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Die Überlebende. Novelle von Kurt David
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
03.05.2023
ISBN:
978-3-96521-918-2 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 151 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Politik
Kriegsromane: Zweiter Weltkrieg, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Historische Liebesromane
2. Weltkrieg, Polen, Partisanen, Funker, Fallschirmabsprung, Liebe, Tod, Wahrheit, Schweigen
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„Ich müsste niederschreiben, was wir beide in diesen Tagen erleben. Wäre es Ihnen unangenehm?“

„Mir?“ Sie lächelte.

„Selbstverständlich würde ich Namen, Orte und so etwas verändern“, sagte ich und merkte erst jetzt, dass wir auf einer ganz anderen Chaussee als gestern fuhren. Und ich sah jetzt auch erst, dass sie nicht mehr das hellgrüne Kostüm trug, sondern wieder den wadenlangen schwarzen Mantel mit dem Bordürenverschluss aus hellem Leder, den sie auf dem Bahnhof angehabt hatte.

Sie sagte: „Mir wäre es nicht unangenehm. Im Gegenteil, ich könnte es mir sehr nützlich vorstellen, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist. Aber vielleicht wird es Ihnen übermorgen unangenehm sein?“

„Mir?“ Ich wunderte mich. Was sollte mir unangenehm sein?

„Eventuell, weil ich Ihnen etwas erzählen muss, das nicht Ihrer Vorstellung entspricht, das Ihrer Konzeption zuwiderläuft?“

Ich überlegte, was das sein könnte; zu Haus hatte ich bereits alle Möglichkeiten „durchgespielt“ und wusste keine mehr, die mich überrascht hätte.

„Sie sind mein Zeuge“, sagte ich ein wenig hilflos, „also werde ich von Ihnen die Wahrheit erfahren.“

„Ja, das werden Sie. Nur, mit der Wahrheit ist das so eine Sache, nicht wahr? Sie muss wohl auch bewältigt werden, in Ihrem Falle zumindest literarisch.“

Und da ich auf ihre Andeutungen nichts erwidern konnte, sagte sie: „Wir werden ja sehen.“

Inzwischen hatten wir das Moor erreicht und fuhren auf einer guten Straße an ihm entlang. Still schaute ich durch das Seitenfenster des Wagens und vermochte nur zu ahnen, was sich hinter den dunklen Erlenbüschen und kümmerlichen Zwergbirken verbarg. Manchmal blitzten Wasserflächen auf, oder eine Krüppelkiefer erhob sich über hohes, mageres Gras und zitterte wie vor Schwäche im sanften Wind. Ein widerlich schaler Geruch von Verwesendem wehte herüber. Dort drüben waren sie also gegangen, lange Tage, lange Nächte, immer auf wankendem Boden, über tückische Flechten und Moose. Dornen hatten ihre Haut durchschlagen und ihre Kleider zerfetzt. In Tümpel waren sie gestürzt und hatten bis zu den Hüften im Wasser gestanden, immer in Gefahr zu versinken und sich gegenseitig vor dem Tode bewahrend. Nur Moor. Nur Himmel. Es musste Stunden gegeben haben, wo es ihnen vorgekommen war, als wären sie allein auf der Welt.

„Vom Moor will ich Ihnen nichts erzählen“, sagte sie. „Wo sollte ich da anfangen? Bei den Mücken etwa! Lächerlich. Erst alle tausend Quälereien zusammen ergaben den Zustand, der uns fast verzweifeln ließ. Nicht einmal einen Platz zum Ausruhen fanden wir.“

Anfangs hatte ich geglaubt, dass ich das Bauernhaus noch einmal sehen würde, aber ich sah es nicht, ich sah überhaupt nichts, was mich an gestern erinnerte, und ich begann zu ahnen, wie groß das Moor zwischen diesen Wäldern war.

„Jetzt könnten wir nach Wilowice abbiegen“, sagte sie. „Wollen Sie noch zu Walasek?“

Ich stutzte für einen Augenblick. „Ach so“, antwortete ich, „Sie meinen Marceli“, ich konnte mich nur schwer an den Namen Walasek gewöhnen. „Wieso ,noch‘?“

„Sie könnten es sich doch anders überlegt haben.“

Mir kam es vor, als hätte sie kein Interesse, zu dem ehemaligen Kommandeur zu fahren.

„Ich habe es mir aber inzwischen nicht anders überlegt.“

„Wie Sie wollen“, meinte sie. „Aber über uns kann er Ihnen nichts sagen.“

Das hatte sie schon gestern behauptet. Warum wiederholte sie das jetzt? Schließlich hatte ich ihr erklärt, weshalb ich einen ehemaligen Kommandeur kennenlernen wollte.

„Also fahren wir hin“, sagte sie, und mir war, als hätte sie dabei etwas geseufzt. Es kann auch sein, dass ich mir das nur einbildete. Sie bog von der Straße ab auf einen Landweg. Wir fuhren ziemlich schnell durch eine Senke, die wie eine Sandgrube aussah, und der Motor heulte dröhnend auf, als wir auf der anderen Seite hochkrochen. Ich hatte schon angenommen, wir würden es nicht schaffen, denn der Sand war bereits getrocknet, und hielt vor Ungewissheit die Luft an, als unser Wagen mit den Vorderrädern den oberen Rand der Grube überwand. Für einen Moment sah ich durch die Windschutzscheibe nur noch den schönen hellblauen Himmel, und als auch unsere Hinterräder den Grubenrand erklommen hatten und wir wieder auf ebener Erde waren, sah ich vor uns das Dorf Wilowice. Um ihr entgegenzukommen, bemerkte ich: „Wir brauchen ja nicht lange zu bleiben, aber sehen möchte ich ihn gern, und ein paar Worte möchte ich auch mit ihm wechseln. Solche Kommandeure kenne ich doch nur aus Büchern.“

Marceli trafen wir dann in seinem kleinen Garten beim Roden eines Birnbaumstockes, und ein anderer Mann, der sehr klein war, lehnte an der warmen Hauswand und sah ihm zu. Ich wusste sofort, dass der am Birnbaumstock der Kommandeur war. So hatte ich ihn mir vorgestellt, und es ist ein sonderbares Gefühl, seine eigenen Vorstellungen bestätigt zu bekommen.

Sie rief ihm etwas über den Zaun zu. Er hielt die Axt still, verharrte einen Augenblick gebückt und rief, ohne herzusehen: „Daneczka!“ Dann hob er die Axt hoch über seinen Kopf, hieb sie mit wuchtigem Schlag in den Stock und ließ sie dort stecken. Er sah auf, wischte sich lächelnd die Hände an der grauen Hose ab und trat mit schweren Schritten auf uns zu. Sich verbeugend, gab er ihr einen Handkuss, sagte etwas, und während sie mich vorstellte, ihm vielleicht auch kurz erklärte, was ich wollte, blickte er abwechselnd zu ihr und zu mir, nickte mehrere Male und deutete mit einer Handbewegung zur Tür seines Häuschens. „Bitte!“, sagte er. Der andere Mann blieb auf seinem Platz an der Hauswand und sonnte sich weiter.

Marceli-Walasek war ein großer, starker Mann mit einer Glatze, auf der ich eine Narbe erkannte, die vom Stirnansatz wie ein Scheitel zum Hinterkopf lief. Das sah aus, als habe einer versucht, ihm den Schädel zu spalten. In der Narbenfurche wuchsen kleine schwarze Härchen.

Ich beobachtete, wie er unter den niedrigen Türen den Kopf einzog und im Wohnzimmer mit Frau Gadomska flüsterte. Dann verschwand er.

„Er will sich umziehen“, sagte sie.

Ich erkundigte mich nach seinem Alter. „Siebenundsechzig“, sagte sie.

„Und die Narbe?“

„Durch Verrat lief er bei einem Treff in eine Falle. Drin in der Stadt. Sein Adjutant wurde getötet, unsere Funkerin erschoss sich selbst, und er schwamm mit dieser Kopfverletzung, zwei Messerstichen und einem Steckschuss an der linken Wade durch die Warta, er konnte sich retten.“

So lakonisch sie auch erzählt hatte, in meiner Fantasie gewann die Szene Leben, und ich dachte: Der Mann muss etwas von einem Riesen in sich gehabt haben. Und Riesen vermag man sich weder besiegt noch getötet vorzustellen.

„Wer hat ihn verraten?“

Sie sah mich bestürzt an. „Sagt Ihnen das Wort nicht genug?“

Ich nickte verlegen. An meiner übereilten Frage war das Empfinden schuld, mit Marceli verbunden zu sein. Seit ich ihn gesehen hatte, war es sehr stark. Zudem war mir bekannt, dass es zur damaligen Zeit in ihrem Land genügend Spitzel gegeben hatte und Gruppen, die sich gegenseitig bekämpften.

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