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Eine Anzeige in der Zeitung von Günter Görlich
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
20.06.2022
ISBN:
978-3-96521-717-1 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 475 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Psychologisch, Belletristik/Liebesroman/Aktuelle Zeitgeschichte, Belletristik/Politik, Belletristik/Älterwerden
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust, Moderne und zeitgenössische Belletristik, Zeitgenössische Liebesromane, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
Lehrer, Selbstmord, Suizid, Vorbild, Liebe, Freundschaft, Vertrauen, Krankheit, Tod, Ehrlichkeit
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Nun zu einem Vorfall, den wir durch unsere Tochter Monika erfahren haben und der uns sehr beunruhigt.

Die Tatsachen: Die Klasse hat den letzten Wandertag dazu benutzt, die Umgebung unserer Bezirkshauptstadt kennenzulernen. Wie unsere Tochter berichtet, war alles sehr schön, die Kinder waren wieder einmal begeistert von ihrem Klassenlehrer, dem Kollegen Just, der es versteht, mit Spaß und guten Einfällen solche Stunden zu einem Erlebnis zu machen. Es stellte sich aber plötzlich heraus, dass sich ein Schüler namens Mark Hübner sinnlos betrunken hatte. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, lallte und redete Unsinn. Alle waren erschrocken. Meine Tochter sagt, dass Mark sonst ein anständiger Junge ist, einer der Besten in der Klasse. Kollege Just brach den Ausflug ab, fuhr mit der ganzen Klasse in seine Wohnung, die am Stadtrand liegt. Dort ließ er Mark Hübner den Rausch ausschlafen und verbrachte den Rest des Tages mit den anderen in seiner Wohnung. Es soll sehr lustig gewesen sein. Sie sangen zur Gitarre. Herr Just führte Schmalfilme vor, die er auf seinen Reisen hergestellt hatte. Meine Tochter sagt, es sind interessante Filme aus der Sowjetunion, aus Polen und auch aus Kuba. Am frühen Abend war Mark Hübner wieder einigermaßen nüchtern, und sie fuhren nach Hause. Kollege Just sagte den Schülern, dass er mit Mark Hübner gesprochen habe und der alles sehr bereue. Der Lehrer schlug vor, die Angelegenheit damit bewenden zu lassen. Es ist klar, dass alle damit einverstanden waren. Unsere Tochter erzählte uns das ganz begeistert.

Meine Frau und ich haben uns lange darüber unterhalten. Wir meinen, der Kollege Just hat in diesem Fall nicht richtig gehandelt. Auf so ein Vergehen eines Schülers muss doch etwas erfolgen. Das kann doch nicht einfach im Sande verlaufen. Ich nehme an, dass Sie als Schulleiter vom Kollegen Just über die Sache nicht informiert wurden. Wir haben unserer Tochter nichts von unseren Besorgnissen gesagt, weil wir die Kinder nicht noch in weitere Schwierigkeiten bringen wollen. Verantwortlich ist doch hier der Lehrer. Ich denke an das, was noch folgen kann, wenn sich die Schüler so sicher fühlen vor einer Bestrafung oder dergleichen. Hat sich Kollege Just das genau überlegt? In welche Lage hat er sich gebracht? Ich kenne das aus meiner Arbeit. Klare Verhältnisse sind immer entscheidend für das Leben in einer Arbeitsgruppe. Ist das nicht der Fall, herrschen bald die unmöglichsten Zustände. Ich bitte Sie, Kollege Direktor, die Sachlage zu prüfen. Die Schüler sollten nicht mehr mit der Geschichte belastet werden, da der Vorfall schon eine Weile zurückliegt. Sie werden ja auch mit Kollegen Just die Angelegenheit kameradschaftlich klären.

Hochachtungsvoll Robert Volkmann

 

Ich gab Strebelow den Brief zurück.

„Das war also vor vierzehn Tagen“, sagte ich.

„Genau vor vierzehn Tagen“, sagte Strebelow mit Nachdruck, „weißt du etwas davon?“

„Wie kommst du darauf?“

„Es könnte doch sein.“

„Ich weiß nichts von der Sache.“

Strebelow faltete das Schriftstück zusammen. „Was hat sich der Kollege Just dabei gedacht? So einen Fall hat es in meiner langen Praxis noch nicht gegeben.“

„Was soll nun geschehen?“

„Ich werde für morgen nach Unterrichtsschluss den Pädagogischen Rat einberufen“, sagte Strebelow.

„Muss das sein? In fünf Tagen haben wir sowieso die normale Ratszusammenkunft.“

„Der Rat wird morgen zusammentreten“, sagte Strebelow entschieden.

„Du hebst die Sache damit ziemlich hoch“, sagte ich.

Er beugte sich vor, nahm seine Brille ab. „Das hier ist eine Eingabe. Aber auch ohne diesen Vermerk hätte ich die Sache mit Entschiedenheit behandelt. Du sagst, sie wird hochgehoben. Der Mann wird nicht hochgehoben. Der Mann wird auf die Erde zurückgeholt. Das ist dringend notwendig.“

„Wäre es nicht sinnvoller, zunächst einmal genau zu prüfen, bevor du solche Entschiedenheit an den Tag legst?“

„Du hast doch den Brief hier genau gelesen. Reicht dir das nicht?“

„Volkmann bittet um kameradschaftliche Klärung einer Sache, die ihn beunruhigt. Willst du nur daraufhin dein Urteil festlegen?“

Strebelow stand auf, legte den Brief in einen Aktenordner und verschloss den in seinem Panzerschrank.

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