Beelitz hat das Ohr am Weltall. Es empfing aus dem Kosmos das erste Piepiep, mit dem Hühnchen Sputnik die Eierschale der Weltraumforschung aufpickte. Das Funkamt in Beelitz war damals in aller Munde. Manch einer mag sich deshalb eine Stadt der Wissenschaft und Technik vorgestellt haben und enttäuscht gewesen sein, einen Flecken vorzufinden, dem die bäuerliche Vergangenheit noch aus den Knopflöchern guckt. Aber man darf Beelitz nicht nach dem Durchfahreindruck beurteilen.
Beelitz ist ein Ackerbürgerstädtchen, aber eins mit Geschichtsbewusstsein und eins, das zu feiern versteht. Alle zwei Jahre arrangiert es ein großes Volksfest. Die Hauptattraktion war die Siebenhundertfünfzigjahrfeier, an der sich jeder Beelitzer, der Kopf und Beine hatte, auf irgendeine Weise beteiligte. Der Maler und Grafiker Kurt Verch hatte an den Quellen der Heraldik gegraben und das ursprüngliche Wappen, das vorhohenzollernsche, zutage gefördert. Roter Schlüssel auf weißem Grund, flankiert von zwei Halbmonden, das bedeutet, „die Stadt soll dauern vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen“. Eine seidene Fahne, auf die eine alte Beelitzer Bürgerin das Wappen gestickt hatte, wurde von Herolden dem historischen Umzug vorausgetragen. Ihnen folgten die Bauern aus Zauchwitz mit der „750“ in der Standarte und – in prächtig mittelalterlichen DEFA-Kostümen – die Dorfschulzen aus Markendorf, Niendorf und Dorf im Ritterfeld. Diese drei Ansiedlungen gehörten nämlich dem „amtierenden“ Ritter Beliz, nach dem das Städtchen später seinen Namen bekam. Es war so armselig, dass ihm der Kurfürst zeitweilig die Abgaben erließ, nur der Erzbischof von Magdeburg, der nie genug kriegen konnte, schickte seine Leute aus, um den Zehnten einzutreiben. (Es hatte einige Überredungskünste gekostet, bis der Handwerksmeister Fritz Lamster bereit war, die Rolle des Zehnteneintreibers zu spielen.)
Die Bauern aus Stücken kamen mit Beutewagen daher, als Landsknechte verkleidet, Männer, Frauen und Kinder als Geiseln mit sich führend. Die hatten Mühe, bei all dem ausgelassenen Treiben ein angemessen trauriges Gesicht aufzusetzen, stellten sie doch die letzten Seelen des schrecklichen Überfalls dar, bei dem 1478 Beelitz in einen Trümmerhaufen verwandelt wurde.
Mittelalterlich erschien auch der Spielmannszug aus Seddin, die Gilde der Stadtpfeifer markierend. Die Handwerksmeister und Gesellen der Stadt Beelitz ließen es sich nicht nehmen, in die unbequemen Trachten ihrer Zunft zu steigen. Die Bäcker schleppten ein Achtpfundbrot, die Lehrlinge schrien hurra! und warfen mit Brezeln um sich, und Fleischermeister Rösler trug heroisch sein Dreizentnerlebendgewicht über die drei Kilometer lange Umzugsstrecke. So weit war er wohl schon lange nicht mehr gelaufen, aber was tut man nicht alles für seine Stadt …
Der zweite Bürgermeister, Manfred Polenz, war mit seinen ein Meter neunzig prädestiniert, einen langen Kerl zu spielen. (Wie viele der armen langen Kerls wurden hier, kurz vor der rettenden sächsischen Grenze, noch erwischt und nach Potsdam zum Spießrutenlaufen gebracht.) Barockgekleidete Damen und Herren, eingepfercht in die aufgemöbelte Niemegker Postchaise, kündeten davon, dass allhier im Jahre 1724 auf der Route Berlin–Beelitz–Halle–Leipzig eine Posthalterei eröffnet wurde. Die Posthalterei ist neu hergerichtet, da steht deutlich lesbar: Expedition und Passagierstube, und über dem Torbogen schwebt frisch lackiert der toppschwarze Postadler. Weiter im Zuge konnte man den Beelitzer Landsturm bewundern, in stilgerechten Monturen aus den Befreiungskriegen. Es fehlte auch nicht jener legendäre Feldhüter Koppe, der damals den Tettenbornschen Reitern entgegenging, um zu berichten, wo die sechzehntausend Napoleoner ihr Lager aufgeschlagen hatten. Auf Pfaden, die nur den Einheimischen bekannt waren, führte er sie durch die sumpfigen Niederungen der Nieplitz in die Flanke des völlig überraschten Feindes. So blieb die Stadt für dieses Mal verschont.
Ein Eisenbahnmodell dokumentierte, dass Beelitz im Jahre 1868 Bahnanschluss bekam. Damen und Herren Reisende wurden gebeten, pleureusengeschmückte Hüte und Zylinder während der Fahrt festzuhalten und zur anschließenden Reinigung ein Fläschchen Eau de Cologne mit sich zu führen.
Nicht vergessen sei aus jenem historischen Zug die lebendige Erinnerung an Karl Friedrich Wilhelm Herrmann, der zum ersten Male Spargel anbaute und den Grund legte für den guten Ruf der Stadt bei allen Feinschmeckern des In- und Auslandes. Aber ach, der Spargel ist heute bei den Beelitzern als zu arbeitsintensiv verschrien, und solange kein automatischer Spargelstecher erfunden ist, wird er wohl hierzulande eine Rarität bleiben …
Kehren wir mit dem Lehrer Günther Hesse, der diesen lehrreichen und vergnüglichen historischen Umzug einfädelte, zurück in die Gegenwart. Hesse ist echter Beelitzer, mit Nieplitzwasser getauft. Als er geboren wurde, 1930, gab es im Städtchen eine einzige ansehnliche Fabrik, sie gehörte Fabian und Meyer, und es wurden darin Rucksäcke und Gamaschen hergestellt. Bis 1936. Dann kam Dr. Hugo Drenker, der besaß neben einer arischen Großmutter – die Fabian und Meyer nicht vorweisen konnten – auch genügend Ehrgeiz, um sich rasch bei allen Beelitzern gefürchtet zu machen. Er stellte den Betrieb auf Obst und Gemüse um, und in dem Maße, wie sich Butter in Kanonen verwandelte, stieg seine Marmelade in Wert und Ansehen.
Mit Holzschemel und Küchenmesser als Produktionsmittel schufen Hunderte fleißiger Frauen dem sauberen Herrn ein Vermögen. Die billigsten Arbeiterinnen waren die polnischen Mädchen, die in plombierten Viehwaggons kamen. Sie kosteten fast gar nichts, und wehe, sie bewegten sich nicht flink genug … Niemand wagte, Drenker zu widersprechen, seit er zum Hauptgoldfasan der Stadt aufgestiegen war. Die Macht machte ihn blind und taub. Noch am 22. April 1945 ernannte er den damals vierzehnjährigen Günther Hesse zu seinem „Adjutanten“, drückte ihm eine Panzerfaust in die Hand, beschlagnahmte dem nächstbesten Passanten das Fahrrad und befahl dem Knaben, unverzüglich nach Dobbrikow zu fahren, dort den ersten der herannahenden sowjetischen Panzer abzuschießen und auf schnellstem Wege zurückzukehren mit der Meldung, sofort auch in Beelitz die Panzersperren zu schließen. Zum Glück sagte Günther vorher seiner Mutter Bescheid. Die nahm ihn am Schlafittchen, schloss Fahrrad und das Dingsda weg und sperrte den Jungen ein, denn sie wollte ihn nicht in letzter Minute auf so widersinnige Weise verlieren.
In derselben Nacht aber requirierte der Goldfasan ein anderes Fahrrad, streifte seine verräterischen goldenen Federn ab und strampelte unerkannt in die Richtung, wo er die US-Army vermutete. Zwölf Jahre später, 1957, schrieb Frau Drenker, sie beabsichtige, die Fabrik zu verkaufen, und man solle ihr zu diesem Zwecke die Einreiseerlaubnis schicken. Der Brief wurde der Stadtverordnetenversammlung vorgelegt und erregte allgemeine Heiterkeit. Am herzhaftesten aber lachte der Stadtrat für Kultur und Lehrer für Geschichte, Günther Hesse.
Was war denn nach dem überstürzten Abgang des Dr. D. geschehen? Am 24. April hatte die Rote Armee Beelitz eingenommen, ohne dass ein Schuss gefallen war. Die Bäcker buken schon wieder Brot, das Wasser sprudelte schon wieder aus der Leitung, alle Fensterscheiben waren noch heil. Das große Aufatmen hatte begonnen. Über die Schwelle des Hauses, in dem Frau Hesse mit ihren Kindern gut über alle Schrecken hinweggekommen war, trat ein junger Fliegeroffizier, brach das Brot mit ihnen und sagte strahlend: „Nu, morgen Tag schjon! Krieg bald zu Ende!“
Stattdessen begann die zusammengewürfelte Armee des Generals Wenck den Sturm auf Beelitz. Die sowjetischen Soldaten, die mit einem solchen Akt des Irrsinns wohl nicht gerechnet hatten, griffen mit Erbitterung zu den Waffen, Flugzeuge kamen zu Hilfe, ein Sturm aus Feuer und Eisen brach los. Als es wieder still wurde, fand man in den Wäldern zwischen Borkheide und Beelitz zweihundertfünfzig tote deutsche Soldaten, die meisten davon nicht viel älter als Günther.
Man kann sich heute kaum noch vorstellen, welches Chaos hinterlassen wurde, aber ein Mann wie Wilhelm Masthoff, Mitglied der KP seit 1929, weiß es anschaulich zu schildern. Angeklagt wegen Vorbereitung zum Hochverrat, kam er dann ins Zuchthaus Luckau, später nach Sachsenhausen. Fünfundvierzig kehrte er als freier Mann nach Beelitz zurück, nahm sich jedoch nicht die Zeit, sein geschundenes Herz auszukurieren und sich ein paar Gramm Fett auf den ausgezehrten Körper zu futtern. Als Bezirksbürgermeister war er verantwortlich für die Stadt und vierunddreißig Dörfer. Viele Nächte verbrachte er auf unbequemen Sitzsofas in irgendwelchen Dorfgasthöfen, an den Schreibtischen in fremden Bürgermeisterstuben. Oft lag seine Frau zu Hause schlaflos, weil sich in den Wäldern nach Borkheide lichtscheues Gesindel herumtrieb, das es vor allem auf Leute abgesehen hatte, die versuchten, Ordnung in das Chaos zu bringen. Übers Wochenende fuhr er mit ein paar Helfern ins Braunkohlenrevier nach Senftenberg, um mit eigenen Schaufeln Kohlen aufzuladen, damit die Bäcker am Montag wieder backen konnten.
Eines Morgens stand er früh um vier im Kuhstall einer Großbäuerin in Rieben. „Du sagst, deine Kuh gibt so wenig Milch?“ – „Ei ja, hat doch nichts Rechtes zu fressen. Zweieinhalb Liter, mehr gibt sie nicht her, ich kann’s Ihnen ja vorführen!“ Sie setzte sich auf den Schemel, und tatsächlich, nach zweieinhalb Litern versiegte der weiße Strahl. Triumphierend hielt sie ihm den Eimer hin. „Na, dann werde ich ihr mal gut zureden“, sagte Wilhelm Masthoff, hockte sich auf den Schemel und molk noch ganze acht Liter heraus. „Nehmen Sie mich jetzt mit?“, jammerte die Frau. „Nee“, sagte er, „was soll ich mit dir im Kittchen, melk du man lieber besser. Acht Liter will ich jetzt jeden Tag von der Kuh. Himmeldonnerwetter, habt ihr kein Herz, es ist doch nicht für mich, sondern für die Beelitzer Kinder!“
Im Nu sprach sich in allen Dörfern herum: „Der neue Bürgermeister kann melken!“ Und die Kurve in der Milchablieferung stieg zusehends.
Bei einem Müller vermutete er hinter einem verschlossenen Lattenverschlag etliche Zentner Brotgetreide. Der Müller tat beleidigt, als wüsste er von nichts. Bis der Schlosser kommt, um das Schloss aufzumachen, hab ich die Säcke längst in Sicherheit, dachte er. Doch der Bürgermeister war gelernter Schlosser, er öffnete das Schloss mit Leichtigkeit und klopfte dem Müller fröhlich auf die Schulter. „Sieh her, Alterchen, sechzig Säcke mit kostbarem Brotgetreide! Du weißt gar nicht, was du für Schätze in deinem Schuppen hast, aber die Staatsmacht weiß es!“