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Kinder des Narziss. Roman von Volker Ebersbach
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Preis E-Book:
9.99 €
Veröffentl.:
02.03.2022
ISBN:
978-3-96521-626-6 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 492 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Schwul, Belletristik/Erotik/Allgemein, Belletristik/Liebesroman/Erwachsenwerden, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Politik, Belletristik/Familienleben
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Heranwachsen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Seelenleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Erotische Liebesromane, Familienleben, Generationenromane, Familiensagas
DDR, Wende, Suizid, Stasi, 13. August 1961, Republikflucht, Familienleben, Sex, Erotik, Liebe, Homosexualität, Nachkriegszeit, Studium, Schule, Verrat, Freundschaft, Schuld
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Vor den Trümmern seines Lebens wird Siegfried Stufenhauer sich fragen, was seine Freundschaft mit Wolfgang Siebensohn zusammenhielt trotz der Belastungen, Krisen, Zerwürfnisse, von denen jedes eine Freundschaft hätte beenden können.

Sie sind, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen, noch Kinder. Man grollt, aus Spaß wird Ernst, man schlägt sich und verträgt sich, bindet einander Bären auf. Mal ist die Schuld des einen, mal die des anderen schwerer. Warum, fragt sich Sigi als Endvierziger, durch Umwälzungen gehalten, sich dieser Freundschaft zu entsinnen, warum fühlte ich mich so verantwortlich für ihn? Was trieb mich, ihn immer wieder vorm Abrutschen zu bewahren? Hätte ich ihn sich selber überlassen, wäre alles im Sand verlaufen, ohne den schroffen Bruch, der dann noch ein politisches Gesicht bekam.

Wenn Sigi vom Schulhof den Fahrradschuppen sah, hörte er Wölfchen neuerdings Reden führen, die ihm buchstäblich spanisch vorkamen. Immer stand Dietmar Scholz bei ihm, der Neue, der vom Rummel, der nur so lange bleiben sollte, wie seine Eltern auf der Töpferwiese ein Looping und ein Karussell betrieben, der den Fahrradschuppen als Raucherversteck benutzte, manchmal auch Heribert Stöpel, der mit seinem Vater querlag wie Sigi mit Stadtrat Horn. Sigi kam widerwillig. Er fühlte sich ausgegrenzt. Lustlos nahm er die Zigarette, die Scholz anbot, und er war froh, als Wölfchen nach einem Probezug hustend und spuckend zugab, dass es ihm nicht schmeckte. Stöpel qualmte verbissen mit, zeigte sich Scholz gefällig, wo er konnte, und hing, wenn Wolfgang Spanisch sprach, an seinen Lippen. Warum, sagte sich Sigi, sollen die neuen Freunde meines Freundes nicht meine Freunde sein? So stahl er sich in jeder Pause, auch wenn ihn niemand einlud, zu dem Trio und blieb, obgleich ihn Scholz wie einen ungebetenen Gast empfing. Er hörte Wojank über Hernán Cortéz reden, den Eroberer von Mexiko, über Azteken und andere Indianer, den Bauernführer Zapata mit dem riesigen Sombrero. Wolfgang schilderte die Palmen, Kakteen und Agaven, die schneebedeckten Vulkane Popocatepetl und Citlaltepetl, die amüsanten Namen lehrerhaft wiederholend, schüttelte eine echte Maraca-Klapper und flocht fortwährend Spanisches ein, bis man sich zu der Frage eingeladen fühlte, ob er schon selber in Mexiko gewesen sei.

Längst tippte Sigi auf einen neuen Fimmel. Aber er fand es sonderbar, eigentlich kränkend, dass er nicht wie früher ins Vertrauen gezogen wurde. Dann hätte er aufgepasst, dass dieses Himmelwürmchen nicht übertrieb und sich lächerlich machte. Jetzt aber war es kaum mit anzusehen, wie er prahlte und gockelte vor dem Prahlhans Scholz und dem dümmlich, gläubig, kriecherisch glotzenden Stöpel.

Der stellt denn auch die Frage.

Wölfchen schaut, bevor er Antwort gibt, einen Herzschlag lang Sigi an, und hinter der Brille irrlichtert ein Glanz, den Mutter sicher meint, wenn sie von Lügensternchen in den Augen spricht. Noch eine Weile windet sich der Gefragte, als hätte er den Freund nicht gern als Ohrenzeugen. Dann kommt es mit belegter Stimme: Wenn du‘s genau wissen willst – ja! Wolfgang sieht dabei Sigi länger an als Scholz und Stöpel. In seinem Blick liegt auftrumpfender Trotz. Sigi versteht: Du warst ja auch nicht zimperlich mit deiner Folterkammer!

Sigi hofft ihn von einem Irrweg wegzurufen, fragt: Wann soll denn das gewesen sein? Wir kennen uns seit Schulanfang. Und außerdem kriegt man dahin gar keinen Pass.

Das Grinsen, mit dem Wölfchen dazu schweigt, ist nicht verlegen, eher entschlossen, noch weiter zu gehen, lieber noch eins draufzusetzen, um nicht als Spinner dazustehen.

Ich darf darüber gar nicht sprechen, sagt er feierlich. Aber ihr zwingt mich ja dazu.

Scholz drängt: Uns kannst du es schon sagen. Wir sind doch Freunde. Denkst du, wir halten nicht die Klappe?

Wir versprechen dir, alles bleibt unter uns, bekräftigt Stöpel.

Ich stamme von da.

Der Schwindel geht ihm leicht über die Zunge.

Ich bin in Mexiko geboren!

Und nun wendet er sich ohne eine Spur Unsicherheit an Sigi: Das sind nämlich gar nicht meine Eltern! Ich bin bei denen bloß in Pflege, weil meine Eltern wollten, dass ich als Deutscher aufwachse.

Stöpel bleibt der Mund offen. Scholz bestaunt das Wundertier. Sigi verfolgt entsetzt, wie die sich die Taschen vollhauen lassen. Ein bisschen Anerkennung kann der Eulenspiegel dem Münchhausen nicht versagen. Aber er hat schon Mitleid mit dem Schwindler. Wie kommt man aus so einer dreisten Lüge wieder raus? Wird dem nicht schwindlig von so viel Schwindelei? Gemeinsam haben sie von Reisen in die weite Welt geträumt. Wolfgang starrte dann wie manche Welfenburgerinnen wehmütig blöd in die Ferne oder ins Leere. Aber das jetzt, das ging zu weit.

Und was ist mit deinen richtigen Eltern?

Wölfchen schaut unsicher von einem zum andern.

Es gibt ja viele Deutsche in Lateinamerika, stammelt er. Die beiden deuten die Klemme, in der er sitzt, zugunsten ihres Glaubens, und Stöpel, Sohn eines Parteisekretärs, gibt ihm das Stichwort: Parteigeheimnis, was? Wenn du das für dich behältst, also, dafür haben wir Verständnis.

Der Schwindler nickt erlöst. Meine Eltern waren im Widerstand. Mehr darf ich euch wirklich nicht sagen. Ich weiß es gar nicht so genau. Lasst mich in Ruhe. Ich will nicht mehr darüber reden.

Kinder des Narziss. Roman von Volker Ebersbach: TextAuszug