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Und als ein Fremdling geblieben. Erzählungen. Nachrichten von Volker Ebersbach
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
14.03.2022
ISBN:
978-3-96521-636-5 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 173 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Kurzgeschichten, Belletristik/Literarisch, Belletristik/Psychologisch, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Politik, Belletristik/Biografisch
Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories, Familienleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Seelenleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
Wilhelm von Kügelgen, Friedrich Adolph Krummacher, Goethe, Dichter, Seume, Novalis, E. T. A. Hoffmann, Heine, Adalbert Stifter, Jakob Wassermann, Alexander der Große, Georg Trakl, Teplitz, Jakob Michael Reinhold Lenz
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Er stürmte die Wendeltreppe des Freiberger Bürgerhauses hinauf, Lichtfluten entgegen, Lichtkaskaden, die ihn blendeten bis zur Benommenheit, bis zu Schwindel und erneuter Kopfabwesenheit, er stand noch aufrecht, griff nach dem Geländer, ein Röcheln in seiner Lunge erinnerte ihn an das Unwort Mottenfraß. Er hatte andere, jüngere Studenten des Bergfaches, die nicht zu ahnen schienen, dass es auch ihn betraf, darüber spotten hören, dass sich seit Otto dem Reichen der Bergbau ins Erzgebirge gefressen habe wie dieser Mottenfraß in eine kranke Lunge. Man sah die Löcher kaum. Über die Abraumhalden war Wald gewachsen.

Es war zu hell um ihn, seit er die Tagesöffnung der Grube verlassen hatte. So konnte nur die Hölle blenden, der er sich doch in der warmen Tiefe der Erzkavernen genähert hatte. Er dachte an die versunkenen, versengten Wälder, aus denen jene Kohle zu bestehen schien, an die offenliegenden Verwüstungen, welche ihr Abbau hinterlassen würde. Wie war das Holz im Inneren der Erde schwarz geworden? Hatte das Höllenfeuer, die Lava es gestreift, Lava, die irgendeinem fernen, Feuer speienden Berg zuströmte? Nur das Licht der Lava hatte seinen Ursprung in der Erde selbst, nicht in der Sonne, die jetzt in die Treppenfenster stach.

Und Julie von Charpentier saß da in ihrem blaugeblümten Kleid, spielte die Glasharfe. Was machte ihre weißen Finger feucht? Ihre Tränen? Machten salzige, salinensalzige Tränen die Glasschalen klingen? Weinte sie schon um ihren Bräutigam? Weinte sie sphärisch um ihn, der so lange nicht kam? Erschrak sie, innehaltend, über das Blut auf seinem Ärmel? Ahnte sie, wie bald er wieder würde gehen müssen, endgültig in die Erde? Oder plagte sie der Gesichtsschmerz, der plötzlich in ihr schönes junges Gesicht sich krallende Schmerz, der ihre Züge augenblicklich, buchstäblich mit einem einzigen Blinzeln der schmalen glänzenden Lider alt machte und wie ein Blitz ihre blonden Locken ins Weiße zu erhellen schien?

Wäre es nicht doch ehrlicher gewesen, da unten zu bleiben? Sterben war ihm zu einem philosophischen Akt geworden, in Jena und Dürrenberg beim lauten gemeinsamen Dichten, Lesen, Grübeln, Sympathisieren und Symphilosophieren mit Friedrich Schlegel, solange seine Natur der lieb gewonnenen Krankheit widerstand. Erst in der Todesangst, mit der er drunten im Stollen zu sich gekommen war, hatte er die Wirklichkeit des Sterbens geahnt, gestreift, ein Zipfelchen davon erlebt. Er würde Julie enttäuschen müssen, so oder so. In einem Traum hatte er mit der linken Hand sein Glied sich vor die Augen halten können, ganz schmerzlos abgetrennt von seinem Schoß, und neugierig beäugt wie einen Pilz.

Die Bergakademie gaukelte ihm Leben vor, Leben und Lebenssinn. Langweilig wäre es gewesen, nur auf den Tod zu warten. Es hatte ihn gereizt, sich in Mineralogie, Geologie, Bergbaukunde, Bergrecht und Markscheidekunst zu vertiefen, als Salinenakzessist und auch als Dichter, denn es gab da magische Entsprechungen, wenn er dichtend und schreibend das eigene Herz, die eigene Seele wie ein Bergwerk aufschloss. Der Bergbau hatte ihn noch einmal zum Lehrling gemacht. Fleiß und Tüchtigkeit, das zupackende Handeln ließ er sich wieder abfordern, Geschäftigkeit erfüllte seinen Tag, Begebenheiten wollten in Augenschein genommen werden, nicht einmal den seichten Zerstreuungen des Studentenlebens hielt er sich immer fern.

Aber es war alles nur Vorwand für stille Betrachtung, ein Schauspiel, in dem er selber nicht mehr auftrat, eine Türsteherei vor den Bereichen der Mystik, ein Lugen durch die Fensterschlitze der Wissenschaften in die Alchimie des Geistes, und so haftete diesem Verlöbnis mit Julie etwas Betrügerisches an.

Dennoch – war denn so sicher, dass sie ihn überleben würde und nicht er sie? Dass er ihre Pflege brauchen würde und nicht sie die seine? Als Julie ihren kranken Vater pflegte, tat sie es mit einer Hingabe, als wäre das ihr Lebenssinn, sosehr ihr immer wieder der Gesichtsschmerz dazwischenfuhr, als wollte er ihre Sanftmut mit Grimassen Lügen strafen. Eine Liebe, die nach Bett roch, roch auch nach Krankenbett. Das peinlichere Labyrinth lag über Tage, war überirdisch, womöglich himmlisch. Stürbe Julie auch, wann immer, ausbleiben konnte es ja nicht, dann würde er im Jenseits mit zwei Frauen leben. Lebenssinn, der die allmorgendliche Lebensangst verscheuchte, das Morgen-Grauen überwinden half, zog er nur aus dem Dichten. Er brauchte, um anzufangen, die seltsamsten Konzentrationsübungen. Aber nur wenn er schrieb, gab es in dieser Welt noch Sinn. Schreibend fand er die himmlische Ruhe in sich selbst, die Ruhe, die alles vollendete. Was er schrieb, war aber schon im Ansatz Bruchstück, nichts als Blütenstaub.

Fast täglich besuchte er seit Monaten das Haus seines Lehrers, des Berghauptmanns Johann Friedrich von Charpentier. Die Tochter des Hauses, die zweiundzwanzigjährige Blondine, war ihm wie ein schleichendes Gift ins übertemperierte Blut gedrungen. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er, der Bräutigam einer Toten, nur wie ein Fremdling kommen konnte und als ein Fremdling bleiben musste. Aber unversehens fand er Julchen nicht nur im Salon, sondern auch überall in sich, Ahnungen duftigen Fleisches, Anwandlungen unwiderstehlicher Wollust ausstreuend – doch dann der Traum, das Ding da, schmerzlos abgetrennt und wie ein Pilz. Da hatte er den eigenen Tod gesehen, den ersehnten, schrecklich nahe. Er konnte Julie nicht mit einer Toten untreu werden, und er würde Sophie mit Julie gar nicht betrügen können. Die Liebe selbst war eine Gegenwelt geworden, ihre Erfüllung nur jenseits des Todes noch erreichbar.

Und doch geschah sie schon in ihm: Sophie hatte sich allmählich seiner eigenen Seele anverwandelt, unverlierbar, seine Seele und Sophie waren so verschmolzen, dass er, indem er Sophie liebte, seine eigene Seele liebte. War diese Liebe etwa nicht die Selbsterkenntnis, zu der die Griechen aufgefordert wurden, bevor sie das Orakel von Delphi befragten oder das verschleierte Bild zu Sais? Lehrlinge sind wir alle, Lehrlinge bleiben wir alle, und haben zu lernen, dass, was uns widerfährt, Freude und Kummer, Entzücken wie Entsetzen, Lust und Gram nur gleichsam ein verschleiert Bildnis ist, in dem wir, reißen wir den Schleier fort, uns selbst erblicken müssen – die einzige Art der Selbsterkenntnis. Die einzig mögliche Erkenntnis. Mit ihr muss alles, was geschieht, zu einem Märchen werden. Warum geht diese Treppe denn nicht weiter? Ich bin doch da oben, da oben noch verlobt!

Sophie ist tot. Aber die da, die hat ja nie gelebt. Vielleicht ist der Tod gar nicht dunkel? Vielleicht wird in ihm alles licht? Was ahnte Julie da in ihrem blaugeblümten Kleid von seinen blaublumigen Gedanken und Gefühlen? Ihm wurde entzückend wohl, als wohnte er schon bei Sophie in der blauen Blume.

Julie?

Sophie!

Und als ein Fremdling geblieben. Erzählungen. Nachrichten von Volker Ebersbach: TextAuszug