Am Ende der Fabrikhalle, wo mehrere große Fensterhöhlen Tageslicht hereinließen, befanden sich einige in den Boden eingelassene Gewölbe, von deren früherer Bedeutung Ben keine Ahnung hatte. Bei einem seiner vielen Streifzüge hatte er sie zufällig aufgespürt und eines sogleich zu seinem Unterschlupf und Versteck bestimmt. Wie ein Höhlenforscher war er sich vorgekommen, der ein bisher unbekanntes unterirdisches Labyrinth erforschte.
Hier konnte er sich verbergen, wenn er wieder einmal von dem Drachen und dessen Goldprinzessin zu Hause genug hatte und nicht länger deren Aschenputttler sein wollte. Und auch wegen seines Vaters war er weggelaufen, der nicht in der Lage war, ihn, seinen einzigen Sohn, gegen die beiden und deren Ungerechtigkeit in Schutz zu nehmen.
Hinter einer schweren Eisentür führten steile Stufen in das Verlies hinab, und Ben erinnerte sich an seinen ersten Abstieg, bei dem er sich vorsichtig und ängstlich Stufe um Stufe hinabgetastet hatte und dabei dem Schein seiner Taschenlampe wie einem Spürhund gefolgt war, mit jedem Schritt auf eine unangenehme Überraschung gefasst. Kein Laut hätte ihn mehr erschrecken können als diese unheimliche Stille, die ihn von unten herauf anfiel und ihn jeden Augenblick wie eine unsichtbare Geisterhand erfassen konnte. Trotzdem war er nicht auf halbem Weg umgekehrt. Nie wieder wollte er dorthin zurückkehren, wo ihn Goldprinzessin ungestraft benutzen durfte, als handele es sich um ein Spielzeug, über das sie jederzeit verfügen könne.
Wie schon öfter hatte sie an diesem Tag Lust gehabt, sich auf vergnügliche Art die Zeit zu vertreiben und mit ihm Zirkus zu spielen. Dann ritt sie entweder auf seinem Rücken und verlangte, dass er seine vier Füße ganz genau wie ein Pferd setzen solle und ihn mit einem Kochlöffel anstelle einer Peitsche schlug, wenn es ihm nicht gelang. Wie ein Pferd hatte er dann zu schnaufen, während sie ihn am Kragen wie an einer Leine hielt und in der „Manege“ herumführte. Oder sie errichtete aus Fußbank und Wäschekorb Hindernisse, über die er im Galopp springen musste ... Ein anderes Mal war sie Dompteuse und Zirkusdirektorin zugleich und ließ ihn als Löwen durch den Reifen springen, den sie sich sonst um den Bauch legte, um Hulamädchen zu spielen.
Er hatte ihr einige Male widerspruchslos den Gefallen getan und damit für diesen Tag den Familienfrieden gesichert. Als sie ihm an diesem Nachmittag jedoch einen Strick um den Hals legen wollte, weil er ihr Tanzbär sein sollte, der sich auf ihr Kommando und zu ihrem Singsang drehte, riss er ihr wütend das Stück Wäscheleine aus der Hand. Ehe Leokadia begreifen konnte, was er vorhatte, begann er bereits, sie am Heizungsrohr festzubinden.
„Kennst du dieses Spiel?“, fragte er und sah sie herausfordernd an. Als sie statt einer Antwort einen grellen Schrei ausstieß, hielt er schnell seine Hand auf ihren Mund, sodass ihr Schrei erstickte.
„Das ist der Marterpfahl, und ich bin der Häuptling aller Indianer und werde dich jetzt skalpieren.“ Mit einer Hand riss er dabei an ihren Haaren und setzte die andere Handkante wie die Schneide eines Messers an. Leokadia trat ihm im gleichen Augenblick schmerzhaft vor das Schienbein, sodass er schnell zurücksprang, bevor sie ihre Attacke wiederholen konnte.
„Mama, hilf mir!“, rief sie. „Ben will mich halbieren!“
„Dumme Zicke!“, sagte er und hörte bereits ihre Mutter hinter sich ins Zimmer kommen.
„Was machst du denn mit der Kleinen?“, rief sie und lief sofort zu dem Heizungsrohr. Aber statt den Strick zu lockern, zurrte sie ihn noch fester, sodass die „Kleine“ laut zu jammern begann. „Mach sie sofort los!“, forderte seine Stiefmutter, und während er den Strick löste, beschimpfte sie ihn und nannte ihn gewalttätig. „An die Kleine wagst du dich heran, so ein mutiger Junge bist du! Na, ich werd’s deinem Vater sagen, damit er weiß, was für einen feinen Sohn er hat.“
„Es war doch nur ein Spiel“, verteidigte er sich, aber Goldprinzessins Mutter achtete nicht mehr auf ihn. Sie hatte ihren Arm um Leokadias Schultern gelegt und verließ mit ihr das Zimmer, wobei es ihr gelang, im Wechsel auf ihn zu schimpfen und gleich darauf ihrer Tochter Gerechtigkeit zu versprechen. „Das wird er noch bitter bereuen, glaub mir das!“ -
Ben schaltete jetzt seine Taschenlampe an, ohne die er niemals das verlassene Fabrikgelände betrat. Damals hatten ihn weder Finsternis noch Stille zurückhalten können, obwohl er nicht wusste, was ihn am Ende der steinernen Treppe erwartete. Er hatte sich zwar nicht überwinden können, laut zu singen, wie er es aus Geschichten von Kindern kannte, die sich im finsteren Wald auf diese Weise Mut machen wollten. Indem er aber begann, seine Gedanken laut aus- und sich zu versprechen, niemals wieder nach Hause zurückzukehren, bediente er sich gewissermaßen der gleichen Täuschung, um die ängstigende Macht der Stille zu bannen.
Er schob nacheinander die beiden handbreiten Riegel zurück, die lärmend über die Eisentür schabten und ihn damit aus seinem Kokon von Lautlosigkeit befreiten. Er hatte die Riegel damals nur zu fetten brauchen, um sie wieder funktionstüchtig zu machen. Der Rost hatte ihnen bisher nichts anhaben können. Der Lichtstrahl hüpfte nun die Stufen hinab und suchte danach jenen Winkel, in dem Ben die alte Matratze, Decken, eine Obstkiste sowie einen Eimer untergebracht und auf der anderen Seite aus alten Ziegelsteinen eine Feuerstelle aufgeschichtet hatte. Einmal wäre er vor Qualm fast erstickt und hatte sich gerade noch rechtzeitig die Stufen hinaufquälen können. Seit dieser Nacht hatte er auf ein wärmendes Feuer verzichtet und sich mit den Decken zufriedengeben müssen.
Anna-Marie saß aufrecht auf der Matratze, die Decken bis unter das Kinn gezogen und den Rücken umständlich an die Wand gestützt. Des grellen Lichts wegen hielt sie die Augen geschlossen. Wirr hing ihr das Haar in die Stirn, und ihre Jochbeine stießen geschwollen und gerötet hervor. Ihr übriges Gesicht war mit einer aschgrauen Schicht bedeckt. So hatte auch er selbst jedes Mal ausgesehen, wenn er schließlich wieder nach Hause zurückgekehrt war und sein sich selbst gegebenes Versprechen auf diese Weise brach.
„Willst du mich hier umbringen?“, hörte er Anna-Marie rufen, bevor er noch die unterste Stufe erreicht hatte. „Soll ich vielleicht umkommen vor Hunger und Kälte? Willst du das?“
Ben antwortete nicht. Seit er sie hier vor einigen Tagen zurückgelassen hatte, war er stumm geblieben, so oft sie ihn auch während seiner kurzen „Besuche“ zu einer Antwort herausfordern wollte. „Niemand soll ungestraft Unrecht in Recht verwandeln können“, zitierte er stattdessen in Gedanken aus dem Monolog des alten Mannes unter der Brücke. Er ahnte jedoch, dass er dieses Mal seinem Vorsatz, auch weiterhin zu schweigen, untreu werden könnte. Zu verlockend erschien es ihm, ihr zu schildern, was sich an diesem Morgen in der Schule ereignet hatte und wie aufgeregt die Direktorin bei ihnen in der Klasse erschienen war.
Ben stellte die Milchkanne scheppernd vor ihr auf den Betonboden und nahm dann Brot und Wurst aus dem Beutel, während er die Taschenlampe zwischen seinen Knien hielt. Die Wolldecke hatte er zu ihr auf die Matratze geworfen. Noch immer wortlos, beugte er sich danach zu ihr hinunter und befreite ihre Hände von dem Strick, der ein Rest einer alten Wäscheleine war, die er ebenso wie die verbeulte Milchkanne in dem Schuppen hinter ihrem Haus gefunden hatte. Dorther stammte auch die karierte Decke, mit der Goldprinzessin manchmal ihren Puppenwagen ausgestopft hatte, wenn sie mit ihrer Barby Prinzessin auf der Erbse spielte.
Ben hatte erwartet, dass Anna-Marie ihre Hände sofort in die Höhe strecken oder die Arme ausbreiten würde; stattdessen ließ sie sie wie leblos herabfallen. Langsam begann sie dann, ihre Finger zu bewegen, als müsse sie erst wieder lernen, sie zu gebrauchen.
„Warum machst du das, Ben?“, fragte sie leise, als würde es sich um eine ganz alltägliche Begegnung handeln. „Was habe ich dir getan? Wirst du mir das jetzt erklären?“