Um mir anzusehen, was nun Gottfried eigentlich aufgegeben hat, fahre ich los.
Die belgische Eisenbahn ist eine famose Institution. Was sie alles an Ermäßigungen und Vergünstigungen anbietet, ist kaum überschaubar - nun ja, man muss sich über Wasser halten. Ich jedenfalls bekomme aus einem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnern kann, auf jede Fahrt fünfzig Prozent Ermäßigung und nutze das weidlich aus. Man kann mit seiner Fahrkarte alle Züge benutzen, gleich ob Expresszug oder sogenannten »Omnibus«, was bedeutet, dass auf jeder Station gehalten wird. Im Zug gibt es einen Verkäufer von Getränken und Sandwiches, der mit seinem kleinen Wagen durch alle Abteile fährt. Das ist alles wunderschön, aber das aufregendste ist ja doch, wie oft man wohin fahren kann. Niemand in Belgien kommt auf die Idee, vorher auf dem Fahrplan einen Zug herauszusuchen. Man geht einfach auf den Bahnhof und fährt. Die durchschnittliche Zugdichte zwischen den großen Städten des Landes, etwa Gent, Antwerpen, Lüttich, Leuven, Brügge, Brüssel ist zwanzig Minuten. Allerdings gibt es auch ganz entfernt liegende Orte, zum Beispiel Tournai, wohin man relativ selten gelangt: Da verkehrt nur jede Stunde ein Zug!
Das dichte Eisenbahnnetz verdankt Belgien dem wirtschaftlichen Aufschwung der Jahrhundertwende. Aber die Medaille hat natürlich auch ihre Kehrseite: die Société Nationale des Chemins de Feres Belges ist bis über die Ohren verschuldet. Einsparungen sind geplant, man will die Zugdichte verringern, und vor allem wird natürlich erst mal im Hinblick auf die Angestellten »gesundgeschrumpft« - was sich niemand gefallen lassen will. Während meiner Anwesenheit gab es mehrere Eisenbahnerstreiks, die dann allerdings nicht so rigoros ausfielen, wie ich das erwartet hatte. Internationale Züge wurden generell abgefertigt, und auch der Gesamtverkehr litt weit weniger, als man annehmen konnte. So alle halbe Stunde ging schon mal die Bahn in Richtungen, wo sie sonst alle zehn Minuten verkehrte. Das für die Belgier Unerträgliche war vor allem, dass die Verspätungen nicht angekündigt wurden (was sonst prompt erfolgte, und zwar bis auf die halbe Minute genau) und dass man im Zug nicht kontrolliert wurde. Das gab sonst immer Anlass zu einem Schwätzchen mit den Kontrolleuren.
Je weiter mich die Bahn nach Süden trägt, desto heiterer wird die Landschaft. Hinter Namur lasse ich den flachen Norden zurück. Immer mehr Bereitschaft zur Caprice da draußen, Versteckspiel von Dörfern zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal, liebliche Hügel, erste Felsen, Tannen, noch mehr Tannen und andere Bäume in Ansammlung, ja, bald verdienen sie den Namen Wald in diesem waldarmen Land - ich atme auf. Der Tag ist wie Seide. Über Ciney und Jemelle bringt mich der Zug nach Libramont, und von da geht’s mit dem Bus weiter ins Ardennenland hinein.
Was das Auge des Touristen entzückt, hat den Herzog von Bouillon damals zur Ausreise getrieben: Wälder, die wenig hergeben außer ein bisschen Jagdbeute, karge Äcker, von denen man nicht satt wird. Kohle und Erz, die Voraussetzungen für die kunstreichen Waffenschmieden, gab’s weiter östlich, und wehrhafte Nachbarn saßen da. Ein armes Land ist das, auf diese Weise allerdings geschützt vor Beutegierigen, ein stilles Refugium in Kriegen. Doch Sedan liegt nur ein paar Kilometer weit von hier ...
Mit einem Ensemble ritterlicher Embleme, Schild, Helm und Harnisch, setzt die Werbung für Bouillon ein am Straßenrand - auch wieder kein Suppentopf dabei. Ach ja, also mit dieser Brühe soll das so gewesen sein: Bei der Belagerung von Jerusalem traten Versorgungsschwierigkeiten auf, so was kommt ja vor. Als man den letzten Ochsen geschlachtet hatte und rein gar nicht mehr wusste, was man außer dem Sattelzeug kochen sollte, ordnete Gottfried an, alle Knochen und Abfälle, die da noch rumlagen, in einen großen Kessel zu werfen und einen Tag lang durchzukochen. Der so entstandene Absud flößte den müden Gliedern der Streiter fürs Christentum wieder Kraft ein. Der ominösen Brühe verlieh man den Namen des Oberbefehlshabers, ob anerkennend oder abwertend, ist die Frage. Ich könnte mir vorstellen, dass man so richtig begeistert nicht war von dem Surrogat.
Schiefer und Naturstein, daraus ist der Ort hauptsächlich erbaut, der sich da, von Hügeln flankiert, ans Ufer der glasklaren Semois hinschmiegt, zwei Häuserzeilen rechts und zwei links. Darüber thront auf lang gestrecktem Bergrücken das Château Fort: Burg des Kreuzfahrers. Bevor er sich aus dem Staub machte, ließ er es noch einmal ordentlich herrichten; falls die Unternehmung schiefgehen sollte, musste zu Haus etwas verlässliches dastehn.
Zuerst hatte man hier nur so einen hübschen kleinen Donjon hingebaut, einen Wohn- und Wehrturm, Steinsockel, Fachwerk drüber. Aber wer gibt sich schon damit zufrieden, wenn er so einen bequemen Bergrücken zum Bauen zur Verfügung hat, und noch dazu so schön dicht an der Stadt dran. Weder war der Aufstieg beschwerlich, noch bestand Gefahr, dass die Pfeile die Leute da unten verfehlen konnten oder die Brandfackeln nicht ins Dach der Häuser gingen.
Das mächtige Ensemble von Fortifikationen, Türmen, Mauern, Vorwerken und geschachtelten Innenhöfen wurde bis 1830 als militärische Befestigung genutzt.
Na, Komfort hatte er nicht gerade, der gute Gottfried. Alles ist so hingeduckt, die Tordurchfahrten so niedrig, dass man vielleicht sogar vom Pferd steigen musste, wenn man durchwollte. Ich schlendere im Sonnenlicht der grasbedeckten Höfe, dann verschlingt mich wieder die feuchte Finsternis eines Turms oder Verlieses, Wasser tropft von rohem Stein. In der Folterkammer bemerken zwei englische Touristinnen beeindruckt: »Rather hard times!«
Heute aber: Überall grünt’s, auch die Außenmauern der Burg sind bewachsen von allerlei Kraut, Mauerpfeffer, Steinbrech, Moose, Efeu. Buschwerk hat sich an den Felskanten rundum angesiedelt. Das Gemäuer sieht aus, als wüchse ihm ein grüner Pelz. Das lob ich mir. Komm, Natur, und deck die alte Zwingburg zu!
Aber das hat gute Weile. Rundum spazierend, gerate ich immer wieder in den Bannkreis der Mauern und bin bei jedem neuen Hinschauen wieder überrascht, die Burg so viel niedriger zu finden als die Hügel der Umgebung. Mit drohender Stirn, breit hingepflanzt, brutal liegt das alte Drachennest da, pelzig und grau, ein Praktikabel der Macht. Keine Himmelsstürmerei, alles ist abgeplattet, statt ragender Türme wuchtige Mauern, und wie weit das in die Tiefe geht: Gräben und Verliese, man hat sich sozusagen eingebuddelt und für alle Zeiten festgesetzt.
Gottfried jedoch sah seine Heimat nicht wieder. Er hatte erreicht, was er wollte: 1099 wurde er König von Jerusalem und vergaß das Wild im Ardennerwald und die Fische in der Semois.
Die schlängelt sich wie einst und ist auch klar wie einst, und, o Wunder, Forellen springen in ihr, und der Wald ist voll rieselnder, kühler Quellen. Was für ein Gewässer! Und was für eine Landschaft, die ich da in mich einsauge an diesem fast sommerlich warmen Frühlingstag! Über Mittag sitz ich an einer windgeschützten Stelle im Wald, und es duftet, als seien die Walderdbeeren schon reif. Die Lärchen grünen, aber die Kuppen der Buchen schimmern noch zartviolett.
Freundlich erschlossen ist die Gegend, den Touristen zuliebe, denn der gepflasterte Wanderweg führt zum Campingplatz, der schon belebt ist. Mit weitem Schwung wirft der Angler die Schnur aus, bis zu den Knien im Wasser stehend, es ist still, und nur die Vögel zwitschern. Ein Fleck in Mittelerde, wie behütet von freundlichen Wesen, die Kriege waren vor der Tür, aber hier blieb es meist still. - Hoppla, da ist ja schon wieder das Château Fort sichtbar ...
Zur Nachmittagsstunde gibt sich Bouillon kleinstädtisch-idyllisch. Holzstapel hinterm Haus, worauf sich die Katzen sonnen, drinnen geht der Staubsauger, die Straßen sind leer.
Im Angesicht der Burg sitze ich vorm Restaurant und trinke meinen Kaffee, um mich herum vom Frühling überraschte Ausflügler, teils noch im pelzverbrämten Mantel, teils schon in leichter Bluse. Alle halten das erste Mal das Gesicht in die Sonne. Auf halber Höhe zur Burg primelt ein Kleingärtner in Hemdsärmeln in seinem Garten.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle komme ich an Feldsteinmauern vorbei, wie man sie genauso im Süden sehen kann. Blaues Kraut blüht aus ihren Ritzen hervor.
Zuerst denke ich, der Bus fährt gar nicht, denn es ist schon zwei Minuten vor Abfahrt, und es regt sich nichts am Depot. Dann entdecke ich einen Mann, der auf einer Bank in der Sonne sitzt und sein Abendbrot verzehrt. Brötchen, Wurst, Tomaten und Tee aus der Thermosflasche. Ich spreche ihn an. Er entpuppt sich als der Busfahrer. In aller Ruhe packt er sein Zeug zusammen, geht zu einem der großen Brummer und wirft ihn an. Dann öffnet er die Tür und macht eine einladende Geste: Ich bin an diesem Abend der einzige Passagier nach Libramont. Wie in einer überdimensionalen Taxe fahre ich durch die im Abendlicht golden erglühende Landschaft.
Im Bahnhofsrestaurant ist Stimmung: Es ist Wochenende. Touristen warten neben Wochenkarteninhabern auf den Zug nach Brüssel. Ein bleicher junger Mann im Lodenmantel liest mit einer Lupe vor den kranken Augen tief hingebeugt ein Buch: Homer in der Originalsprache. Dazu trinkt er Kakao, zwei, drei Tassen, mit dem Tempo, mit dem seine Nachbarn ihr Bier hinunterstürzen. Eine für belgische Begriffe endlose Zugfahrt steht mir bevor: fast zweieinhalb Stunden!