Verstecke, zumal in unserer Mansardenwohnung, reizten mich gewaltig. Wenn mein Bruder ein paar Süßigkeiten aus seinem Osternest, vom Geburtstags- oder Weihnachtsteller vor mir in Sicherheit zu bringen versuchte, hatte ich sein Geheimnis spätestens nach zwei, drei ungestörten Suchstunden entdeckt und noch einmal brüderlich geteilt. Beim Stöbern nach dem Schlüssel zur Speisekammer beliebteste heimliche Nascherei für meinen Bruder und mich: Haferflocken, Kakao und Zucker! entdeckte ich ganz hinten im Wäscheschrank meiner Eltern zwischen den Winterunterhosen meines Vaters einen Briefumschlag. Unverschlossen. Inhalt: Eine graue Mitgliedskarte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands! Eintritt 1928! Nun wurde mir schnell verständlich, weshalb er kein einziges freundliches Wort für unseren Führer über die Lippen brachte, kein Lob dafür, dass es im ganzen Reich keine Arbeitslosen gab, dafür mit Kraft durch Freude Ferienheime, Urlauberschiffe und Sport, die Autobahnen durch ganz Deutschland, die Gerechtigkeit am Eintopfsonntag, wenn alle Volksgenossen, ob reicher Unternehmer, Wissenschaftler, berühmter Künstler, einfacher Angestellter oder Arbeiter, eben die ganze Volksgemeinschaft sich vereint zum Mittagessen mit einer Suppe begnügten. Einer für alle, alle für einen, das lockte ihm nur schiefe Lippen ins Gesicht.
Und er reagierte lange Zeit nicht, wenn ich zu Hause von unserem Klassenlehrer schwärmte, bei dessen Unterricht wir uns sogar auf die Mathestunden freuten. Er war Politischer Leiter in der nsdap. Oft trug er auch in der Schule seine gelbe Uniform mit dem goldenen Hakenkreuz. Wenn mein Vater mich außer Hörweite wähnte, nannte er ihn wegen der Kluft spöttisch Goldfasan. Das machte mich wütend, zumal mein Vater Soldat wurde, also für Führer, Volk und Vaterland sein Leben einsetzte. Jedenfalls hieß das so damals.
In jener Zeit entstand meine erste, zum Literarischen neigende Schreibe, und ich lernte so zeitig, wie eng im Schöpferischen Süßes und Bitteres zusammenliegen. Obwohl zuweilen mit der Rechtschreibung im Kriegszustand, gehörte Deutsch schon bald zu meinen Lieblingsfächern. Damit wurde ich schnell und bis zum letzten Schuljahr zum Lehrerschreck: Kein Hausaufsatz unter zwölf Heftseiten! Nicht selten erledigte ich diese Aufgabe auch noch mit Vergnügen für meinen Banknachbar, der dafür meine Schularbeiten in dem von mir weniger geliebten Fach Mathematik übernahm. Weitsichtig flocht er dabei immer zwei, drei Fehler mit ein, um den Lehrer hinsichtlich meiner Leistungen im Unterricht nicht misstrauisch werden zu lassen.
Aber zum Fakt. Deutschaufgabe für Zuhause: Aufschreiben von Wörtern mit x, cks, chs und gs. Ich nuckelte am Küchentisch eine Weile am Federhalter und fand die Sache gleichermaßen so langweilig wie schwachköpfig. Wörter gehören nicht in eine Liste, sondern in Geschichten, dachte ich. Sofort begann der Spaß am Schreiben und Fabulieren. Da nahm der Förster Max seine Axt, ging in den Wald, vorbei am Bau des Dachses, aus dem ein Fuchs flugs wie ein Echse im dichten Gewächs der Flachspflanzen verschwand, ohne den Klecks einer Spur zu hinterlassen. Das war für Max kein Jux ... und so weiter, und so weiter. Drei Heftseiten!
Am nächsten Tag im Unterricht schnalzte ich mir beim Wortmelden fast den Finger wund. Erfolgreich. Ich durfte meine Hausarbeit vorlesen. Sieben Klassenkameraden spendeten spontan Beifall, sogar Schleimi, unser Einsenkönig und Angeber. Nur Moro, der Deutschlehrer, blieb merkwürdig kühl. Er winkte mich nach vorn, würdigte mein Heft mit keinem Blick, sondern kniff mich linkshändig mit Daumen und Zeigefinger sehr fest in die rechte Wange. Sein Lieblingsgriff, erfunden scheinbar in einem mittelalterlichen Folterkeller. So schmerzhaft von ihm gepackt, zerrte er hinter seinem Tisch meinen Kopf herab bis zur Höhe der Platte, holte dann weit aus und landete eine wuchtige Ohrfeige. Sie glühte noch in der zweiten Pause auf meiner Wange. Bevor er mich wieder zurück auf meinen Platz schickte, gab er mir für die Stunde und mein ganzes Leben mit auf dem Weg: Wenn dir eine Aufgabe gestellt wird, ist nicht denken, sondern Gehorsam verlangt, sonst setzt es Strafe! Ich habe mir das gemerkt freilich nur sehr, sehr selten danach gehandelt! Trotz der dann tatsächlich vorausgesagten Folgen.
Zurück zu meinem Vater. Dass er im Krieg nur als Sanitäter diente, also nicht mit Kanone, Maschinengewehr oder Panzerfaust Feinde des Reiches umbrachte, behielt ich in der Schule und beim Dienst als Pimpf im Jungvolk, Fähnlein 4, verschämt ganz für mich. Dafür wussten ganz schnell alle Freunde und Kameraden in Schule und Jungzug von mir, dass mein Väter zum Gefreiten befördert wurde und ein Kriegsverdienstkreuz bekommen hatte. Ich behielt auch meinen Stolz auf ihn, wenn er im Urlaub stets eine aus meiner Sicht höchst merkwürdige, unglaubliche Schau abzog. Angeblich funktionierte dann jeden Abend unser kleines 35-Mark-Radio, die sogenannte Goebbelsharfe, nicht mehr. Ein lichtempfindlicher Teil, so erklärte mein Väter, werde durch das lange Einschalten müde und müsse innen an den Kontakten gereinigt werden. Ohne den kleinsten Lichtstrahl! Die Reparatur gelänge also nur in absoluter Dunkelheit. Deshalb kroch er unter eine dicke, dichte Wolldecke und hantierte dort an dem Apparat manchmal länger als eine halbe Stunde. Danach klappte es wieder mit dem Empfang der deutschen Reichssender auf Mittelwelle. Auch in den Wochen und Monaten ohne meinen Vater. Die Mutter reparierte nie. Viel später, im Frühjahr 1945, verriet sie den Grund dafür: Kein Interesse an den deutschen Sendungen von Radio London und Radio Moskau! Allein schon, weil man für das Abhören dieser sogenannten Feindsender ins Gefängnis oder sogar in ein Konzentrationslager gebracht werden konnte. Deshalb auch meines Vaters Angst, ich oder mein kleiner Bruder könnten geschwätzig in der Schule oder sonst irgendwo mal davon erzählen. Die Geheime Staatspolizei (GESTAPO) hatte überall Denunzianten.
Wegen der Konzentrationslager kam es dann auch zur ersten und einzigen Ohrfeige, die mir mein Vater versetzte. Der Schmerz traf bis ins Herz. Die Seelenwunde sollte erst im April 1945 heilen. Der Schlag passierte, wenn ich mich recht erinnere, in einem sogenannten Fronturlaub meines Vaters im Mai 1940. Die Zeit ist mir im Gedächtnis geblieben, weil meine Eltern während dieser zwei Wochen ihren Hochzeitstag und meines Vaters Geburtstag feierten. Schönes Maiwetter. Vierzehn Tage jeden Mittag Fleisch und nachmittags Kuchen. Trotz Lebensmittelkarten und manchmal Essen in Gaststätten. Drei Tage vor dem Ende des Urlaubs, beim Mittagessen, geschah es dann aus heiterster Stimmung heraus.
Mutter fragte mich wie mindestens ein Dutzend Mal wöchentlich, wie es denn in der Schule gewesen sei. Rechnen, Musik, Deutsch abgehakt mit zwei, drei Sätzen. Aber an diesem Tag hatte auch wieder Napoli auf dem Stundenplan gestanden. Nationalpolitischer Unterricht.
Mein Lieblingslehrer hatte, wie immer sehr bildhaft und überzeugend, über die Konzentrationslager gesprochen. Zum Beispiel auch über das KZ Buchenwald auf dem Ettersberg nahe bei Weimar. Wie er uns erklärte, ein Ort, wo Feinde der Volksgemeinschaft hinter Stacheldraht eingesperrt werden. Menschen, die mit Worten und Handlungen dafür seien, dass Deutschland an allen Fronten den Krieg verliert, dass unser Führer Adolf Hitler getötet wird, wieder Arbeitslosigkeit herrscht, Juden und Kommunisten regieren, Bettler vor Kaufhäusern hocken, Faulenzer und Landstreicher die Gegend unsicher machen, Mörder, Räuber, Sittlichkeitsverbrecher und Säufer wie früher nach ein paar Jahren Zuchthaus wieder im Volk Schaden anrichten können. Menschlichen Abschaum nannte er diese Leute.
Ich merkte anfangs nicht, wie das Gesicht meines Vater während meiner Worte zu glühen begann. Noch mitten in meinen letzten Worten sprang er auf, stieß seinen Teller weg, holte aus und versetzte mir rechts und links Ohrfeigen, dass mir für Augenblicke dunkel vor den Augen wurde. Vor Schreck empfand ich nicht einmal Schmerz. Auch mein Vater erstarrte kurz, schaute mich an wie einen Fremden und verließ wortlos den Raum.
Meine Mutter presste die Lippen zusammen. Sie hielt meinen Blick aus. Es dauerte eine Weile, bis ich eine leise Antwort auf meine stumme Frage bekam. Dein geliebter Onkel Rudi ein Volksfeind? Abschaum?