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Jahrgang 42. Mein Leben zwischen den Zeiten von Sigrid Grabner
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
21.04.2022
ISBN:
978-3-96521-655-6 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 437 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Literarisch, Belletristik/Religiös, Belletristik/Biografisch
Biografischer Roman, Moderne und zeitgenössische Belletristik, Historischer Roman, Belletristik: religiös, spirituell, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
Schriftsteller, Biografie, Familienleben, Liebe, KZ, Antifaschist, SED, DDR, Widerstand, Freundschaft, Wahlfälschung, Mauer, Wende, Kirche, Politik
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Ich schrieb wie besessen an der Gandhi-Biografie, in drei Wochen die ersten hundert Seiten. In mein Tagebuch notierte ich: Die Zeit vergeht mir wie im Traum. Ich lebe irgendwie, doch eines Tages mag sich herausstellen, dass diese Zeit für mich ungeheuer wichtig war. Gandhi verändert mich. Er lässt mich meine Positionen präziser bestimmen. Ich erkenne mich, und der Schmerz über die eigene Unvollkommenheit ist heilsam.

Die Beschäftigung mit Gandhi ließ mich die Jubelfeiern zum dreißigsten Geburtstag der DDR gelassen ertragen, obwohl die Propagandamaschine noch lauter dröhnte als vor zehn Jahren. Mit jedem Jahr wuchs das Gefühl der Fremdheit gegenüber dem, was sich Sozialismus nannte. In Prag erkannten die tschechischen Behörden dem Schriftsteller Pavel Kohout die tschechische Staatsbürgerschaft ab, verurteilten den Schriftsteller Vaclav Havel zu viereinhalb Jahren Haft wegen „fortgesetzter konterrevolutionärer Tätigkeit“ und schlossen neun Schriftsteller aus dem Schriftstellerverband aus. Zur gleichen Zeit starb in Kambodscha ein ganzes Volk im roten Terror von Pol Pot. Fernsehen, Radio und Zeitungen der DDR berichteten nichts davon. Wenn die Ereignisse nicht mehr zu verschweigen waren, wurden sie als Hetzpropaganda imperialistischer Medien dargestellt.

Ich verschloss die Augen nicht vor dem Schrecklichen, was in der Welt geschah, und versuchte, der eigenen Ohnmacht gelassen zu begegnen. Der Mensch sei geformte Zeit, sagte Ruth vorhin am Telefon. Doch diese Zeit – was für eine Zeit? Meine Zeit? Meine Zeit und doch nicht meine. Dennoch – sie weitet sich aus, übersteigt die Grenzen zwischen Leben und Tod auf eine wundersame Weise. Staunend frage ich mich, wer ich bin und wohin ich treibe. Ich sehe die Kinder groß werden und zu sich selbst finden. Sehe die Falten und die grauen Haare, die meine Jahre verraten. Bin ich alt, bin ich jung? Ich bin alt wie die Menschheit und jung wie der Tag, der des Morgens mit seinen Rätseln, Wundern und Verheißungen über den Horizont steigt. Da sind Licht, Duft, Geräusche, sinnliche Gegenwart, in Augenblicken selbstvergessen gelebt, und da ist die Seele, die weit ihre Flügel ausspannt und alles umfängt, was ich nicht greifen kann, the small inner voice, von der Gandhi spricht.

In jenen Tagen träumte mir, ich sei im Gefängnis wegen einer Bemerkung, die mir selber gar nicht als staatsfeindlich erschienen war. Ich empfand keine Furcht in dem kleinen dunklen Raum. Zuerst war ich mit einer schwangeren Frau allein, dann kamen immer mehr Gefangene, junge und schöne Menschen. Alle brachten schon längere Zeit im Gefängnis zu und standen kurz vor ihrem Prozess. Sie fragten mich nichts, obwohl ich doch ein Spitzel der Stasi hätte sein können, der belastendes Material gegen sie sammelte. Durch das kleine Fenster drang Glockenläuten. Es war sechs Uhr abends. Die Jungen und Mädchen fassten sich bei den Händen. Ich spürte die Wärme und das Füreinander-Einstehen. So etwas gibt es also, dachte ich freudig, und niemand kann mir das nehmen. Wer hier herauskam, würde sich für die anderen einsetzen. Die jungen Leute erzählten, dass sie sich jeden Abend um sechs Uhr versammelten. Mit einem Lächeln erwachte ich.

Glücklich war ich, wenn ich im Schreiben zu mir fand, wenn ich mit den Kindern unterwegs war oder an langen Sommernachmittagen mit Ruth im Garten philosophierte. Doch zwischendurch verlor ich auch immer wieder den Mut. Dann glaubte ich, die Einsamkeit nicht mehr ertragen zu können; nicht die Parolen an den Häuserwänden, in den Zeitungen und auf den Versammlungen, nicht das schweigende Aufbegehren, die bleierne Müdigkeit und die Angst, den Kindern nicht gerecht zu werden.

Manchmal kam Kurt zu Besuch. Er bezeichnete sich gern als Jakobs Schüler. Als junger Mann war er aus der amerikanischen Besatzungszone nach Thüringen gekommen, um in der Maxhütte Unterwellenborn zu arbeiten, die zu Jakobs „Imperium“ gehört hatte. Nun bekleidete er den Posten des Produktionsdirektors im Eisenhüttenkombinat Ost. Nach Jakobs Tod stand er mir beim Umzug bei und fuhr mich und die Kinder in seiner russischen Staatskarosse namens Wolga spazieren; er war immer da, wenn ich ihn brauchte. Ich mochte seine Geradlinigkeit. Führende Wirtschaftsfunktionäre durften keine Westkontakte pflegen. Da Kurts Mutter in Wiesbaden lebte, hatte er seinen Arbeitsvertrag nur mit der zusätzlichen Klausel unterschrieben, dass seine Mutter ihn besuchen dürfe, so oft sie das wolle, und ihm im Falle ihres Todes gestattet werde, in den Westen zu reisen, um sie zu beerdigen. Die Mutter schickte ihm regelmäßig Horoskope an seine Dienstanschrift, was jedes Mal einen Aufruhr im Büro verursachte. Kurt, der von Horoskopen überhaupt nichts hielt, dachte nicht daran, seine Mutter zurechtzuweisen. Es ist ihr wichtig, also bleibt es dabei, wies er den Parteisekretär ab. Ende der Siebzigerjahre kündigte er seine Stelle als Produktionsdirektor und begnügte sich mit einem untergeordneten Posten, weil er sich durch die „sozialistische Misswirtschaft“ nicht sein Leben verkürzen lassen wolle. Offiziell gab er gesundheitliche Gründe an, was ihm niemand glaubte. Er wollte sich scheiden lassen und mich heiraten. Seine astrologisch bewanderte Mutter, deren Besuche meine Kinder immer sehnsüchtig erwarteten, weil sie ein gemütliches Hessisch sprach und eine lustige Spielgefährtin war, warnte ihn, unsere Beziehung stünde unter keinem günstigen Stern. Ich war ihr dankbar für den Einspruch, bei Kurt stieß er auf taube Ohren. Er ließ sich dennoch scheiden und heiratete, als ich ihm alles Gute für eine Zukunft ohne mich wünschte, eine andere. Ich hörte nie mehr von ihm, bis ich im Herbst 1989 im „Neuen Deutschland“ seine Todesanzeige las. Herzinfarkt. Wie oft hatte er, der Autobesessene, davon geträumt, seinen Wolga auch einmal westwärts lenken zu können!

Ich wollte nicht immer mit Kurt verreisen, der sich mehr für den Zustand der Straßen interessierte als für das, was am Wege lag. So drängte ich meine Mutter, mit mir und den Kindern nach Böhmen zu fahren, was seit einiger Zeit wieder möglich war. Das Verhältnis zwischen ihr und mir war seit meiner Verbindung mit Jakob nie ganz problemlos gewesen, und wir hatten herausgefunden, dass wir uns am besten verstanden, wenn hundert Kilometer zwischen uns lagen und wir uns in regelmäßigen Abständen besuchten. Mutter lebte in Halle-Neustadt. Bis zum Eintritt ins Rentenalter war sie von dort aus zur Arbeit ins Leunawerk gefahren; nun freute sie sich über ihre ferngeheizte Einzimmerwohnung und kümmerte sich in der Volkssolidarität um alte und kranke Menschen.

Sie zögerte, auf mein Angebot einzugehen. Würde die Gegenwart ihre Erinnerungen an die alte Heimat nicht zerstören und die Wunden der Vertreibung wieder aufreißen? Andererseits reizte es sie, noch einmal das Dorf ihrer Kindheit und die Gräber ihrer Eltern aufzusuchen. Ich redete ihr gut zu. Aber ich hätte mich doch nie für mein Geburtsland interessiert, wandte sie ein. Das stimmte, aber meiner Gleichgültigkeit lag wohl eine verdrängte Erbitterung über die Vertreibung zugrunde. Meine Eltern konnten dorthin, wo ich geboren worden war, die ersten Worte gesprochen und die ersten Schritte getan hatte, wenigstens in der Erinnerung zurückkehren; mir blieb diese Möglichkeit für immer versperrt. Ich hatte keine Heimat und würde nie eine haben. Als ich Jakob traf, fand ich meine Heimat bei ihm. Durch ihn verband ich mich der Gegend, in der wir uns liebten, Kinder in die Welt setzten, miteinander litten und voneinander Abschied nahmen. Gerrit und Johanna lebten dort, wo sich die frühesten Eindrücke ihres Lebens mit der Landschaft unter dem wechselnden Licht des Himmels, mit Gerüchen und Klängen vermischt hatten. Sie waren von diesen Eindrücken geprägt wie Jakob von seiner Geburtsstadt Leipzig und meine Eltern von der Elblandschaft zwischen Herrnskretschen und Leitmeritz. Wenn ich meine Mutter nicht bat, mir die Orte meiner Herkunft zu zeigen und zu benennen, so empfand ich nun, würde ich bewusst und willentlich das Werk der Vertreibung vollenden. Nach ihrem Tod fiele alles in die Namenlosigkeit.

Im Hotel „Rok“ am weitläufigen Markt der alten Bischofsstadt Leitmeritz bezogen wir zwei auch für DDR-Verhältnisse schäbige Zimmer. Auf dem Platz vor den Fenstern hatte meine Großmutter Butter, Quark, Käse und Obst feilgeboten. In der nahen Jesuitengasse hatte meine Mutter als kleines Mädchen während des Ersten Weltkriegs bei Pflegeeltern gelebt. Auf dem Friedhof vor der Stadt fanden wir die Gräber der Großeltern, die lange vor meiner Geburt in den Jahren 1924 und 1935 gestorben waren, auf den Grabsteinen auch die Namen ihrer Kinder. Keines von ihnen war älter als fünfundzwanzig Jahre geworden. Geblieben war nur die jüngste Tochter. Die stand nun, inzwischen Großmutter, vor den Gräbern unter den mächtigen alten Bäumen und weinte.

Warum weinst du?, fragte die zehnjährige Enkelin.

Weil die Grabsteine mit den Inschriften noch stehen, weil sogar ein Blumenstrauß auf dem Grab meiner Eltern liegt. Wer mag ihn hingelegt haben, wir haben hier doch niemanden mehr.

Wir fuhren hinein ins Hügelland nach Kundratitz. In Hlinay stand noch die kleine Schule, die Mutter einst besucht hatte. Endlich das Heimatdorf. Das hundertfünfzig Jahre alte Bauernhaus war eben abgerissen worden, um einem Wochenendhaus Platz zu machen. Auf dem Grundstück, von dem aus der Blick sich ins Gebirge weitete, lagen noch Trümmer. Mutter wies auf dieses und jenes gemusterte oder bemalte Stück Putz: Das war die Schlafkammer, das gehörte in die Wohnstube. Dort war der Glockenstock und da der Gemüsegarten. Sie redete wie ein Archäologe, der interessierten Besuchern zum x-ten Male seine Ausgrabungen erklärt. Dann verstummte sie plötzlich, umrundete allein und in sich gekehrt das Anwesen und sagte dann nach einem langen Blick zu dem wie ein blauer Kegel aus der Landschaft aufragenden Milleschauer: Das war’s, lasst uns gehen.

Zurück in Leitmeritz, fand sie ihre Sprache und ihr Temperament wieder. Unermüdlich führte sie uns durch Straßen und in Hauseingänge: Neben der Pestsäule hatte ihre Mutter die Erträge der Bauernwirtschaft verkauft, in jener Kirche war sie eingeschlafen und über Nacht eingeschlossen gewesen, in dieser Kneipe musste sie dem Pflegevater immer einen Krug Pivo holen …

Über den Fluss fuhren wir hinüber nach Theresienstadt in die josefinische Festung und das nazistische Getto. Als wir nach der Besichtigung müde auf einer Bank saßen, fragte ich: Wusstet ihr damals von der Existenz des Judenlagers? Mutter nickte.

Und was habt ihr dagegen getan? Der aggressive Unterton in meiner Stimme wurde mir erst bewusst, als Mutter verletzt auffuhr: Was hätten wir denn tun sollen! Wer etwas sagte, kam selber ins KZ und half niemandem damit. Wer weiß, ob du dann hier sitzen und solche Fragen stellen könntest.

Jetzt war ich beleidigt. Mutter mache es sich mit einer solchen Bemerkung sehr leicht.

Du weißt nicht, wovon du redest, wies sie mich zurecht und rückte von mir ab. In diesem Augenblick fragte ein Mann im Alter meiner Mutter, der offensichtlich zur Gedenkstätte gehörte, in gutem Deutsch, ob er sich zu uns setzen dürfe. Die Sonne wärme schon, und so wolle er seine Mittagspause im Freien verbringen. Mutter lächelte ihn freundlich an und wies auf den Platz zwischen uns. Schnell kamen sie ins Gespräch. Nach wenigen Sätzen stellte sich heraus, dass der Mann aus Leitmeritz stammte und sie gemeinsame Bekannte besaßen.

Jahrgang 42. Mein Leben zwischen den Zeiten von Sigrid Grabner: TextAuszug