Es war die Zeit der zunehmenden »Republikflucht«. Wir erlebten sie hautnah am Stadtrand von Berlin. Wenn morgens in der Nachbarschaft die Jalousien nicht hochgezogen waren, musste man damit rechnen, dass die Bewohner auch über Nacht »gegangen« waren. Viele unserer Freunde und Bekannten waren schon weg. Und doch blieben wir naiv genug, es vorher nicht zu merken. Wenn etwa der Zahnarzt sagte : »Sie können sich gern die Birnen aus unserem Garten abpflücken, wenn Sie hier vorbeikommen!« Oder der eine Arzt bei Dunkelheit eine Kiste Pilsner bei uns ablud und ein anderer ein Kinderbett. (»Nein, machen Sie kein Hoflicht an!«)
Es wurde gemunkelt, dass eine Mauer gebaut werden sollte um die DDR herum und mitten durch Berlin. Wir hielten das für undurchführbar. Auch noch, als auffallend viel Betonpfähle an den S-Bahn-Gleisen lagen. In einer solchen Mangelgesellschaft - wie sollte das klappen? Und außerdem: Wie könnten die Alliierten das zulassen! Vorsorglich allerdings schafften wir etwa die Hälfte unseres beweglichen Hausstandes westwärts. Teils - soweit es erlaubte Güter betraf - als Geschenksendung von unseren Postämtern an unterschiedliche Adressen, teils auf recht gefährliche Weise von Westberliner Postämtern aus. Wenn ich heute bedenke, wie dicht das Spitzelnetz gewesen sein muss, wird mir bei dem Gedanken noch ganz übel. Einmal hatte ich wieder Porzellan unter den Kissen der Kinderkarre deponiert, in der unser kleiner Sohn saß, und packte in einer Telefonzelle am Bahnhof Gesundbrunnen alles in den vorbereiteten Karton. Als ich mit dem fertigen Paket herauskam, guckte ein fremder Mann unseren Sohn freundlich an und sagte: »Na, Kleiner, jetzt sitzt du ja wieder schön niedrig!« Eine andere sehr brenzliche Situation gab es, als mein Vater, B. und ich in der S-Bahn aufgehalten wurden. Es war mal wieder Kirchentag und die Kontrolleure glaubten, mein Vater wolle dorthin und wollten ihn mitnehmen. Allein konnten wir ihn denen nicht überlassen, der Haken war nur, dass B. um seinen Brustkorb ein Handtuch befestigt hatte voll eingenähter silberner Bestecke. Er nahm die Flucht nach vorn, zeigte Ausweis und Dienstausweis, trat forsch auf und sagte, der alte Herr sei unser Besuch und wolle keineswegs in den Westen und schon gar nicht zum Kirchentag. Der Kontrolleur glaubte es. Aber selten hab ich B.s Gesicht so grün gesehen.
Die Angst bei solchen Aktionen war sehr wohl berechtigt, und heute versteh ich, dass meine Mutter sagte: »Kinder, wenn Ihr das vorhabt, geht und lasst alles stehen und liegen! Der ganze Kram ist es nicht wert, dass Ihr Euch dafür in solche Gefahr begebt!« Das sagte ausgerechnet sie, aus deren Hausstand wir die wertvollsten Sachen hatten. Aber natürlich wusste sie auch um die Brutalität des Regimes, da ja ihr Mann sechsunddreißig Monate im Lager Fünfeichen bei Neubrandenburg zugebracht hatte.
Dennoch - alles stehen und liegen lassen - das brachte kaum jemand fertig.
Auch mein Cousin und seine Frau hatten ihre Habe im Kinderwagen rübergebracht und gerade noch so die Kurve gekriegt.
Anfang August 1961 wurde die Stimmung immer aufgeheizter. Man spürte, dass Gefahr in der Luft lag. Es wurde Zeit. Doch Schwägerin und Schwager waren bei B.s Eltern zu Besuch. Sie mussten zurück, bevor es zu spät war. Wir fuhren am 12. August hin. Ich blieb mit dem Kleinen bei meinen Eltern. B. ging zu seinen Eltern. Er kam und kam nicht zurück. Nachts dann, leicht angesäuselt, hatte er sich beschwichtigen lassen. Nein, wer glaubt denn sowas! Eine Mauer wird es nie geben!