Mit dem Gedanken, über 24 Stunden unter der Apparatur gelegen zu haben, konnte Ursula sich nicht anfreunden. >Woher bekomme ich Gewissheit?! Das Radio!< Sie schaltete den kleinen Empfänger in Nicoles Küche ein. Musik erklang von den wenigen Sendern - natürlich keine Datumsangabe. Allerdings, dieser Bärenhunger! Ursula bestrich die vierte Knäckebrotscheibe mit der leicht ranzigen Butter. >Der Fernseher! Läuft auf den Testbildern nicht die Zeit? Meine Armbanduhr, ich Kamel!<
Aber plötzlich warf sie, was sie in Händen hielt, auf den Tisch und rannte, als sei der Teufel hinter ihr her, ins Badezimmer. Um Haaresbreite wäre sie wegen des wegrutschenden Läufers im Korridor gestürzt.
Ursula stand atemlos vor dem Spiegel, starrte voller panischer Angst hinein und erschrak zutiefst, obwohl so gewollt und darauf gefasst. Kein Zweifel, Nicole sah ihr entgegen, mit gerötetem, ein wenig verquollenem Gesicht zwar, aber ohne Zweifel: Nicole!
Ursula schaltete die Seitenleuchten des Schranks zu, schwenkte die Spiegel, auch den vergrößernden, beugte sich vor, betrachtete sich lange, schnitt sich Grimassen, auch wenn es leicht schmerzte, und fuhr mit den Fingerkuppen über bestimmte Partien von Nicoles Gesicht. Dann wusch sie sich mit kaltem Wasser, tupfte die Haut trocken, verrieb ein wenig Creme - immer durch größere Pausen unterbrochen, in denen sie sich wieder und wieder betrachtete.
Einen Augenblick griff sie die Idee wieder auf, ihre Brüste passten nicht zu diesem Gesicht. Sie hob sie an, formte mit den Händen nach. Doch dann lachte sie hellauf. >Wer schon sollte und bei welcher Gelegenheit auch immer und aus welchem Grund beurteilen wollen, ob die Brüste einer Frau zu ihrem Gesicht passen oder nicht. Wenn ich Nicoles Körper nicht kennen würde, fiele mir solches gar nicht auf!<
Es war, als nähme dieses Lachen allen Druck, alle Angst von Ursula. Sie vergaß die Brust, schnitt sich eine letzte Grimasse, merkend, dass noch eine gewisse Taubheit der Gesichtsmuskeln spürbar war, dachte den Bruchteil einer Sekunde daran, dass auch ihre Zähne kleine Unterschiede zu denen Nicoles aufwiesen, tanzte in die Küche, genehmigte sich einen großen Schluck Wein und weitere zwei Scheiben Knäckebrot, stellte fest, dass die Prozedur tatsächlich an die 36 Stunden gedauert hatte. >Ich habe ja auch geschlafen<, tröstete sie sich. >Und wenn schon, was sind sechsunddreißig Stunden für ein solches Ergebnis!<
Bei all den Verrichtungen dachte sie nur einen Satz: >Es funktioniert!< Und sie hätte in diesem Augenblick nicht zu sagen vermocht, welche die Ursache ihrer aufkommenden unbändigen Freude war: dass ihr äußerer Identitätsverlust sie nunmehr endgültig von Bergers Verfolgung bewahren würde oder dass das von ihr in jahrelanger, entbehrungsreicher Forschungsarbeit entwickelte Verfahren zur Wandlung der Zellstruktur ein derart hervorragendes Ergebnis zeitigte. Jawohl, hervorragend.