführer das nicht sieht, ich werd mich hüten.

HARRY vor Hilda: Nun?

HILDA: Nun, man hört doch überall in der Tram so ’n Gerede von Miesmachern, es gäbe wieder ’nen Kohlrübenwinter wie im Krieg; drehst du dich um, bums, ist’s mausestill. Und erst die Zettelchen.

HARRY: Zettelchen?

HILDA: Klebte da in der U-Bahn so ein Blödsinn:

„Heil Hitler! ist der deutsche Gruß.

Statt Butter gibt’s jetzt Pflaumenmus.“

HARRY vor ihr: Hast die Schweinerei ja genau studiert!

HILDA ebenso: Weil ich’s abkratzte.

HARRY: Warum nicht gleich gemeldet?

HILDA: Meinem Vater, dem Blockwart.

KARL dazwischen: Recht hat der Harry, wir alle sollten die Augen aufmachen. Wie hieß doch noch der Vers, den ich vor drei Tagen wegwischte? Hab ihn vergessen.

HARRY: Besinn dich!

KARL: Moment, da hatten sie an ’nem Bäckerladen mit Gummistempel an die Wand gedruckt:

„Das Brot wird teurer, die Butter noch mehr;

Volk, ans Gewehr!“

HARRY: Ruhe!

Stumme Arbeit.

HARRY: Solltet euch lieber mehr für eure Arbeit interessieren! Wer von euch ist im aktiven Luftschutz?

PETER: Ich.

HARRY: Als Mitglied der Hitlerjugend; aber mit dir Wasserleiche können wir keinen Staat machen.

PETER: Was kann ich dafür, wenn ich immer kotzen muss; ich vertrage das Gas nicht.

HARRY zu ihm: Was heißt hier: „Vertrage das Gas nicht!“ Wenn dereinst unsre Stunde schlägt, wenn das Zeug in platzenden Granaten über dich fegt, dein Gasschutz von Splittern und Stacheldraht zerrissen und das Chlor in deine Haut …

HILDA: Hör auf, der Peter ist schon wieder ganz grün.

HARRY: Unsinn! Ein bisschen Erziehung tut hier not; solltest das als Hitlermädel wissen. Ganz nah vor Peter, während Hilda die Arbeit von Peter schnell mit übernimmt. Wenn du noch grüner ausschauen und die Beine von dir strecken wirst, – erhitzt – wenn es dir die Lungen aufbläst, mein Jungchen, zu Ballons, bis sie platzen …

Peter wankt, fällt plötzlich um, sein Fläschchen für die Granatfüllung zerschlägt am Boden; einzelne stürzen zu dem ohnmächtigen Kameraden, sehen zuerst nicht das Fläschchen.

HILDA gegen Harry: Kennst doch den Peter!

HARRY: Hysteriker.

ANNI: Nebenan sind gestern auch zwei umgefallen.

KARL Peters Kiefer vordrückend: Wasser!

HILDA will holen, sieht: Das Fläschchen! Gas!

HARRY ebenso: Masken!!

Willi stellt Laufband ab.

NELLI: Hilfe!

KARL hat Sirene gezogen, Nelli haltend: Nicht rennen!

Signal. – Herbei mit Sauerstoffapparat, die Maske vor dem Gesicht und Gasschutzspritze SA-Posten und eine Person.

PERSON auf Peter und das Fläschchen zeigend: Wie viel?

Harry presst die Maske über das Gesicht, macht mit dem Zeigefinger das Zeichen eins. Auch die anderen haben unter ihrem Arbeitsplatz schnell die Masken geholt und übergestülpt; der SA-Mann spritzt Boden und Raum ab, die Person hat von der Seite Eimer mit Kalklauge genommen, schüttet etwas auf das Fläschchen, steckt Peter Sauerstoffmundstück zwischen die Zähne; nimmt seine Maske jetzt ab; es ist der Blockwart Wulle, Hildas Vater; er sieht, wie einzelne husten.

WULLE: Schöne Schweinerei! Da steht der Eimer mit der Lauge; aber wenn man wie ’ne Hammelherde herumrennt … na, wir werden das noch üben, Herrschaften, garantiert! Über Peter. Kopf nach unten, mein Sohn, kotzen ist gesund, fast so gesund wie essen. Zu den andern. Spuckt jetzt mal feste aus, alle! Zu Peter, der aufwacht. Guten Morgen, junger Herr!

HILDA: Hättest sehen sollen, Vater, wie der Harry ihn zwiebelte!

HARRY: Hättest bei uns auf der Hochschule sein müssen! Kinders, da sind die SS-Instrukteure anders mit uns Schlitten gefahren: mit Gasmasken über die Hohe Wand, bis uns das Wasser in der Hose kochte … übrigens gute Erziehung.

ANNI: Merkt man.

NELLI: Ich finde, schadet gar nichts, wenn der Jugendführer ein bisschen Schliff bei uns einführt.

HARRY: Na und schließlich, von Gas sollte heute jeder etwas verstehen.

WULLE zornig: Nichts versteht ihr!

KARL: Würden schon gern mal was von Ihnen drüber hören, Herr Blockwart.

WULLE: Sind jede Woche zwei Abende im „Luftschutz“.

WILLI: „Luftschutz“ kostet Beiträge.

WULLE: Schluss mit dem Gequassel! Für die Beiträge wird sich ’ne Lösung finden.

WILLI: Na, na, Herr Blockwart?

WULLE fährt herum: Wer meckert da „na, na“! Jungs, wenn der alte Feldsoldat Wulle sagt: Es ist so, dann ist es so! Ein Mann, ein Wort! Und ich denke, die Sache wird euch grünem Gemüse sogar Spaß machen.

WILLI: Schießen Sie los, Herr Blockwart!

WULLE bedeutsam: Weil ich nämlich nicht will, dass die Jugend wie ’ne kranke Leberwurst herumhängt, sondern weil heute Kraft durch Freude das Leben des deutschen Arbeitsmannes beherrschen soll … kurzum, Jungs, eure Beiträge für den Luftschutz werden wir durch ein Theaterstück beim Kameradschaftsabend der Arbeitsfront hereinholen.

WILLI: Ein Theaterstück …

NELLI: Wo wir mitspielen sollen …

WULLE stolz: Na, Jungens, wie ist der alte Wulle?

WILLI: Direkt Zucker!

KARL: Ist das Theaterstück denn schon fertig?

WULLE: Meint ihr, Blockwart Wulle kommt mit halber Sache zu euch? Nein, Jungs, halbe Sachen zeigt man Kindern und Narren! Das Stück ist fertig wie Eisenguss und heißt: Helden der Luft; haben wir Anno 1916 in Frankreich an der Front gespielt.

Lichtzeichen.

WILLI ansagend: Fünfzehn Minuten Frühstückspause, zehn Stück noch auf dem Band!

WULLE: Vorwärts, die Mädels mit der Kalilauge hier den Boden aufgewischt; die Jungens werd ich oben schnell mal in die Rollen schnuppern lassen! Will hinauf.

NELLI vor ihm: Herr Blockwart, Herr Blockwart, kommen bloß Männer in dem Stück vor?

WULLE: Auch ein Mädel, das heißt ’ne Krankenschwester, die sich zur Front durchschlägt.

NELLI: Etwas für mich!

KARL: Pause! Los!

Die Mädels beginnen den Boden aufzuwischen, NELLI legt bald den Lappen hin, drückt sich hinaus, Wulle und den Jungens nach.

ANNI aufwischend: Meinst du, der Karl macht mit?

HILDA ebenso: Vielleicht.

ANNI: Ein Militärstück?

HILDA neben Anni kniend, hält im Wischen inne: Flugblätter, Klebezettel, richtig, Anni … aber wissen wir zuletzt, was daraus wird? Schau den Willi, saß mit uns auf der Schulbank, war bei unsern Sportlern.

ANNI: Und jetzt SA.

HILDA: Hast du mal ruhig mit ihm gesprochen?

ANNI: Möcht wissen, wo?

HILDA: Und der Alex? Früher SAJ, jetzt stumm wie ’n Fisch.

ANNI: Hat gestern mit mir gequatscht.

HILDA: Was?

ANNI: Über dich.

HILDA: Über mich?

ANNI: „Vorsicht vor der Hilda“, sagt er, „war bei den Roten, ist heute bei der Hitlerjugend, macht sich wieder an uns heran; Hände weg!“

Hilda schweigt.

ANNI näher heran, immer aufwischend: Was glaubst du, Hilda, wenn wir erst noch diesen Nazirummel mitmachen, diesen Kameradschaftsabend mit dem blöden Militärstück … was werden unsre früheren Genossen dann von uns denken?

HILDA: Und wenn wir nicht mitmachen?

ANNI immer aufwischend: Zu blöde, dass die Leitung abriss.

HILDA ebenso: Schon fünfmal haben wir Vatern verloren; müssen jetzt allein unsere Schrittchen machen …

Karl schnell herein.

KARL: Das hält der stärkste Mann nicht aus!

HILDA leise: Wahnsinnig, Karl? Mach, dass du wegkommst!

KARL mit Rollenauszug: Den Offiziersburschen Katzmaschek soll ich spielen … ein Militärschwank aus der Arche Noah! Heftig. Aber schließlich kann man sich nicht selbst anspucken!

HILDA mit Nerven: Anni, wisch vor der Tür!

Anni mit Eimer und Wischer hinaus.

KARL: Auch der Alex will den Dreck nicht machen, entschuldigte sich, habe noch nie Theater gespielt.

HILDA: Spielt nicht?

KARL: Der Harry sah ihn an und sagte: „Sehr interessant, Freund Alex, warst du früher nie in einer Organisation, wo man Geselligkeit pflegte?“ Dein Alter fuhr dazwischen: „Was früher war, war früher!“ Da nahm der Alex die Rolle, wenigstens in seine Hand.

HILDA: Und wenn du jetzt die Rolle nicht nimmst, und der Harry dich fragt, wo du früher warst?

KARL: Und wenn unsre Genossen mich auf einem Nazikameradschaftsabend in einem Militärschwank herumhopsen sehn?

HILDA: Und wenn wir hier in der Militärbude Gasgranaten drehn?

KARL nachdenklich: Hängen jetzt schon drei Wochen in der Luft …

Lichtsignal an elektrischer Uhr bei 9 Uhr 25.

HILDA horchend: Still jetzt, Karl! Streicht ihm schnell über den Arm. Komm heute Abend!

Karl tritt an die Waschkoje. – Von der Treppe her Lärm und Stimmen. – Herunter kommen: Nelli, Peter, Willi, Harry; dann Anni und Alex; einige schlingen noch schnell den Rest ihrer Frühstücksbrote; Nelli stößt Peter vor sich her.

NELLI gegen Peter: „Hergehört, Jungens!“ heißt’s immer. „Habt ihr verstanden, Jungens?“ Zerrt ihn zum Ventilator. Ich schmeiß dich in den Ventilator, dass du als Lerche zum Himmel fliegst!

WILLI: Pack sie am Kopf, Peter! Krawatte! Halbnelson!

NELLI: Uppercut! Boxt ihn in die Ecke. Lasst mich ’nen Jungen spielen, wenn ihr keine Mädelsrollen mehr habt!

PETER atemlos: Meine Rolle … bitte sehr!

NELLI: Wirklich? Versetzt ihm schnell einen Kuss, springt zu den Mädels. Ich spiele mit!

WILLI hat Peter beiseite gezogen: Ausgerechnet von dem Mädel musst du dich schmeißen lassen, wo ihr Vater Sozialdemokrat und ihr Bruder, der Karl … solltest jede freie Minute trainieren. Geht in den Liegestütz, macht Körperstemmen. Los!

PETER geht nieder, stemmt sich zweimal hoch, knickt zusammen: Mehr als dreimal krieg ich’s nicht.

WILLI: Aufstehn! Lässt ihn seine Muskeln fühlen. Das ist heut das Wichtigste, kapiert? Gibt ihm ein Stück Brot. Auch das ist wichtig.

PETER stramm: Danke. Schlingt das Brot.

WILLI ruft: Alex, du lahme Heuschrecke! Hierher! Packt ihn. Wie weißer Käse sehen die Jungens aus. Verdammt zweifelhafter Spaß, die ganze Schicht hier unter der Erde im Betonklotz herumfummeln, was?

ALEX vorsichtig: Die Bergarbeiter müssen’s ja auch.

WILLI: Unterschied zwischen „müssen“ und „müssen“; Theaterspielen zum Beispiel muss keiner, wenn er nicht will.

ALEX: Wer will denn nicht?

Karl mit Nelli hinzu.

WILLI: Meiner Meinung nach sollte man statt des Theaters ’ne richtige Turnerpyramide stellen.

NELLI: Erzähl das mal dem Blockwart!

WILLI: Meinst du, ich zier mich? Weshalb sind wir denn zur SA gegangen? Um Schluss zu machen mit der Sauwirtschaft der Duckmäuser und Bonzen … weil wir ’ne richtige Arbeiterpartei wollen, ’ne Arbeiterpartei, die auch mal dazwischenfunkt mit ’ner stählernen Faust; wenn sie aber heut wieder kommen mit Schwatzen, Schwadronieren, Theatermachen …

KARL: Was dann?

WILLI: Dann sagen wir unser deutsches Nein!

PETER: Bravo, Willi!

WILLI: Halt ’s Maul!

Die Jungens gehen zur Waschkoje. – Anni und Hilda kommen; Hilda streift Alex.

HILDA: Nun, Alex, was ist mit dem Theater?

ALEX: Dein Alter hat uns das Stück gezeigt.

Hilda: Machst du mit?

ALEX: Vielleicht.

HILDA: Macht’s dir keinen Spaß?

ALEX: Zuschauen, ja. Geht weg.

ANNI: Den kriegst du nicht.

HILDA: Meinst du?

Willi, Karl, Nelli hinzu.

WILLI: Ich bin nach wie vor für ’ne anständige Pyramide und nicht für die Faxerei. Schaut doch bloß in den Spiegel, seht ja aus wie die Wasserleichen! Da, der Karl – weinen möchte man – war mal so ’n Brocken, und jetzt weht ihm der Wind die Hosen vom Hintern.

KARL: Erlaub mal! Dreht sich herum, steckt sein Hemd straff in seine Hose.

Harry, der die Treppe heruntergekommen und die Gruppe beobachtet hat, springt hinzu, hält Karls Hände fest.

HARRY: Hände raus! Was machst du?

KARL dreht sich ruhig herum, er hat die Hände am Leibriemen, schaut Harry ruhig ins Gesicht: Was ich mache, Herr Jugendführer? Ich – schnallt den Riemen zwei Löcher enger – frühstücke.

Alle lachen.

HARRY: Scheinbar ja glänzende Stimmung? Gut! Alles mal herhören! Das mit dem Spielen wird jetzt ernst. Wer nicht zu dämlich ist, wird mitmachen.

NELLI eifrig: Ich.

HARRY: Hilda!

HILDA: Hier.

KARL NELLI zurückziehend: Dräng dich nicht vor!

NELLI gegen ihn: Wenn der eigne Bruder nicht hilft! Reißt sich los, rennt weinend die Treppe hinauf.

HARRY ihr nach: Nelli, kleines wildes Biest! Wohin? Nelli … Die Treppe hinauf.

Die Jungens und Mädels stehen zögernd da.

HILDA: Und welche Rolle wirst du spielen, Karl?

KARL: Den ebenso edlen wie blöden Offiziersburschen Katzmaschek.

Signal. – Einer nach dem andern tritt nach Schluss der Pause wieder zu seinem Platz am Laufband.

HILDA: Los, Jungens, Arbeit macht das Leben süß!

KARL im Gehen zu Willi: Wird also gespielt?

WILLI: Wenn ihr alle die Fahnenstange raussteckt! Aber ich weiß schon, was mancher sich dabei denkt. Hebt die Hand zum Hitlergruß. So tief steckt Deutschland im Dreck!

KARL: Wahnsinnig, Willi?

WILLI: Nee, aber kein Hasenschwanz. Tritt ans Laufband.

ALEX hat Karl von hinten zurückgezogen; leise: Nimm dich in acht, Karl!

KARL: Vor dem WILLI?

ALEX: Vor der Hilda!

KARL: Vor der Hilda?

ALEX: Still, Karl, du weißt, die war bei den Sportlern, aber jetzt als Hitlermädel spitzelt die mit ihrer hübschen Fratze um uns herum. Vorsicht, Karl!

KARL erregt: Alex, wenn ich dir sage …

ALEX: Aha, hat sie auch dich schon? Tritt ans Laufband.

Harry kommt mit Nelli die Treppe herab. Nelli tritt schnell auf ihren Platz ans Laufband, das Willi jetzt anstellt. – Arbeit im Tempo. – Harry am Kalkeimer und Sauerstoffapparat winkt Willi, der seinen Platz an Hilda abgibt und heraneilt.

HARRY zu Willi: Der Kalkeimer ist wieder leer; siehst du das nicht?

WILLI: Befehl.

HARRY geht mit ihm drei Stufen hinauf von rechts zum Treppenaufgang, der durch die Holzverschalung vom Arbeitssaal getrennt ist: Nun?

WILLI leise: Sind verdammt vorsichtig, die Jungens.

HARRY: Weil du bloß halbe Arbeit machst.

WILLI: Soll ich noch mehr Witze reißen und meckern? Gehen sie darauf ein? Sie mahnen mich, keine Dummheiten zu machen!

HARRY: Das heißt, sie vertrauen dir, und du merkst es nicht. – Du bist unbegabt, Willi.

WILLI: Vielleicht bin ich unbegabt, vielleicht … weil wir Schulkameraden waren, der Karl, der Alex und ich.

HARRY: Wenn du schlappmachst, Willi? Plötzlich. Hast du schlappgemacht?!

WILLI stramm: Nein, Scharführer.

HARRY lauernd: Willst du aussetzen, Willi?

WILLI erschrocken: Nein, Scharführer.

Stimmen von oben. – Harry und Willi wieder hinab in den Saal zum Laufband. – Von oben jetzt der Abteilungschef Direktor Ruckwit, Hauptmann d.R., und Wulle. Die Arbeit am Laufband geht auch während des folgenden Gesprächs weiter.

Ruckwit tritt ein.

HARRY meldend: Jugendgruppe B 12, nach der Frühstückspause.

WULLE: Diese Gruppe wird am Kameradschaftsabend bei dem Theaterstück mitwirken, Herr Hauptmann!

RUCKWIT leutselig: Recht so, Jungens! Wollt auch mal eure Freude haben, Kraft durch Freude, was?

HARRY: Jawohl, Herr Hauptmann.

RUCKWIT das Tempo am Laufband mit Befriedigung, beobachtend: Bravo, Jungens! Eure Arbeit scheint nicht schlecht; wollen sehen, wie ihr zu spielen versteht. Im Abgehen, während das Tempo am Laufband sich verschärft. Beides muss aus dem Herzen kommen, – zu Harry – aus dem Herzen! Verstanden?

HARRY: Befehl, Herr Hauptmann.

Auch wenn man es nicht glauben will, so scheint sich Geschichte in diesen Tagen fast zu wiederholen. Wieder tobt in Europa ein Krieg, und auch in anderen Regionen der Welt verschlechtert sich die Situation fast täglich. Die Hoffnung zieht sich zurück. Und die Welt scheint sich nicht mehr linksherum zu drehen, sondern immer weiter nach rechts zu driften. Die Menschen haben wieder Angst - Angst vor Krieg und Zerstörung. Und im Bundestag ist in einer aufgeheizten Debatte wieder von Kriegskrediten wie 1914 die Rede.

Auch wenn sich die heutige Situation in Deutschland, in Europa und in der Welt nicht zu 100 Prozent mit der Situation Anfang bis Mitte des vorigen Jahrhunderts vergleichen lässt, kann die in diesen Jahren entstandene Literatur Hinweise geben, was getan werden kann und was getan werden muss, um diese Gefahren zu bannen. Das bedeutet unter anderem, sich die Mechanismen der Vorbereitung und der Durchführung von Kriegen vor Augen zu führen und zugleich die Mechanismen der Vorbereitung und der Durchführung von Frieden dagegen zu setzen.

Was aber lässt sich gegen den Krieg tun? Zwei der Antworten, die unter anderem auch Friedrich Wolf in seinen Texten gibt, lauten Widerstand und Solidarität – letztere wurde zu früheren Zeiten ebenso politisch wie poetisch auch als „die Zärtlichkeit der Völker“ bezeichnet. Doch davon scheint aktuell nicht viel übrig geblieben zu sein. Die Atmosphäre wird immer nationalistischer und populistischer – und zwar weltweit.

Bleibt also zum einen die Frage, was haben die Menschen damals gegen Kriegsgefahr und Kriegsgefahr getan? Und es bleibt zum anderen die Frage, wie ist es gelungen, den damaligen Zweiten Weltkrieg, die schlimmste Katastrophe des 20. Jahrhunderts, wieder zu beenden und trotz des dem Heißen Krieg folgenden Kalten Krieg so lange Frieden zu bewahren? Zumindest in Europa.

Antworten auf die Friedensfrage sind nicht leicht zu finden – zumal auch die deutsche Rüstungsindustrie volle Auftragsbücher hat und derzeit verstärkt nach neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sucht. Und das Schaffen neuer Arbeitsplätze ist immer ein starkes Argument. Dennoch bleibt es die erste Pflicht, nach den dahinterstehenden Interessen und nach den möglichen Folgen zu fragen: Wer verdient eigentlich an der Wehrertüchtigung am meisten? Wie gefährlich ist es, immer wer Waffen anzuhäufen? Und wie könnte eine überzeugende Friedenstrategie aussehen? Antworten sind nicht leicht zu finden, aber dringend zu finden.

Bleiben Sie ansonsten dennoch weiter vor allem schön gesund und munter und der Welt der Bücher gewogen. Die Sonderangebote für den neuen Newsletter sind schon ausgewählt und werden gerade für den Versand vorbereitet – nur die Versandetiketten fehlen wohl noch, hören wir. Aber die Logistikabteilung ist dabei, das alles rechtzeitig zu regeln.

Zum Programm der nächsten Woche gehören auch zwei Bücher von Adam Scharrer (1889 bis 1948), welcher als einer der ersten „Arbeiterschriftsteller“ in Deutschland gilt. So wird sein 1930 in Berlin und Wien erschienenes Werk „Vaterlandslose Gesellen“ als proletarische Antwort auf Remarques „Im Westen nichts Neues“ angesehen, eine Abrechnung mit dem Wilhelminischen System und dem von diesem begonnenen imperialistischen Krieg.

Eines der beiden Bücher von Scharrer, das im nächsten Newsletter präsentiert wird, ist der ebenfalls erstmals 1930 in Berlin veröffentlichte Reisebericht eines Arbeiters „Aus der Art geschlagen“: Zwischen endlosen Feldern, stürmischen Nächten und dem ehrlichen, harten Alltag der Bauern und Hirten wird das Schicksal einer Familie gezeichnet - voller Liebe, Verlust, Aufbruch und schmerzlicher Erinnerungen. Adam Scharrer entführt den Leser in eine längst vergangene Welt, in der jedes Lachen, jeder Schlag und jede zähe Geste das Überleben sichern muss. Ein Buch, das den Geist vergangener Zeiten atmen lässt und gleichzeitig den modernen Leser mit seiner tiefen Emotionalität und authentischen Sprache berührt. „Aus der Art geschlagen“ ist eine faszinierende Zeitreise, die noch heute zum Nachdenken und Mitfühlen anregt.

Hier ein kurzer Blick auf den Anfang dieses beeindruckenden Buches:

Nebel sammelt sich schon über dem Weiher.  Die Rinderherde blökt in den Abend, drängt nach den Ställen. Der Hirt wartet auf seine Frau, die, hastig tappelnd, den Wiesenweg heraufkommt.

„Kommst halt gar so spät, Bärbel!“, begrüßt er sie. Nun, da sie vor ihm steht, erschöpft, so müde, klingt Teilnahme aus seiner Frage.

„Es fällt mir halt schon recht schwer, Franz. Ich hab den Schubkarren mit den Rüben bald net mehr heim'bracht.

Das Kreuz, das Bücken.“ Sie sagt das wie bedauernd, atmet schwer, setzt sich auf einen Baumstumpf, und fährt fort: „Ein Brief ist da, wegen der Stell'. Wir können hin. Jetzt kommt aber alles mit einem Mal zam.“

Franz schaut sie forschend an. „Ja, alles mit einem Mal“, sagt er dann. „Ein paar Wochen müsst' mer halt noch Zeit ham.“ Dann geht er, die Herde folgt ihm. Bärbel bleibt sitzen, lässt sie vorüber. Sie muss hinterhergehen, um Nachzügler, die auf Rüben- und Kleefeldern zurückbleiben möchten, anzutreiben. Sie schaut ihrem Mann nach. Sie weiß, er hat Sorgen.

Über Adam Scharrer, der vor 77 Jahren am 2. März 1948 auf tragische Weise in Schwerin an den Folgen eines Herzanfalls nach einem heftigen Streit während einer Kulturbund-Veranstaltung gestorben war, hat sein Freund und bayerischer Schriftstellerkollege Oskar Maria Graf einmal gesagt:

„Seine Bücher kannte ich aus Deutschland und aus der Emigration. Ich schätzte ihn sehr. Er war ein unschematischer, eigener Mensch. Was er schrieb, war sehr unterschiedlich, aber stets echt. Besonders liebte ich aber Adam, weil er mürrisch war. Ein mürrischer, raunzerischer Mensch ist unterhaltlich. Er wird zur reinen, ungeschwächten Lustbarkeit, wenn man es versteht, ihn immer mehr in Rage zu bringen.“ Lassen Sie sich in Rage bringen …

DDR-Autoren: Newsletter 21.03.2025 - Aufregung im Föhrenwald, Hoffnung auf eine gerechtere Welt und Widerstand