Poesiealbum 331, eine Fahrt von Ost nach West und zurück sowie Einblicke in eine Revolution - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 15.08.08. 2025) Wer inzwischen Gefallen an den bisher vorgestellten Büchern des Leipziger Schriftstellers Reinhard Bernhof gefunden hate, der darf sich heute auf drei weitere Texte dieses Autors freuen, die zu den insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangeboten dieses Newsletters gehören, die sieben Tage lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 15.08. 2025 bis Freitag, 22.08. 2025) zu haben sind.
2017 gab der Märkische Verlag Wilhelmshorst das Poesiealbum 331 Reinhard Bernhof heraus. Damit legte der Autor ein lyrisches Mosaik vor, das mit eindringlicher Sprachkraft und bildhafter Präzision die Brüche und Schönheiten unserer Zeit beleuchtet. In seinen Gedichten mischen sich politische Wachsamkeit, persönliche Erfahrung und ein fein austariertes Gespür für gesellschaftliche Stimmungen. Bernhof nimmt uns mit auf Eisenbahnfahrten durch Klassenräume, ins Herz von Gohlis, nach Guernica, ins Schweigen von Tschernobyl oder an die Ufer von Mississippi und Mulde. Seine Verse sind Erkundungen des Ichs und der Welt - immer tastend, beobachtend, reflektierend. Ein poetisches Dokument, das nicht nur Leserinnen und Leser mit Sinn für Lyrik, sondern auch Zeitzeugen und Denkende tief berühren wird. Hier ein Beispiel:
Pyrenäen
Warm schlängelt ein Teerrücken hinauf
Zwischendurch befreien sich blank
geputzte Felszähne vom Tuch des
Nebels
Die ruhig trottenden großäugigen Sonnenrinder
weithin verstreut
Ich fahre, fahre, meine Fahne ist weiß
sie spannt sich übern ganzen Himmel
(ein Don Quijote ich?)
denn gleich einem
Quecksilberschimmer ist meine Seele
Ich fahre, fahre, die Reifenmäntel
meines Drahttieres drücken
narbige Gravierungen
ins teerige Band
staubgepfeffert die Augen
der zähe Druck auf den Schläfen
in der zikadentollen Mittagshitze
Diese Fenster dort unten, wie sie
nachdenklich heraufschauen
die alte Ölmühle langweilig herumhockt,
Zypressen, friedhofsernst
schwarze Flammen im Tal, knorrige
Bäume am Wegrand knien
Wie weit ich entrückt bin dem Lied des
Hirten, nahe dem Zuruf des Donners
und fallendem Geschoss des Adlers
Granitene Leere, wie klein der Mensch,
doch spaltete er einst
die Felsen und klebte Asphalt für einen
Weg hinein
Bald werd ich sie besiegen
mit meinem schnellen Pferd
das Don Quijote entmutigt
Hinter Wäldern, Hainen eine kleine
Stadt: hell ihre Häuser,
fremdfrüchtig
ihre Zweige
zwischen denen das Meer leuchtet
wie der Leib des Fischs
Erstmals 2003 war im
projekte Verlag Halle der Band mit Erzählungen Interzonenzug I &
II
erschienen. INTERZONENZUG, dieses Wort wurde noch weit in die Siebzigerjahre im
Munde geführt und war für viele Menschen in beiden deutschen Staaten wie ein
Band, das Familien zusammenhielt. In einer längeren Reportage beschreibt der
Autor eine Fahrt von Ost nach West und zurück unter den
Erstmals 2006 veröffentlichte der Plöttner Verlag Leipzig von Reinhard Bernhof das Buch Herbstmarathon. Innenräume einer Revolution, wozu der Autor ausdrücklich anmerkt: Dieses Buch ist unabhängig von einer Stiftung, ohne Förderung geschrieben worden. Deswegen danke ich Ulla, Inka und Benjamin für ihre Unterstützung, Geduld und Nachsicht.
Und immer wieder, wie jedes Buch, in Gedenken an Tim.
In Herbstmarathon erzählt Reinhard vom Umbruch 1989, der in Leipzig seinen Anfang nahm. Seine Texte leben überwiegend von der persönlichen Teilnahme an den Aktivitäten vor und in der Bürgerbewegung, in einer Zeit realer Gefahr, als die sich überstürzende Entwicklung noch keine Richtungen erkennbar werden ließ: Angst, Staunen, Mitgerissensein bis zum Mitdenken und Handeln.
Sie beginnen bei den noch voreinander verborgenen ersten Schritten von Leipzigern, die in geheimgehaltenen Wohnungen erregt Veränderungen einforderten - und sie führen Schritt für Schritt zur Begegnung mit dem eigenen Bedürfnis nach Freiheit und dem entfremdeten Mit-Bürger.
Bei allen Texten handelt es sich nicht um eine politikferne, nur beobachtende Autorensicht, sondern um die ganzzeitliche Teilnahme an gesellschaftlich chancenreichen Vorgängen, trotz der Ahnung auch des möglichen Scheiterns oder zumindest ungenügenden Wandels der Gesellschaft und aller ihrer Bürger.
Außerdem präsentiert der heutige Newsletter ein Buch von Gisela Heller. Erstmals 1986 war im Verlag der Nation Berlin Neuer Märkischer Bilderbogen. Reporterin zwischen Havel und Oder erschienen, der Reportagen enthält, die zwischen Januar 1983 und Juni 1985 entstanden sind.
Wie in ihren erfolgreichen Büchern Märkischer Bilderbogen und Potsdamer Geschichten erzählt Gisela Heller auch hier über Land und Leute ihrer unmittelbaren Heimat. Sie war abseits der Touristenstraßen zwischen Havelland und Oderbruch, Fläming, Barnim und Prignitz unterwegs und fand allenthalben den Satz des märkischen Wanderers Fontane bestätigt: Das Beste aber, dem Du begegnen wirst, das werden die Menschen sein ... In 22 Reportagen erfahren wir Interessantes über Zeitgenossen und über Menschen vergangener Jahrhunderte: alten Adelsgeschlechtern, Militärs, Hofbeamten, Künstlern und namenlosen kleinen Leuten. Spuren ihres Daseins und Wirkens, die dem Auge des Durchreisenden allzu leicht entgehen, hat Gisela Heller für uns entdeckt und aufgeschrieben.
Neben den alten Namen stehen die von Genossenschaftsbauern, Arbeitern, Wissenschaftlern, die in den letzten vierzig Jahren das Gesicht dieser Landschaft prägen halfen. Ihre Schicksale sind beredtes Zeugnis, wie sich das Leben in diesem einst rückständigen Landstrich gewandelt hat. Die Probleme der Vorväter sind längst gelöst, neue dafür entstanden. Sie werden die Menschen dieser Gegend weiter herausfordern, aber nicht mehr ihre Existenz bedrohen wie noch zu Zeiten der Bredows und Kähnes. Wie schon gesagt, war dieses Buch erstmals 1986 erschienen, also drei Jahre vor der Wende
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute geht es um Kriegsbegeisterung und sichere Distanz zu dem grausamen Geschehen auf den Schlachtfeldern
Aus dem Jahre 1942 stammt die Erzählung Der Fähnchenstecker von Friedrich Wolf. Dieser Text führt uns zurück in eine Zeit, in der der Krieg nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern auch an den heimischen Schreibtischen ausgetragen wurde. Die Heimkrieger des Ersten Weltkriegs - Lehrer, Professoren und ältere Verwandte - verfolgten die Kriegsfront mit ihren Stecknadeln auf der Landkarte und gaben dabei ungefragt militärische Ratschläge.
Friedrich Wolf entlarvt in dieser bitteren Satire die Widersprüchlichkeit und Grausamkeit des Kriegsenthusiasmus, der auch im Zweiten Weltkrieg weiterlebte. Dieser Text ist eine scharfe Abrechnung mit jenen, die Kriege aus sicherer Distanz verfolgen und anfeuern, ohne selbst das Blutvergießen erleben zu müssen. Ein aufrüttelndes Zeitdokument, das in unserer heutigen Zeit erschreckend aktuell bleibt.
In dieser Leseprobe aus Interzonenzug I & II begegnen wir Karen, deren neues Leben im Hochhaus von den Schatten ihrer Vergangenheit überschattet wird. Zwischen der Erinnerung an beengte Wohnverhältnisse und der kühlen Anonymität des Neubauviertels entfaltet sich ein stilles Drama um Nähe, Entfremdung und innere Erstarrung ein eindringlicher Blick in die privaten Folgen gesellschaftlicher Umbrüche.
Karen war erst vor wenigen Monaten ins Neubauviertel gezogen. Über zehn Jahre hatte sie zusammen mit ihrem Mann auf eine Wohnung gewartet. Sie lebten vorher in Teilhauptmiete: zwei kleine Zimmer, neun und vierzehn Quadratmeter. Küche, Bad und Toilette benutzten sie zusammen mit einer sich sehr vornehm gebenden alten Dame, Fräulein Bethge, der sich Karen im gelegentlichen Rededuell in der Küche stets unterlegen fühlte. In den ersten Monaten, als Karen noch unverheiratet war und ihr Mann aus dem Westen jeweils zur Frühjahrs- und Herbstmesse kam und bei ihr nächtigte, klopfte Fräulein Bethge jedes Mal wie eine Wirtin gegen zweiundzwanzig Uhr an die Tür und bat um Ruhe, wenngleich nur leise Musik, kaum hörbar, durch die Ritzen sickerte. Karen ließ sich nicht beeindrucken, bis schließlich ihr Mann zu ihr zog. Fräulein Bethge zeigte sich aufgeregt, verstört, drohte Maßnahmen an, wollte dem Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei Bescheid geben, verlangte die Zuzugsgenehmigung des Mannes, da doch die Stadt für Neuzugänge, wie es hieß, gesperrt sei; auch wenn er bereits seit längerem hier seiner Arbeit nachging. Kurzum, Fräulein Bethge mischte sich ein, wo immer sie konnte, bestand sogar auf einen extra Stromzähler für die jungen Leute und äußerte sich bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit abfällig über alle, die Kinder in die Welt setzten angesichts der Atombombe. Wer verstand nicht diesen Wink mit dem Zaunpfahl
Das schmale und kleinere der beiden Zimmer wurde von Karen und ihrem Mann als Schlafzimmer genutzt durch Ausklappen einer Doppelbettcouch und es lag neben dem Schlafzimmer von Fräulein Bethge, das wie das eines Ehepaares von früher eingerichtet war: mit Doppelbett, Nachtschränkchen links und rechts, Toilettenspiegel, auf dem ein lilafarbener Parfümflakon stand, als wartete sie noch immer auf einen Gatten. Vom Schlafzimmer aus gelangte sie durch eine jugendstilverzierte Flügeltür in ihr großes Wohnzimmer mit Erker, dessen zweite Tür zum Korridor führte und nur bei Besuch aufgeschlossen wurde. Sie nannte es ironisch Salon, wenn der ehemalige Gewandhaus-Posaunist, Kammervirtuose Lüdemann, alle vierzehn Tage zum Skatnachmittag kam, an dem auch Frau von Österreicher, die jedes Mal einen anderen, penetrant nach Mottenpulver riechenden Hut aufhatte, mit wellig gebogener Krempe (so etwas mochte in der Hindenburg-Zeit modern gewesen sein), sowie die pergamenthäutige Frau Feuerriegel, die atemlos das Neueste immer schon im Korridor verriet, teilnahmen. Legen Sie bitte ab und treten Sie ein, sagte dann Fräulein Bethge jedes Mal stereotyp. Wenn alle vollzählig waren, vorausgesetzt, es war nicht Hochsommer, hing an dem Garderobenständer immer ein altdeutscher Knotenstock vor einem grauen, mit Samt abgepaspelten Mantel neben dem schwarzen Persianer von Frau von Österreicher und dem grünen Loden mit Fuchsbalg von Frau Feuerriegel, der mit erstarrtem und dennoch melancholischem Blick auf den gebohnerten Linoleumboden des Korridors sah. Und wie oft hatte Fräulein Bethge vor Karen bei gelegentlicher Konversation in der Küche betont, dass sie schon bessere Zeiten, Friedenszeiten, wie sie diese immer nannte, gekannt hatte. Aber manchmal, wenn Fräulein Bethge in ihrer Konversation so richtig in Fahrt gekommen war, verlor sie ihre Vornehmheit und bekam mitunter hypochondrische Anwandlungen, da teilte sie jedem, mit dem sie sprach, ihre Schmerzen mit, die überall in ihrem Körper, vom Fußspann bis zur Stirn, herumzuwandern schienen; dabei verrenkte sie sich wie eine Gymnastikerin, zeigte mal auf ihr Knie, das sie winklig anzog, fuhr mit den Händen zu den Waden hinunter, drehte den Kopf in diese oder jene Richtung, umklammerte mit der Gelenkigkeit eines Schimpansen ihren Rücken und starrte mit verdrehtem Kopf so schräg nach oben, dass sich Karen vor dem grässlichen Zinkblick, als würde er sie hypnotisieren, erschrak. Fräulein Bethge besuchte schon seit Jahren die Polikliniken, wie sie sagte, ohne von den Ärzten jemals eine genaue Diagnose ihrer Krankheiten erfahren zu haben. Die Mediziner waren für sie, bis auf einen Professor, den sie ständig als Privatpatientin besuchte, allesamt Weihnachtsmänner oder Sanitäter mit Marxismus-Leninismus-Ausbildung, die einen Herzinfarkt von einer Darmverschlingung nicht unterscheiden könnten. Fräulein Bethge lebte schon seit über vierzig Jahren in dieser Wohnung und fühlte sich wie eine Hauptmieterin, wenngleich in Karens Mietvertrag die Teilhauptmiete als Abgrenzung gegenüber des bourgeoisen Relikts Untermiete besonders hervorgehoben wurde.
Einmal, als Karen beim Aufwasch in der Küche etwas danebengespritzt und nicht gleich aufgewischt hatte, sprang Fräulein Bethge, die sich gerade das Abendbrot zurechtmachte, um es pünktlich auf die Minute sich selbst im großen Erkerzimmer zu servieren, sofort nach dem Wischlappen, der wie immer akkurat über den Abfalleimer gespannt war, und wischte demonstrativ auf. Ähnliche Situationen häuften sich, so dass Karen jedes Mal, wenn Fräulein Bethge in die Küche kam und scheppernd zu hantieren begann, sofort die Flucht ergriff. Danach gab sich Karen kurz angebunden. Fräulein Bethge dagegen verstand es immer wieder, das Gespräch in Gang zu bringen. So erzählte sie wiederholt mit näselnder Stimme, da wieder eine dieser seltsamen Krankheiten in ihr laichte und sie die ganze Nacht nicht schlafen konnte, dass sie des Öfteren merkwürdige Geräusche höre Karen wurde verlegen, dachte nach, ob ihre Doppelbettcouch wohl unmissverständliche Töne von sich gab. Aber das hatte sie mit ihrem Mann bedacht, die Couch war verschwiegen. Vielleicht kamen die Geräusche von oben; über ihr wohnte Lokheizer Kowalski, ein vitaler Mann mit anthrazitfarbenem Blick. Sogleich verwarf sie jedoch ihre unausgesprochene Verdächtigung und fragte sich, ob es wohl wieder nur eine der üblichen Spitzen war, die Fräulein Bethge ohne Unterlass parat hatte, denen sie aber nicht Paroli bieten konnte. Karen war wehrlos und innerlich viel zu aufgeregt und das wusste Fräulein Bethge, ihre scheinbare Überlegenheit genießend. Seit jenem Tag dachte Karen immer wieder, wenn sie abends im Bett lag und ihr Mann sich um sie bemühte, an ihre ehemalige Wand-an-Wand-Nachbarin, als wäre sie noch immer wie ein Wachhund mit überdimensionalen Ohren präsent. Diese Vorstellung steigerte sich in Karen von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, und sie war zur Liebe kaum noch fähig. Ihr Mann aber brannte und konnte sich verströmen wie je. Bald empfand sie die Spiele, obwohl sie ihren Mann liebte, als lästig und unerträglich, und sie widerstand seinen fleischlichen Einfällen.
Überall im Neubauviertel waren noch Berge von Bausand zu sehen; lädierte und zerbrochene Gasbetonsteine lagen zwischen kalkbespritzten Brennnesseln herum, Schienenteile, auf denen der Kran gefahren war, Zementplatten, Rohrstücke, Teertonnen, Kabelrollen; nur ein schmaler, festgetretener Kiespfad führte zum Punkthochhaus und von dort, sich mehrfach verzweigend, in die blau-weiße mit Plastikteilen verkleidete Konsum-Kaufhalle. Weit und breit kein Baum, kein Strauch, nur die kühle Mathematik aus Beton und Glas. Sicher würde in einigen Jahren alles ganz anders aussehen, trösteten sich die Leute. Sie freuten sich über ihre Neubauwohnung, denn die meisten von ihnen hatten genauso wie Karen in Teilhauptmieten und schlechten Wohnverhältnissen gelebt. Doch Zufriedenheit wollte sich in ihr nicht so recht ausbreiten, seitdem sie im vierzehnten Stockwerk eines Punkthochhauses wohnte. Zwar brauchte sie sich nicht mehr über Fräulein Bethge zu ärgern, jener Ärger, der fast elf Jahre in ihr genagt hatte, aber sie sehnte sich des Öfteren wieder nach ihrem alten Viertel zurück, in dem zwar stetig der Putz bröckelte und die roten oder gelben Ziegelsteine der Wände hervortraten, an die Häuser der Gründerzeit und an die mit reichlicher Jugendstilornamentik verzierten, auch wenn die Flure inzwischen, von Salpeter zerfressen, modrig und nach defekten Klosettrohren rochen, besonders bei Witterungsumschlag, da war ihr immer der Geruch nach sauer gewordener Kohlsuppe in die Nase gestiegen. Aber in diesen Häusern, in denen sie einen Teil ihres Lebens verbracht hatte, war ihr alles so vertraut gewesen. Sie sehnte sich nach den freundlichen alten Leuten zurück, die fleißig ihre Messingschilder mit Elsterglanz polierten, besonders dann, wenn Schritte im Hausflur zu hören waren, da trat manchmal jemand vor die Tür, um während des Polierens einen Plausch anzufangen. Sie sehnte sich nach den Schuppen und Werkstätten im Hinterhof zurück, nach den Polsterern, die ihr manchmal beim Wäscheaufhängen etwas Neckisches zuriefen. Sie sehnte sich nach dem Lärm der Kinder und dem Gezwitscher der Spatzen und Krähen zurück, die auf hoch aufgeschossenen, bis über die Häusergiebel ragenden Birnbäumen saßen Wenn sie lange genug ihren Erinnerungen nachgegangen war, drängte sich zugleich Fräulein Bethge ins Bewusstsein, die vielen Kränkungen, die Karen über sich hatte ergehen lassen und nur diese Vorstellung vermochte sie mit dem Hochhaus zu versöhnen. Doch abends oder nachts, wenn die Hände ihres Mannes über ihre Brüste strichen und langsam, mit Verzögerung, bis ans Schamhaar hinunterfuhren, war in ihr wieder Fräulein Bethge gegenwärtig, als würde sie noch immer hinter der Wand existieren, und Karen kam sich ausgetrocknet und wie zugeschraubt vor. Trotzdem ließ sie ihren Mann über sich gleiten. Sie wusste, dass er es brauchte, einmal am Tag das Vergnügen des Fleisches. Zu einer echten Lust dagegen war es schon lange nicht mehr gekommen. Immer waren in Karens Vorstellungen Fräulein Bethges überdimensionalen Ohren im Spiel, wenngleich sie unlängst trotz Fürsorge ihres Professors den Weg allen Fleisches gegangen war. Die Anzeige hatte sich Karen extra aus der Zeitung ausgeschnitten. Sie brach in Tränen aus, ihr Mann wurde missmutig und zornig, er schüttelte sie, riet ihr, einen Arzt aufzusuchen, versuchte es besonders zärtlich. Sie spürte kaum noch die treibende Kraft seines Rückgrates, den Schwung seiner Hüften und sein Glied bereitete ihr Schmerzen. Sie stieß ihn von sich und sagte: Ich kann nicht, mir tut alles weh.
Du bist wie ein Stück Eis mit einem Spalt darin, mehr nicht, sagte er. Das habe ich schon lange gewusst
War es wirklich Fräulein Bethge, die hinter der Schlafzimmerwand zu lauern schien? fragte sich Karen. War es die ungewohnte Umgebung im Punkthochhaus mit seiner aseptischen Glätte das Wohnen im vierzehnten Stockwerk? Oder waren es vielmehr nur die üblichen Abnutzungserscheinungen einer Ehe? Und sie ahnte, dass in ihr langsam etwas zu erstarren begann; aber nun hatte ihr Mann die Metapher ausgesprochen: Eis. Da reihte sich eine Kette von Worten aneinander: frigid, kälter denn kalt, eisig, arktisch, antarktisch, und vor ihr türmten sich himmelhohe Wände aus Eis. Sie sprang auf und rannte ins Badezimmer. Im Spiegel sah sie auf ein bestimmtes Schläfenhärchen, das schon ergraut war. Mit einer Pinzette zog sie es heraus. Lange sah sie sich an, prüfte Wangen und Nase und wischte einige Hautpartikelchen ab. Als sie zurückkam, lag er noch immer nackt quer über der Doppelbettcouch und starrte auf ihr Negligé. Er stand auf, küsste sie heftig, bog sie über das Bett, als wollte er sie vergewaltigen. Aber sie wehrte ab, schlug ihn ins Gesicht und weinte, bis er losließ.
In dieser Leseprobe aus Neuer Märkischer Bilderbogen. Reporterin zwischen Havel und Oder begegnen wir dem jungen Gerhart Hauptmann in Erkner noch weit entfernt vom Ruhm, doch bereits auf dem Weg zu sich selbst. Mit feinem Gespür für historische Details und menschliche Eigenheiten zeichnet die Reportage ein lebendiges Bild der märkischen Landschaft, ihrer Bewohner und des Lebensgefühls einer Epoche im Umbruch.
Wenn sich Rüdersdorf ein Seebad zulegte, so hätte sich die aus der Streusiedlung des ersten Heidedistrikts hervorgegangene Gemeinde Erkner mit weitaus größerer Berechtigung wenigstens Luftkurort nennen können. Aber Gemeindevorsteher Catholy war nicht dafür. Er war fürs Solide, fürs Althergebrachte, für Kaiser Wilhelm und Bismarck und den neuen Amtsvorsteher Busse, der so großen Wert darauf legte, mit Herr von Busse angeredet zu werden, denn Amtsvorsteher konnte schon jeder Bürgerliche werden.
Als im Jahre 1882 die Berliner Dampfvorortbahn bis Erkner verlängert wurde, nahm der sonntägliche Ausflugsverkehr derartige Formen an, dass wie Catholy grimmig zu bemerken pflegte die Vögel im Walde vor Schreck verstummten.
In der Woche waren die Heidebewohner wieder unter sich. Der Milchmann quälte sich mit seinem Wägelchen durch den Sand Straßen waren zwar schon geplant, aber noch lange nicht gepflastert und die Imker saßen vor dem Haus, gemächlich nach den Bienen blinzelnd. Einzige Abwechslung boten die wenigen Sommergäste, die für längere Zeit Quartier bezogen hatten.
Ein paar findige Handwerksmeister der Gegend, die durch Glück und verbissenen Fleiß zu Geld gekommen waren, hatten hier draußen, weit vor den Toren der größer und größer werdenden Stadt, wohlfeile Landhäuser errichtet, die sie an gut situierte Sommergäste vermieteten. Nikolaus Lassen war so einer. Seine Villa trug noch den Stempel der Schinkelschule, was gewiss nicht auf Kosten seines eigenen Geschmacks ging.
Die Hausbesitzerfamilie richtete sich mit zwei weiteren Mietparteien in den oberen sechs Räumen ein, während die Beletage für sehnsüchtig erwartete Sommergäste frei blieb. Herr Lassen näherte sich den Mietwilligen stets mit äußerster Zuvorkommenheit und Devotion bis er den Mietvertrag in der Tasche hatte.
Gemeindevorsteher Catholy kannte seine Pappenheimer, er wusste alles, und das Gefühl, Macht zu haben über andere, auch wenn es sich nur um tausendfünfhundert Seelen eines armen Heidedistrikts handelte, versöhnte ihn mit der verhassten Tintenkleckserei. Eines Tages betrat ein schmächtiger junger Mann die Amtsstube, um sich und seine Frau für vier Jahre ins Einwohnerregister einzutragen; er habe die untere Etage der Villa Lassen gemietet. Der Mann hinter der Barriere spürte so etwas wie Mitleid. Dieser Jüngling mit den edlen Zügen, der so bleich aussah wie der Tod und der seine junge Frau wohl bald zur Witwe machen würde, sollte dem rüden Hauswirt gewachsen sein?
Andererseits, je mehr Fragen der Gemeindevorsteher stellte rein routinemäßig natürlich , desto größere Zweifel kamen ihm. Warum gab der Fremde einmal als Beruf Bildhauer an und dann wieder Rentier? Und warum räumte er ein, während der vier Jahre sicher des Öfteren für längere Zeit abwesend zu sein? So sehr war Catholys Spürnase beschäftigt, dass er die einfachsten Dinge durcheinanderbrachte. Außer dem Eintragungsdatum, dem 20. September 1885, stimmte fast nichts. Aus dem Geburtsort Salzbrunn, Kreis Waldenburg in Schlesien, wurde Zalzbrunn, Kreis Waldau in Schlisien; den Vornamen Gerhart verwandelte er in Gebhard nur der Familienname war korrekt: Hauptmann.
Als noch unbekannter Dichter war er nach Erkner gekommen, vier Jahre später galt er als Haupt der deutschen Naturalisten. Er hat Erkner berühmt gemacht und einige seiner Zeitgenossen unsterblich blamiert. Doch das steht auf einem anderen Blatt.
Nach amtlichen preußischen Maßstäben gemessen war der junge Hauptmann ein Versager. Sein Großvater, ja, der war aus anderem Holz gewesen, der hatte sich vom armen schlesischen Weber zum Gastwirt und Hotelbesitzer emporgearbeitet gewissermaßen eine kleine schlesische Rockefellerstory! Und der Vater hatte das Erreichte ausbauen können, indem er die liebenswürdige, aber glanzlose Tochter des fürstlichen Brunneninspektors heiratete, der den einträglichen Badebetrieb verwaltete.
Sohn Gerhart, das jüngste von vier Kindern, war mit seinen blonden Locken und den niedlichen Grübchen der Liebling der noblen Hotelgäste, vornehmlich der sentimentalen russischen und polnischen Adligen.
Eine seiner frühesten Erinnerungen: Er ist dem Kindermädchen ausgerissen und rauft auf einer Wiese wonnetrunken die zierlichen Blüten des Wiesenschaumkrautes, türmt sie zu schneeigen Hügeln. Er will ihre Schönheit besitzen, er ganz allein; und muss weinend erkennen, dass er sie totgemacht hat.
Gerhart war ein Kind der Natur, nahm sie mit allen Sinnen und durch alle Poren auf; die Schule hingegen mit ihrem eingebläuten Buchstabenkram war ihm ein Gräuel. Natur bedeutete ihm mehr als Wiese und Wald, Berg und Tal, Natur schloss den Menschen ein, und zwar alle Menschen, die vornehmen, eleganten aus der Hotelhalle und dem Kurtheater, die immer nach feiner Seife dufteten, und die anderen, die hinten auf dem Hof in der Kutscherstube tranken, fluchten und stinkenden Knaster rauchten, oder die Bergleute und Gaswerkarbeiter, die stumpf und schweigend in Kolonnen täglich vorüberzogen.
Die Gymnasiastenzeit übersteht er mit Ach und Krach, geht, nachdem er sich in Oberquarta zweieinhalb Jahre aufgehalten, vorzeit ab, um bei Verwandten auf dem Gut als Eleve die Landwirtschaft zu erlernen, wird lungenkrank, bereitet sich privat aufs Einjährige vor, fällt durchs Examen, schließt sich einer jugendlich-verworrenen Gruppe an, die pangermanistischen und sozialreformistischen Utopien anhängt, versucht sich in entsprechenden dichterischen Gesängen, erlebt die berühmte Theatergruppe unter dem Herzog von Meiningen und will Schauspieler werden, nein, doch lieber Bildhauer. Er besucht die Kunst- und Gewerbeschule, kann tatsächlich mit dem Einjährigen abschließen, muss sich die letzte Strecke des Weges buchstäblich durchhungern, denn das elterliche Hotel ist unter den Hammer gekommen, die monatlichen Wechsel bleiben aus. Da springt Marie, seine Verlobte, ein, und er kann weiterstudieren: Philosophie, Vererbungslehre bei Haeckel in Jena, Kunstgeschichte; nicht lange und immer im Schlepptau seines älteren, erfolggewohnten Bruders Carl, der den Einundzwanzigjährigen auch auf eine Mittelmeerreise mitnimmt.
GenuaCapriRom er ist überwältigt, versucht seine Gedanken und Gefühle in Gesänge zu fassen. Vielleicht sollte er überhaupt Dichter werden? Nein, doch lieber Bildhauer. Hauptmann mietet in Rom ein Atelier, beginnt sofort mit der Kolossalstatue eines germanischen Kriegers, verarbeitet wie besessen mehrere Zentner Ton, ohne die Gesetze der Statik zu beachten. In der zehnten Woche bricht der kolossale Krieger zusammen und mit ihm sein ehrgeiziger Schöpfer. Er erkrankt an Typhus und schwebt lange zwischen Leben und Tod. Marie kommt, um ihn gesund zu pflegen, sie bezahlt auch sein weiteres Studium in Berlin und den Schauspielunterricht bei Alexander Heßler, den er später als Theaterdirektor Hassenreuther in dem Drama Die Ratten berühmt machen wird. Aber noch ist er ein Nichts, eine Schaumkrone auf den wilden Wogen der Großstadt, und er treibt es mit seiner empfindlichen Gesundheit so toll, dass ein Arzt ihm lakonisch sagt: Wenn Sie ein halbes Jahr so weitermachen, sind Sie nicht mehr ein junger, sondern ein toter Mann! Was tut ein sinnenfreudiger und lebenshungriger Mann angesichts solcher Aussichten? Er geht in sich und heiratet.
So kam Gerhart Hauptmann als junger, sterbenskranker Mann nach Erkner. Die Beletage der Villa Lassen konnte er nur mieten, weil seine Frau Marie, Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns, ein ansehnliches Vermögen in die Ehe eingebracht hatte.
Was Erkner für die beiden Jungvermählten damals bedeutete, hat Hauptmann Jahrzehnte später im Abenteuer meiner Jugend beschrieben: Diesem Wechsel des Wohnorts, heißt es da, verdanke ich nicht nur, dass ich mein Wesen bis zu seinen reifen Geistesleistungen entwickeln konnte, sondern dass ich überhaupt noch am Leben bin. Nicht nur meine ersten Geisteskinder, sondern auch drei von meinen vier Söhnen sind in Erkner geboren Unser Leben war schön. Natur und Boden wirkten fruchtbar belebend auf uns. Wir waren entlegene Kolonisten.
Die märkische Erde nahm uns an, der märkische Kiefernforst nahm uns auf. Es war im Herbst, als wir unsere abgelegene Villa bezogen und einrichteten. Die Monotonie des Winters stand vor der Tür. Zu unserer Sicherheit hatte ich in einer Hamburger Menagerie zwei echte lappische Schlittenhunde gekauft die einigermaßen im Zaum zu halten mir viel Mühe gekostet hat; Schlaf- und Wohnräume lagen im Parterre; der Schutz dieser beiden Wölfe wurde notwendig.
So war ich instinktgemäß zur Natur zurückgekehrt. Mary liebte wie ich das Landleben. Einsamkeiten und Verlassenheiten schreckten uns nicht.
Mit scharfem Blick für Ironie und Zeitgeist vergleicht Friedrich Wolf in seiner Erzählung Der Fähnchenstecker die Fähnchenstecker des Ersten Weltkriegs mit den selbsternannten Strategen des Zweiten. Ausgehend von den Karten über heimischen Schreibtischen führt der Text mitten hinein in die Denkweisen, Stammtischparolen und Briefe jener, die den Krieg aus sicherer Entfernung kommentieren ein Stück literarischer Zeitkritik mit bissigem Humor.
Im ersten Weltkrieg waren eine besonders beliebte Gattung der Heimkrieger die sogenannten Fähnchenstecker. Das waren unsere Oberlehrer, Professoren und älteren Onkels, die über ihrem Schreibtisch eine riesige Karte der Westfront angeheftet hatten, worauf mit Dutzenden Fähnchen die deutschen und die englischfranzösischen Stellungen markiert wurden. Jeden Morgen beim Heeresbericht waren sie ganz wild darauf, die Fähnchen umzustecken. Wenn wir auf Urlaub kamen, so fragten sie uns vorwurfsvoll, weshalb wir denn Verdun, Arras und Ypern immer noch nicht eingenommen hätten, sie gaben uns Ratschläge, wie wir es besser zu machen hätten, sie rüsteten Expeditionskorps nach Amerika aus und entfesselten einen Kreuzerkrieg am Kap der Guten Hoffnung. In der Nachkriegszeit bildeten sie die Stammgarde für die These des Dolchstoßes; sie behaupteten, dass Deutschland, wenn man es hätte siegen lassen, den Krieg unbedingt gewonnen hätte.
An diese Fähnchenstecker des ersten Weltkrieges muss ich denken, wenn ich heute manche Briefe lese, die bei den gefallenen Soldaten der Hitlerarmee gefunden wurden. Nur dass die heutigen Heimkrieger und Stammtischstrategen noch um viele Grade anspruchsvoller, allwissender und rabiater sind.
Da schreibt der Onkel Otto Brück aus Siegen, Westfalen, Stöckerstraße 2, an seinen Neffen, den Obergefreiten Fritz Brück, Feldpost 07 437 C:
Um noch ein wenig mehr Lust auf die Texte von Reinhard Bernhof zu machen, soll an dieser Stelle noch ein etwas längerer Auszug aus seinem Buch Herbstmarathon. Innenräume einer Revolution stehen, welcher Geschehnisse vom Ende des Jahres 1989 und von 1977 schildert. Darin geht es unter anderem um die erste öffentliche Großkundgebung des Neuen Forums in Leipzig, um eine Einladung an Erich Loest sowie um den lesenswerten Ruman Collin von Stefan Heym und um einen Traum, der Wirklichkeit geworden sei eben jeden erste öffentliche Großkundgebung des Neuen Forum am 18. November 1989 in Leipzig.
WACKERER MUSTANG, SÄCHSELND
(Dezember 1989)
Bei einem vorangegangenen Koordinierungstreffen des Neuen Forums ging es darum, Erich Loest für die erste öffentliche Großkundgebung am 18. November nach Leipzig einzuladen. Ich schrieb Loest, da ich, bevor er ins Ausland ging, mit ihm befreundet war. Loest wohnte seit seiner Ausreise 1981 in Brühl bei Bonn; Ingeborg Schröder, die Frau von Ralf Schröder, dem bekanntesten Slawisten der DDR, der ebenfalls mit Loest in Bautzen II gewesen war, hatte seine Adresse. Von 1977 bis zu seinem Weggang hatten wir uns mit einigen Kollegen des Öfteren bei dem Schriftstellerehepaar Helga und Wilhelm Strube in Naunhof getroffen, aber auch bei Loest zu Hause oder bei mir. Strube hatte unter anderem die Geschichte der Chemie geschrieben und besuchte des Öfteren seinen Freund Robert Havemann in Grünheide bei Berlin. Damals waren die unerträglichen politischen Verhältnisse in der DDR der Hauptdiskussionsstoff gewesen, insbesondere der Ausschluss Berliner Schriftsteller aus dem Verband. Sie hatten sich in einem Brief an Erich Honecker gegen eine Bestrafung von Stefan Heym ausgesprochen, der seinen Roman Collin ohne Genehmigung des Büros für Urheberrechte bei Bertelsmann veröffentlicht hatte. Daraufhin wurde er mit einer Geldstrafe von zwanzigtausend Mark belegt. Loest hatte diesen Brief der Berliner Kollegen mitunterzeichnet.
Kennengelernt hatte ich Loest 1977. Ein sechsseitiges Statement gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, das ich im Leipziger Verband vorgetragen und somit eine Vertrauensresolution an den Ersten Sekretär der SED, Horst Schumann, verhindert hatte, brachte Loest dazu, mich anzusprechen Die Nestbeschmutzung. Die drohende Gefahr. Jetzt müssten wir doch zusammenhalten!, rief Max Walter Schulz, Sinn und Form-Chefredakteur und Nationalpreisträger. Auch der Vorsitzende des Leipziger Schriftstellerverbandes und Direktor des Literatur-Instituts, Hans Pfeiffer, nahm an der Veranstaltung teil. Der Schriftstellerverband solle der Partei beweisen, dass er eindeutig hinter der Entscheidung des Politbüros stehe. Wir trafen uns in einem Messehaus in der Hainstraße, Februar 1977. Es war das einzige Mal, dass eine Versammlung dort stattfand, und ich erklärte es mir so, dass es dort eventuell Anlagen zum Abhören gab. Etwa vierzig Mitglieder waren gekommen. Anderthalb Stunden wurde diskutiert, dann trat Ermüdung ein, wie meistens. Ich hatte damit gerechnet und meldete mich. Alles wurde plötzlich munter, und es kam zu keiner Abstimmung über den geplanten Vertrauensbeweis. Alles geriet durcheinander. Mein Glück war, dass der Raum nur für zwei Stunden gemietet worden war, dann plötzlich mussten wir raus, ohne Papier. Max Walter Schulz und Hans Pfeiffer drängten nicht weiter, um sich keine Niederlage einzuhandeln. Aber es schloss sich niemand an, der die Ausbürgerung Biermanns mit mir verurteilt hätte. Beim Hinausgehen trat Loest an mich heran und sagte in todernstem Ton: Das Ding, was du da gelesen hast, das musst du sofort verbrennen! Hast du gehört? Er war ja das gebrannteste aller Kinder. Für mich war es aber eine kleine Taufe, ohne dass ich mir etwa heldisch vorgekommen wäre. Seitdem hatten wir mitunter freundschaftliche Kontakte gepflegt. Zwei Jahre später, im Herbst 1979, sollte Loest in einer außerordentlichen Mitgliederversammlung aus dem Verband ausgeschlossen werden. Viele Kollegen fehlten damals, bewahrten sich, wie so oft zuvor, ein reines Gewissen, indem sie es durch Abwesenheit schonten. Im Klubraum des Literaturinstituts herrschte eine gespannte und gereizte Atmosphäre. Manche sahen sich verschämt und eingeschüchtert an. Anna Seghers schaute als vergrößertes Brustfoto mit nachdenklichen und entrückten Augen auf uns herab. Keiner sprach ein klares Wort, viele redeten um den heißen Brei herum, bis die Diskussion erschöpft schien, Stille eintrat und unsere blassen Gesichter formte. In jedes hatte die Zeit ihre prägenden Worte geschrieben, ihre Spuren getrieben. Vom Westen beachtet zu werden, sobald man nur den leisesten Hauch von Opposition von sich gab das haben sich manche gekonnt in der Hauptstadt aufgebaut. In Leipzig wurde ehrlicher gerungen, manchmal auch offener, unverstellt, zähneknirschend. Dissident wollte keiner sein, auch ich nicht. War denn diese Titulierung überhaupt treffend gewesen? Ich verstand diese Bezeichnung mehr für Andersgläubige einer nicht anerkannten Religionsgemeinschaft oder Konfessionsloser in Ländern mit Staatskirche. Schnell dahergesagt so ein Klischee, übliches Vokabular der Westler
Ich überwand mich, nachdem eine lange Pause und ein beredtes Schweigen eingetreten war, und sagte, dass diese Veranstaltung ein geplantes Spiel sei und sprach mich gegen den Ausschluss von Loest aus. Der Ästhetikdozent Robert Zoppek fiel mir mit scharfer Stimme ins Wort. Der Mann mit der Römernase und dem Wächterblick hatte bereits vor Jahren in seinen Seminaren versucht, Günter Kunert nachzuweisen, dass er in seinen Gedichten und Prosastücken kein Marxist sei und nur indifferente Texte um der Kunst willen schreibe. Werner Heiduczek unterbrach Zoppek, appellierte an das Gewissen eines jeden. Er war schon damals trotz SED-Mitgliedschaft der erstarrten Zeit ein Stück entwichen. Die Diskussion belebte sich unversehens noch einmal. Der Lyriker und Kinderbuchautor Walter Petri, der immer schon viel Mut in seinen Diskussionen bewiesen hatte, entlarvte in essayhafter Rede den Sinn dieser Veranstaltung und mahnte, sich an diesem unredlichen Spiel nicht zu beteiligen. Als es schließlich doch zu einer Abstimmung für oder gegen den Ausschluss von Loest kam, enthielten sich neun Kollegen der Stimme. Da allzu viele Mitglieder nicht gekommen waren, blieb dem Bezirksverbandssekretär Claus Dieter Hector nichts weiter übrig als zu vermelden, dass es mit diesem Ergebnis zu keinem Ausschluss gekommen sei, dazu hätte es mindestens fünfzig Prozent der Mitgliederstimmen bedurft.
Wir hatten also gesiegt. Dennoch trat Loest später freiwillig aus dem Verband aus, um uns, die gegen einen Ausschluss waren, wie er später erklärte, zu schützen Nach mehrjähriger Abwesenheit von Loest, in der er weiterhin DDR-Bürger blieb, schien auch mir endlich der Moment gekommen, ihn nach Leipzig einzuladen, und ihn vor einer stattlichen Kulisse sprechen zu lassen. Als Ort war der Georgi-Dimitroff-Platz vor dem ehemaligen Reichsgericht festgelegt, doch Loest hatte wegen einer Leseverpflichtung in Düsseldorf absagen müssen.
Dirk Michael Grötzsch hatte die Kundgebung eröffnet mit den Worten: Ein Traum ist Wirklichkeit geworden, dies ist die erste öffentliche Großkundgebung des Neuen Forums, obwohl es uns erst seit zwei Monaten gibt.
Etwa zehntausend Menschen waren gekommen, trotz leichten Frostes. Einige von Loests Worten aus seinem Brief, die ich nach etlichen Reden vorlas, hallten über den weiten Platz und brachen sich vor dem Gerichtsgebäude in der Harkortstraße, in dessen Hof sich die öden Betonmauern mit Stacheldraht befanden, dem sogenannten Gerechtigkeitsviereck, darin Loest 1957 über ein Jahr und seine Frau Annelies mehrere Monate in Untersuchungshaft verbracht hatten.
Das sind auf jeden Fall spannende Rückblicke in vergangene Zeiten.
Bleiben Sie ansonsten weiter vor allem schön gesund und munter und der Welt der Bücher gewogen. Dieses Mal wollen wir den Bücherversand mit Hilfe einer Gruppe von Fallschirmspringern aus Neustadt-Glewe versuchen. Hoffentlich treiben sie nicht ab
Der nächste Newsletter lädt wieder einmal zu einer Begegnung mit dem Schweriner Schlossgeist Petermännchen ein, dessen vornehme Behausung seit nunmehr einem Jahr zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Und wahrscheinlich hat sich auch der kleine Mann darüber sehr gefreut. Immerhin ist er königlichen Geblüts, wie das erstmals 2019 sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book erschienene Buch Petermännchen will König werden. Seltsame Geschichten um seine Erlösung. Die schönsten Sagen und Geschichten, Teil 3 von Erika und Jürgen Borchardt beweist. Die beiden Autoren haben es ihrer Tochter Antje und allen gewidmet, die Orte und Geschichten voller Geheimnisse mögen.
Aber wieso will Petermännchen König werden?
Wer möchte schon ein Zwerg und Schlossgeist bleiben, wenn er in Wirklichkeit ein verwunschener Prinz ist und König sein könnte! Der Schlossgeist Petermännchen bemüht sich seit Hunderten von Jahren redlich um seine Erlösung. Dafür gibt es viele verschiedene Möglichkeiten; mit ihm ringen, ihm das Schlüsselbund holen, sein Schwert putzen oder ihm bloß den Kopf abschlagen. Es würde auch schon genügen, wenn seine Laterne mit einer bestimmten Schere geputzt wird oder wenn jemand etwas ganz laut ruft. Reicher Lohn winkt dem, der das macht. Und fast alles scheint auch ziemlich einfach zu sein. Aber die Wirklichkeit ist eine andere, birgt Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Als das beinah verzweifelte Petermännchen selbst seine Erlösung in die Hand nehmen will und sie scheinbar auch nach Plan verläuft, stellt sich am Ende heraus: Sogar ein Geist kann sich irren.
Aber eine Möglichkeit bleibt ihm noch. Dafür braucht er eigentlich bloß Geduld. Und wieder kommt alles anders
Erika und Jürgen Borchardt präsentieren frei gestaltete Geschichten nach Volksüberlieferungen. Benannt sind auch die Sagenorte. Sie aufzusuchen, um dort das geheimnisvolle Geschehen in der eigenen Fantasie zu erleben wofür die Illustrationen einen zusätzlichen Raum bieten, mag ein weiterer Reiz des Buches sein.
Als Teil 1 und 2 mit den schönsten Sagen und Geschichten um das Schweriner Petermännchen waren erstmals 2017 Wie Petermännchen schützt, lohnt, straft und neckt und erstmals 2018 Erde, Blut und Rote Rüben. Petermännchen als Prophet Weissagung und Wirklichkeit und zwar ebenfalls als gedruckte Ausgaben und als E-Books.