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Mahatma Gandhi - Politiker, Pilger und Prophet. Biografie von Sigrid Grabner
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
03.05.2022
ISBN:
978-3-96521-663-1 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 315 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Biografisch, Belletristik/Politik, Belletristik/Religiös
Biografischer Roman, Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Soziales
Indien, Kolonie, Großbritannien, Südafrika, Pakistan, Gewaltlos, Mahatma Gandhi, Befreiungskampf, 2. Weltkrieg, 1. Weltkrieg, Mut, Ausdauer, Fasten, Gefängnis, Hindu, Moslem
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„Der Mahatma zündet seine Kerze an beiden Enden an“, sagten die Freunde, wenn sie von den übermenschlichen Anstrengungen sprachen, mit denen sich der greise Gandhi gegen die Woge von Gewalt und Fanatismus stemmte.

Am Morgen des 7. Januar 1947 bei Sonnenaufgang begann Gandhi seine Pilgerschaft. In seinem Gepäck befanden sich neben den Dingen des täglichen Gebrauchs eine Anzahl religiöser Bücher aller Weltreligionen, Wörterbücher und ein Exemplar von Jawaharlal Nehrus Buch „Die Entdeckung Indiens“. Gestützt auf einen langen Bambusstab, schritt der alte Mann barfüßig über die blutgetränkte Erde Ostbengalens, auf den Lippen das Lied von Rabindranath Tagore: „Wenn niemand deinen Ruf erwidert, geh allein. Wenn sie sich fürchten und stumm gegen die Wand drücken, öffne deinen Geist und sprich allein./Wenn sie sich abwenden und dich verlassen, wenn du die Wildnis durchschreitest, zertritt die Dornen unter dir, und entlang der blutigen Spur geh allein./Wenn sie nicht das Licht hochheben in der sturmgepeitschten Nacht, mit der Donnerflamme des Schmerzes entzünde dein eigenes Herz, und lass es brennen allein.“

Kein bewegenderes Bild ist vorstellbar als die Gestalt des einsamen Pilgers inmitten einer wahnsinnig gewordenen Welt. Feindschaft brandete ihm entgegen, doch sie brach sich an ihm wie an einem Fels. In Noakhali wurde eines der ruhmvollsten Kapitel in der Geschichte der Menschlichkeit geschrieben. Seine eigene Verzweiflung überwindend, gab der greise Gandhi der Welt ein Beispiel. Sein Weg führte über schwankende Bambusbrücken und schmale Fußpfade, durch zerstörte Dörfer und eine Landschaft, deren Liebreiz in schreiendem Gegensatz zu den hier verübten Verbrechen stand. Schon am zweiten Tag bluteten die Füße des Mahatma, aber nichts konnte ihn dazu bewegen, Sandalen anzuziehen. Aufgehetzte Moslems bestreuten die Wege mit Dornen, verunreinigten sie mit Kuhdung und menschlichen Exkrementen. Gandhi säuberte die Pfade mit trockenen Blättern und wehrte jenen, die ihm die schmutzige und mühselige Arbeit abnehmen wollten, mit den Worten: „Ich tue es gern. Mir schadet es nichts, und ihnen hilft es, Dampf abzulassen.“

So zog er zwei Monate lang von Dorf zu Dorf, nächtigte unter primitivsten Bedingungen in neunundvierzig Ortschaften im Gebiet von Noakhali und in sieben im Nachbarbezirk von Tipperah. Insgesamt wanderte er einhundertfünfundachtzig Kilometer durch das Land. Jeden Moslem am Weg grüßte er, auch wenn er keine Antwort erhielt. Er stand vor den während der Exzesse Hingemetzelten, aber er verlor sich nicht in Trauer. „Es ist nutzlos“, erklärte er, „sich Gedanken über die Toten hinzugeben. Worum wir uns kümmern müssen ist, dass in Zukunft niemand mehr so stirbt wie sie.“ Dagegen rühmte er jene, die eher in den Tod gegangen waren, als davonzulaufen oder sich einen anderen Glauben aufzwingen zu lassen. Um Mensch zu sein, bedarf es des Mutes. Diesen Mut lehrte Gandhi durch die eigene Tat. Selbst seinen Gegnern flößten sein eiserner Wille und seine Furchtlosigkeit Bewunderung ein. Den bedrängten Hindus von Noakhali erschien er wie ein Gott. Ein alter Mann begrüßte Gandhi mit den Worten: „So lange haben wir Figuren aus Stein angebetet, aber nun erblicken wir einen Gott in Menschengestalt.“ Der so Geehrte, jeglichem Personen- und Götterkult abhold, wies den Mann freundlich zurecht, dass steinerne Götter auf jeden Fall besser seien als menschliche, denn sie könnten wenigstens kein Unheil anrichten. Gandhi mochte kein Pathos, keine leeren Worte, keine erstarrten Symbole. Als man ihn bat, anlässlich der achtzehnten Wiederkehr der Unabhängigkeitserklärung durch den Kongress die Nationalflagge zu hissen, lehnte er ab. Seine Begleiter verstanden ihn nicht, hatte er sich dieses Zeremoniell doch niemals entgehen lassen, nicht einmal während der Haft in Poona oder danach, als die Briten besonders empfindlich darauf reagierten. Warum also jetzt? Trauer schwang in Gandhis Stimme, als er erwiderte: „Ich konnte damit gegen die Briten kämpfen. Aber wen soll ich hier bekämpfen? Meine eigenen Brüder? Die Moslems mögen sie (die Flaggenhissung, d. Verf.) tolerieren und nichts sagen. Aber ich weiß, dass sie innerlich empört darüber wären. Das möchte ich nicht. Ich habe eine dreifarbige Fahne gewählt, um alle Religionen, alle Gemeinschaften und das ganze Volk Indiens zu symbolisieren – Hindus, Moslems, Parsen, Christen und Sikhs. Sie alle betrachteten sie einst als ihre Fahne. Viele haben ihr Leben für sie gegeben. Aber heute sind wir in finstere Zeiten zurückgefallen. Wenn wir nicht aufwachen, wird die kommende Unabhängigkeit zu einem leeren Traum.“

Gandhi erkannte, dass die nationale Einheit, noch ehe sie staatliche Gestalt annehmen konnte, zerbrach. Wie sehr ihn auch die Teilung Indiens erschreckte, in Ostbengalen sah er, dass an Pakistan wahrscheinlich kein Weg mehr vorbeiführte. Praktisch ging es nur noch darum, dass das indische Volk souverän und friedlich über eine Teilung entschied. Doch das Rad der Gewalt, einmal in Bewegung gesetzt, folgt seinen eigenen Gesetzen. Es zermalmt Schuldige und Unschuldige gleichermaßen.

Der Widerstand der Moslems gegen Gandhi erreichte in dem Dorf Bishkatali seinen Höhepunkt. Hier hatten vor dem blutigen Aufruhr dreihundertsechs Hindus inmitten von viertausendsechshundertvierundneunzig Moslems gelebt. Jetzt waren ihre Häuser zerstört, die Überlebenden geflohen. An den Bäumen klebten handgeschriebene Plakate, die sich an Gandhi richteten: „Denk an Bihar und verschwinde sofort aus Tipperah. Wir haben dich oft genug gewarnt, und noch immer bist du hier. Hau ab, sonst wird es dir schlecht ergehen!“ – „Geh, wohin du willst. Gib deine Heuchelei auf und akzeptiere Pakistan.“ – „Es lebe die Moslemliga! Es lebe ihr großer Führer! Es lebe Pakistan! Nieder mit dem Kongress!“

Gandhi las alles aufmerksam und setzte seinen Weg fort. Er hielt seine abendlichen Versammlungen ab, gleichgültig, wie viele Menschen kamen, rezitierte aus dem Koran und der Gita und stellte sich den Fragen seiner Zuhörer. Wo sich ein Moslem bereit fand, ihm Unterkunft zu gewähren, nahm er dankbar an. Aber er zeigte weder Ärger noch Enttäuschung, wenn ein moslemischer Gastgeber in letzter Minute von seinem Angebot zurücktrat, weil er die Schikanen der Moslembanden fürchtete. Dann nächtigte Gandhi zwischen Ruinen. Mit äußerster Härte gegen sich selbst und in tiefer Liebe zu seinem Volk trat er vor die Menschen und predigte Brüderlichkeit und Vernunft.

Mahatma Gandhi - Politiker, Pilger und Prophet. Biografie von Sigrid Grabner: TextAuszug