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Neuer Märkischer Bilderbogen. Reporterin zwischen Havel und Oder von Gisela Heller
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Preis E-Book:
9.99 €
Veröffentl.:
03.08.2019
ISBN:
978-3-95655-826-9 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 590 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Kurzgeschichten, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Politik, Belletristik/Kulturerbe
Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories, Generationenromane, Familiensagas, Revolutionen, Aufstände, Rebellionen, Zweiter Weltkrieg, Brandenburg
2. Weltkrieg, Teupitz, Scharmützelsee, Peitz, Erkner, Gerhart Hauptmann, Bad Freienwalde, Fontane, Chorin, Gransee, Fürstenberg, Ruppin, Rhinluch, Prignitz, Heiligengrabe, Friesack, Rathenow, Fläming, Luckenwalde, Glindow, Schwielowsee, Werder
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Wenn sich Rüdersdorf ein Seebad zulegte, so hätte sich die aus der Streusiedlung des ersten Heidedistrikts hervorgegangene Gemeinde Erkner mit weitaus größerer Berechtigung wenigstens Luftkurort nennen können. Aber Gemeindevorsteher Catholy war nicht dafür. Er war fürs Solide, fürs Althergebrachte, für Kaiser Wilhelm und Bismarck und den neuen Amtsvorsteher Busse, der so großen Wert darauf legte, mit „Herr von Busse“ angeredet zu werden, denn Amtsvorsteher konnte schon jeder Bürgerliche werden.

Als im Jahre 1882 die Berliner Dampfvorortbahn bis Erkner verlängert wurde, nahm der sonntägliche Ausflugsverkehr derartige Formen an, dass – wie Catholy grimmig zu bemerken pflegte – „die Vögel im Walde vor Schreck verstummten“.

In der Woche waren die Heidebewohner wieder unter sich. Der Milchmann quälte sich mit seinem Wägelchen durch den Sand – Straßen waren zwar schon geplant, aber noch lange nicht gepflastert und die Imker saßen vor dem Haus, gemächlich nach den Bienen blinzelnd. Einzige Abwechslung boten die wenigen Sommergäste, die für längere Zeit Quartier bezogen hatten.

Ein paar findige Handwerksmeister der Gegend, die durch Glück und verbissenen Fleiß zu Geld gekommen waren, hatten hier draußen, weit vor den Toren der größer und größer werdenden Stadt, wohlfeile Landhäuser errichtet, die sie an gut situierte Sommergäste vermieteten. Nikolaus Lassen war so einer. Seine Villa trug noch den Stempel der Schinkelschule, was gewiss nicht auf Kosten seines eigenen Geschmacks ging.

Die Hausbesitzerfamilie richtete sich mit zwei weiteren Mietparteien in den oberen sechs Räumen ein, während die Beletage für sehnsüchtig erwartete Sommergäste frei blieb. Herr Lassen näherte sich den Mietwilligen stets mit äußerster Zuvorkommenheit und Devotion – bis er den Mietvertrag in der Tasche hatte.

Gemeindevorsteher Catholy kannte seine Pappenheimer, er wusste alles, und das Gefühl, Macht zu haben über andere, auch wenn es sich nur um tausendfünfhundert Seelen eines armen Heidedistrikts handelte, versöhnte ihn mit der verhassten Tintenkleckserei. Eines Tages betrat ein schmächtiger junger Mann die Amtsstube, um sich und seine Frau für vier Jahre ins Einwohnerregister einzutragen; er habe die untere Etage der Villa Lassen gemietet. Der Mann hinter der Barriere spürte so etwas wie Mitleid. Dieser Jüngling mit den edlen Zügen, der so bleich aussah wie der Tod und der seine junge Frau wohl bald zur Witwe machen würde, sollte dem rüden Hauswirt gewachsen sein?

Andererseits, je mehr Fragen der Gemeindevorsteher stellte – rein routinemäßig natürlich –, desto größere Zweifel kamen ihm. Warum gab der Fremde einmal als Beruf Bildhauer an und dann wieder Rentier? Und warum räumte er ein, während der vier Jahre sicher des Öfteren für längere Zeit abwesend zu sein? So sehr war Catholys Spürnase beschäftigt, dass er die einfachsten Dinge durcheinanderbrachte. Außer dem Eintragungsdatum, dem 20. September 1885, stimmte fast nichts. Aus dem Geburtsort Salzbrunn, Kreis Waldenburg in Schlesien, wurde Zalzbrunn, Kreis Waldau in Schlisien; den Vornamen Gerhart verwandelte er in Gebhard – nur der Familienname war korrekt: Hauptmann.

Als noch unbekannter Dichter war er nach Erkner gekommen, vier Jahre später galt er als Haupt der deutschen Naturalisten. Er hat Erkner berühmt gemacht und einige seiner Zeitgenossen unsterblich blamiert. Doch das steht auf einem anderen Blatt.

Nach amtlichen preußischen Maßstäben gemessen war der junge Hauptmann ein Versager. Sein Großvater, ja, der war aus anderem Holz gewesen, der hatte sich vom armen schlesischen Weber zum Gastwirt und Hotelbesitzer emporgearbeitet – gewissermaßen eine kleine schlesische Rockefellerstory! Und der Vater hatte das Erreichte ausbauen können, indem er die liebenswürdige, aber glanzlose Tochter des fürstlichen Brunneninspektors heiratete, der den einträglichen Badebetrieb verwaltete.

Sohn Gerhart, das jüngste von vier Kindern, war mit seinen blonden Locken und den niedlichen Grübchen der Liebling der noblen Hotelgäste, vornehmlich der sentimentalen russischen und polnischen Adligen.

Eine seiner frühesten Erinnerungen: Er ist dem Kindermädchen ausgerissen und rauft auf einer Wiese wonnetrunken die zierlichen Blüten des Wiesenschaumkrautes, türmt sie zu schneeigen Hügeln. Er will ihre Schönheit besitzen, er ganz allein; und muss weinend erkennen, dass er sie totgemacht hat.

Gerhart war ein Kind der Natur, nahm sie mit allen Sinnen und durch alle Poren auf; die Schule hingegen mit ihrem eingebläuten Buchstabenkram war ihm ein Gräuel. Natur bedeutete ihm mehr als Wiese und Wald, Berg und Tal, Natur schloss den Menschen ein, und zwar alle Menschen, die vornehmen, eleganten aus der Hotelhalle und dem Kurtheater, die immer nach feiner Seife dufteten, und die anderen, die hinten auf dem Hof in der Kutscherstube tranken, fluchten und stinkenden Knaster rauchten, oder die Bergleute und Gaswerkarbeiter, die stumpf und schweigend in Kolonnen täglich vorüberzogen.

Die Gymnasiastenzeit übersteht er mit Ach und Krach, geht, nachdem er sich in Oberquarta zweieinhalb Jahre aufgehalten, vorzeit ab, um bei Verwandten auf dem Gut als Eleve die Landwirtschaft zu erlernen, wird lungenkrank, bereitet sich privat aufs „Einjährige“ vor, fällt durchs Examen, schließt sich einer jugendlich-verworrenen Gruppe an, die pangermanistischen und sozialreformistischen Utopien anhängt, versucht sich in entsprechenden dichterischen Gesängen, erlebt die berühmte Theatergruppe unter dem Herzog von Meiningen und – will Schauspieler werden, nein, doch lieber Bildhauer. Er besucht die Kunst- und Gewerbeschule, kann tatsächlich mit dem „Einjährigen“ abschließen, muss sich die letzte Strecke des Weges buchstäblich durchhungern, denn das elterliche Hotel ist unter den Hammer gekommen, die monatlichen Wechsel bleiben aus. Da springt Marie, seine Verlobte, ein, und er kann weiterstudieren: Philosophie, Vererbungslehre bei Haeckel in Jena, Kunstgeschichte; nicht lange und immer im Schlepptau seines älteren, erfolggewohnten Bruders Carl, der den Einundzwanzigjährigen auch auf eine Mittelmeerreise mitnimmt.

Genua–Capri–Rom … er ist überwältigt, versucht seine Gedanken und Gefühle in Gesänge zu fassen. Vielleicht sollte er überhaupt Dichter werden? Nein, doch lieber Bildhauer. Hauptmann mietet in Rom ein Atelier, beginnt sofort mit der Kolossalstatue eines germanischen Kriegers, verarbeitet wie besessen mehrere Zentner Ton, ohne die Gesetze der Statik zu beachten. In der zehnten Woche bricht der kolossale Krieger zusammen und mit ihm sein ehrgeiziger Schöpfer. Er erkrankt an Typhus und schwebt lange zwischen Leben und Tod. Marie kommt, um ihn gesund zu pflegen, sie bezahlt auch sein weiteres Studium in Berlin und den Schauspielunterricht bei Alexander Heßler, den er später als Theaterdirektor Hassenreuther in dem Drama „Die Ratten“ berühmt machen wird. Aber noch ist er ein Nichts, eine Schaumkrone auf den wilden Wogen der Großstadt, und er treibt es mit seiner empfindlichen Gesundheit so toll, dass ein Arzt ihm lakonisch sagt: „Wenn Sie ein halbes Jahr so weitermachen, sind Sie nicht mehr ein junger, sondern ein toter Mann!“ Was tut ein sinnenfreudiger und lebenshungriger Mann angesichts solcher Aussichten? Er geht in sich – und heiratet.

So kam Gerhart Hauptmann als junger, sterbenskranker Mann nach Erkner. Die Beletage der Villa Lassen konnte er nur mieten, weil seine Frau Marie, Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns, ein ansehnliches Vermögen in die Ehe eingebracht hatte.

Was Erkner für die beiden Jungvermählten damals bedeutete, hat Hauptmann Jahrzehnte später im „Abenteuer meiner Jugend“ beschrieben: „Diesem Wechsel des Wohnorts“, heißt es da, „verdanke ich nicht nur, dass ich mein Wesen bis zu seinen reifen Geistesleistungen entwickeln konnte, sondern dass ich überhaupt noch am Leben bin. Nicht nur meine ersten Geisteskinder, sondern auch drei von meinen vier Söhnen sind in Erkner geboren … Unser Leben war schön. Natur und Boden wirkten fruchtbar belebend auf uns. Wir waren entlegene Kolonisten.

Die märkische Erde nahm uns an, der märkische Kiefernforst nahm uns auf. Es war im Herbst, als wir unsere abgelegene Villa bezogen und einrichteten. Die Monotonie des Winters stand vor der Tür. Zu unserer Sicherheit hatte ich in einer Hamburger Menagerie zwei echte lappische Schlittenhunde gekauft … die einigermaßen im Zaum zu halten mir viel Mühe gekostet hat; Schlaf- und Wohnräume lagen im Parterre; der Schutz dieser beiden Wölfe wurde notwendig.

So war ich instinktgemäß zur Natur zurückgekehrt. Mary liebte wie ich das Landleben. Einsamkeiten und Verlassenheiten schreckten uns nicht.“

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