Manchmal fuhr ein Auto an ihnen vorbei, in den engen Kurven und bei der Glätte fuhren sie langsam und mit aufgeblendeten Scheinwerfern.
Suse fühlte sich nicht müde. Sie lief auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit anderen Kindern auf den Schneewällen entlang, die der Pflug zusammengeschoben hatte. Sie lachten, wenn einer von ihnen einbrach, und sie machten sich einen Jux daraus, einzubrechen. Die Schneedecke war sehr fest. Sie mussten schon kräftig springen und sich mit dem ganzen Gewicht ihrer Körper eindrücken. Renate filmte Suse wieder.
Suse blieb auf der anderen Seite der Straße. Renate hörte ihr Lachen, und da sie nicht wusste, worüber gelacht wurde, begann sie sich zu ärgern. Konnte Suse nicht an ihrer Seite gehen? Sie zog den Schlitten bergauf, Suse tollte mit den Elkes und Olafs hinauf. Die Kinder waren noch immer nicht müde, sie hatten die Nebeltage hinter sich und blühten auf an der frischen, kalten Luft.
Suse sollte herüberkommen. Das Ortsschild war erreicht, bis zum Heim hatten sie noch tausend Meter. Man könnte den Weg abkürzen.
Renate winkte Suse zu und sah das Auto erst, als es um die Haarnadelkurve rutschte, aus der Spur kam und schlingerte.
„Warte doch noch“, rief sie.
„Ich fliege“, rief Suse, „ich fliege jetzt los!“
Sie hörte den Ruf ihrer Mutter nicht mehr, sie dachte vielleicht auch: Ein Auto, was ist das schon, in der Stadt fahren viel mehr Autos, und ich muss dreimal über die Straße, wenn ich zur Schule gehe. Sie lief. Nur wenige Urlauber wurden Zeugen des Geschehens. Es geschah lautlos und plötzlich. Der Wartburg war schnell heran. In der Dämmerung täuschten die Entfernungen.
Renate schrie, als sie Suse vor dem Auto sah. Man hörte nicht den Motor des Wagens. Er konnte nicht schnell gefahren sein, denn er stand gleich. Und nur Renate schrie. Auch der Fall war nicht zu hören.
Suse lag schräg auf der Straße, den Kopf in der Spur des schmutzigen, zermahlenen Schnees, die Beine leicht angewinkelt. Die Mütze war ihr vom Kopf gerutscht, die rote, von Emma gestrickte Mütze mit dem runden Bommel lag vor dem linken Vorderrad. Suse lag da, als wäre sie eben mal gestolpert und hingefallen, als koste sie die Schrecksekunden der Erwachsenen aus. Erhob sie sich nicht gleich im Zeitlupentempo?
Die Urlauber an der Spitze des Zuges zogen schon weiter, denn die Dämmerung kam schnell aus dem Tal herauf.
Renate hatte gesehen, dass Suse vom linken Kotflügel gestreift worden war. Sie war nicht umgefahren worden, hatte sich nicht überschlagen, und eine Frau, die Renate von der Sauna her kannte, sagte zu ihr: „Noch mal Glück gehabt, was? Nicht vorzustellen, wäre sie in das Auto gelaufen.“
Der Fahrer kam heraus, weiß im Gesicht, ein jüngerer Mensch mit rötlichem Haar, dessen Finger, mit denen er die Zigarette hielt, zitterten. Er musste sich eine Zigarette angezündet haben, ehe er ausgestiegen war. „Ich konnte nicht früher halten“, sagte er, „die Kleine lief ganz plötzlich los.“
Er solle sich keine Sorgen machen, sagte Doktor Setorne, darum ginge es auch nicht, er als Fahrer habe keine Schuld. Setorne schnaufte, als er sich mühsam auf die Knie niederließ, um Suse zu untersuchen.
„Nun komm schon“, sagte Renate zu Suse, „nun versuchst du mal langsam aufzustehen, komm, ich helfe dir.“ Aber das Mädchen bewegte sich nicht, es war blassgelb im Gesicht, der Kopf fiel schlaff zurück, die Augen blieben geschlossen.
Renate hatte das Gefühl, in einem reißenden Wasser wegzutreiben, sich um die eigene Achse drehend, nicht mehr wissend um ein Ufer, um einen Halt, um Himmel und um Steine, an denen sie sich halten konnte. Ein Mann stützte sie.
Setorne tastete das Mädchen ab. Es atmete leise und ruhig.
„Ich bin ja leider nur ein Zahnarzt“, sagte er, „aber ein Schock wahrscheinlich, vielleicht eine kleine Bewusstlosigkeit vor Schreck. Es wird besser sein, wir bringen sie in ein Krankenhaus.“
„Hat sie sich etwas getan?“, fragte Renate, die sich zwingen wollte, nicht weiterzutreiben. „Es ist doch nichts gebrochen?“
„Soviel ich feststellen kann, nein.“
Die Menschen redeten durcheinander und tauschten ihre Erfahrungen über ausgerenkte, gebrochene Glieder und gehabte Unfälle aus. Ein paar Lastwagen hupten, sie kamen nicht vorbei.
„Schnell, schnell doch, Doktor“, sagte Renate.
„Nein“, sagte Setorne, „hier können Minuten nichts entscheiden, aber richtiges Verhalten. Zum Beispiel darf sie sich nicht unterkühlen.“ Setorne und Renate legten ihre Kutten auf einen großen Schlitten. Dann hob der Arzt das kleine Mädchen auf das Lager, legte sie auf die Seite und winkelte ihre Beine so an, dass der Körper während der Fahrt nicht auf den Rücken rutschen konnte.
„Wir müssen ihre Wärme erhalten“, sagte er, „geben Sie mir Anoraks und Pullover.“ Suse bewegte sich noch immer nicht, und Renate weinte. Männer zogen ihre Skipullover aus.
Der Fahrer des Wartburgs wollte den Wagen auf dem nächsten Parkplatz wenden und zurückkommen. Die enge Straße konnte nicht länger blockiert bleiben. „Hier kommt auch die Polizei nicht durch“, sagte er, „ich verantworte das schon.“
Renate zog den Schlitten. Setorne ging neben ihm und kontrollierte, ob das Mädchen die stabile Seitenlage beibehielt. Er wusste, dass es Gehirnerschütterungen gab, bei denen äußerlich nicht einmal ein Hämatom zu sehen war. Das schloss eine Blutung nicht aus, die auf bestimmte Hirnteile drücken konnte. Einmal ließ er halten, öffnete das Lid ihres rechten Auges, und für einen Moment war es ihm, als schielte Suses Auge. Etwa zum Herd der Verletzung hin? Er kontrollierte ihre Atmung, sie ging ruhig und der Puls auch.
Von diesem Augenblick an verlor Renate Jago das Gefühl für die Zeit. Sie trieb wieder dahin wie in einem Wasser, das nun nicht mehr so rasch floss, das sie auch nicht in Strudel zerrte. Sie spürte, wie sie manchmal landete an einem Ufer, wie sie sich wieder abstieß und Luft holte, wie sie ein Ufer sah, wie breite Wellen ihr entgegenkamen, wie sie die Köpfe anderer wahrnahm.
Jemand telefonierte. Ein weißer Wagen. Setorne neben ihr, der nach Schweiß roch. Sie packte Puppen ein, den Buratino und den Teddy mit dem einen Ohr. Die Fahrt hinab, immer hinab, wohin denn nur. Die Antworten für irgendeinen Schein, der ausgefüllt werden musste. Die Fragen eines Arztes. Ein langer Gang, ein Zimmer mit mehreren Betten und Kindern darin, die neugierig oder apathisch zusahen. Hier können Sie nicht bleiben. Rufen Sie an. Morgen oder übermorgen ist sie wieder bei Ihnen, bestimmt. Die ersten drei Tage warten wir ab, Herr Kollege. Wahrscheinlich ist das die Wahrheit. Nein, keine elektrische Hirnuntersuchung. Die Rückfahrt in einem Bus, das Warten an zugiger Stelle und überall Bewegung um sie her. Nur sie selber gestorben, still und unwichtig.