DDR-Autoren
DDR, CSSR, Sowjetunion, Polen ... E-Books, Bücher, Hörbücher, Filme
Sie sind hier: Der Kinderbaum. Roman von Wolfgang Eckert: TextAuszug
Der Kinderbaum. Roman von Wolfgang Eckert
Format:

Klicken Sie auf das gewünschte Format, um den Titel in den Warenkorb zu legen.

Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
07.12.2022
ISBN:
978-3-96521-810-9 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 311 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Familienleben, Belletristik/Liebesroman/Aktuelle Zeitgeschichte, Belletristik/Moderne Frauen
Familienleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Heranwachsen, Generationenromane, Familiensagas, Zeitgenössische Liebesromane, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust
Kindheit, Erziehung, Eltern, Scheidung, Alkoholiker, Liebe, Suizid, Kapitalismus, Großeltern, Umgangsrecht
Zahlungspflichtig bestellen

Sein Tod beschäftigte das Wohngebiet. Stirbt einer langsam, sind die anderen darauf vorbereitet. Wenn es dann soweit ist, nicken sie einander stumm zu. Sein Tod aber schlug wie ein Blitz in die Köpfe. Erst lief das Gerücht, er habe sich umgebracht. Ausweglosigkeit eines Säufers. Denn das wussten sie auch. Die Ehe ging nicht mehr, hieß es. In so einer kleinen Stadt braucht man keine Zeitung. Die Geschichten laufen ihr ungedruckt voraus. Aber kaum ein Säufer brachte sich um den Genuss des Alkohols. Als die Ursache des Todes durchsickerte, hatte er das Bedauern auf seiner Seite. Und das Erschrecken. Denn so etwas konnte jedem passieren. Da wurde sein Sterben plötzlich zur Unruhe aller. Im Tod eines Menschen suchen Unbeteiligte immer nach Ursachen, die sie trösten. Als bekannt wurde, er sei sturzbetrunken in das Auto gefahren, beruhigte sie das. Sie tranken nicht. So sprachen sie sich frei von solchem Tod. Und damit war sein Abgang für sie bewältigt. Ob ein Mensch hundert Jahre oder einen Tag tot ist, das zählt dann nicht mehr. Er ist weit weg. Die Zeit läuft weiter, gleichgültig, man wendet sich dem Leben zu. Die Witwe wurde verständnisvoll gegrüßt oder angesprochen. Sahen sie Holm oder Zoe auf der Straße, strichen ihnen die Leute über die Köpfe und dachten noch ein bisschen: Arme Kinder.

Die jedoch wussten nichts von Anfang und Ende. Für sie gab es nur ein Dazwischen, ein Heute. Holm war stolz, nun der alleinige Besitzer eines Fahrrades zu sein. Für Zoe war der Vater fortgegangen. Manchmal blickte sie noch abends ängstlich die Straße hinab, ob er mit seinem Alkohol- und Zigarettengestank von irgendwoher wiederkäme und sie beschimpfte, weil sie etwas falsch gemacht hatte. Beinahe tat ihr deshalb sein Wegbleiben leid.

Aber das Leben war umgestürzt. Die Mutter bekam Arbeit im Lager eines nahegelegenen Metallbetriebes. Drei Kinder erwiesen sich plötzlich als zu viel. Früh brachte sie nun Mareili in die Krabbelgruppe des Kindergartens. Zoe wurde noch mehr als zuvor die kleine Mutter. Sie nahm Holm als Erstklässler mit in ihre Schule. Danach ging auch er bis zum Abend in den Kindergarten. Zoe musste nach der Schule einkaufen. Einen Zettel brauchte sie nicht mehr. Sie wusste genau, was sie vom Geld ihrer Mutter kaufen sollte. Die Beutel, welche sie heimschleppte, schleiften fast auf dem Boden. Sie verstaute die Essereien im Kühlschrank, wusch das vom frühen Weggang herumstehende Geschirr, trocknete es ab, räumte alles ein und erledigte dann ihre Schularbeiten. Es gab keinen Grund zur Besorgnis, sie könnte die nächste Klasse nicht erreichen. Mit dem gleichen Ernst, wie sie ihre häuslichen Pflichten erledigte, tat sie das auch mit ihren Hausaufgaben. Sie hatte gelernt, sich selber in alles hineinzufinden.

Wen sollte sie auch fragen? Dazu blieb ihr keine Zeit. Manchmal schaltete sie am Tag ihr einziges Spielzeug, den Fernseher, ein. Märchen, in denen arme Mädchen Prinzessinnen wurden, gefielen ihr am besten. Aber sie schlief gelegentlich dabei ein und verpasste den Prinz, auf den sie gewartet hatte. Die Nachbarn redeten mit ihr über ganz vernünftige Dinge, wie man eben mit einer zwölfjährigen Erwachsenen sprach. Das Haar trug sie nun kurz geschnitten. Unter dem Kleid zeigten sich behutsam leichte Rundungen. Am Türrahmen ihres Zimmers markierte sie ihre Größe mit einem Bleistiftstrich, den sie fast nach jedem Monat jubelnd nach oben verändern musste. Als wolle sie schnell ihrer Kindheit entfliehen. Wenn in der Klasse schallend über einen Spaß gelacht wurde, brachte sie es nur zu einem Lächeln. Das war ihr alles zu kindisch. Und wenn ihr dann einmal ein Lachen gelang, geschah das hinterher, wo alle wieder still waren. Deshalb galt sie als sonderlich. Sie glaubten, sie habe alles erst jetzt verstanden. Da verließ sie trotzig, ihren Kopf nach hinten werfend, ohne Bedauern ihre Klassenkameradinnen. Allein sein hatte sie ja gelernt.

Und dennoch schmiegte sie sich eines Abends plötzlich an ihre Mutter. Sie saßen beide wie ein Ehepaar vor dem Fernseher. Die Kinder Holm und Mareili waren zu Bett gebracht. Im Fernseher gab es einen Krimi. Eine Frau lief durch eine nächtliche regennasse Straße, verfolgt von einem Schatten. Außer der aktuellen Kamera und dem Kessel Buntes sah die Mutter nur Krimis. Als hätte es in ihrem Leben zu wenig Aufregendes gegeben. Zoe erahnte nicht, was dort drinnen passierte. Sie empfand nur die unverhoffte Nähe der Mutter. Und sie lehnte den Kopf an ihre Schulter, umschlang mit beiden Händen ihren Arm. Die Mutter war überrascht. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie sich beinahe erschrocken von Zoe lösen. Es war nur eine schwache Geste der Abwehr. Aber Zoe spürte sie und klammerte sich umso fester an ihre Mutter.

„Hast du etwa Angst!“, rief die Mutter. „Das ist doch nur ein Film!“

Zoe ließ sie nicht los. Die Mutter saß steif. Sie fühlte sich unbehaglich. Dann drückte sie die Arme ihres Kindes weg und schob es neben sich auf das Sofa wie eine Puppe.

Der Kinderbaum. Roman von Wolfgang Eckert: TextAuszug