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Der Hirt und Stockheim kommt. Zwei Erzählungen von Erik Neutsch
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Preis E-Book:
5.99 €
Veröffentl.:
01.08.2014
ISBN:
978-3-86394-781-1 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 106 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Politik, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Familienleben
Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Kriegsromane, Familienleben
Bodenreform, Gutsbesitzer, 2. Weltkrieg, Wende, Flucht, Ostpreußen, Enteignung
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Sie tranken und schwiegen. Der alte Hirt nahm seinen Blick von der verräucherten Decke, ließ ihn über die Gegenstände im Zimmer gleiten, und plötzlich, bei dem Gedanken, daß er aus Dragenberg vertrieben werden könnte, war ihm, als sähe er die beiden Räume der Hütte mit anderen Augen. Das Bett an der Wand, der steinerne Ofen, ein Schrank mit Wäsche, ein Gehrock darin und ein Dutzend ungetragener Hemden, noch von Juliane gesammelt, ein Tisch und zwei Stühle und am Fenster darüber die bestickten Gardinen, nebenan eine Küche, die schon lange nicht mehr benutzt worden war. Im Herd war die Glut erloschen. Seine Mahlzeiten erhielt er im Gutshof. Hier schlief er nur. Er hatte sich einen Bettsack aus Katzenfellen genäht, gegen Rheuma und Gicht, die Krankheiten aller Hirten im Alter, auch wenn sie bei ihm noch auf sich warten ließen. Vielleicht war er noch immer nicht alt genug? Aber vielleicht kamen sie auch nur deswegen nicht zu ihm, weil er als junger Mann schon auf den Katzenfellen gelegen und geschlafen hatte, zu jener Zeit schon, als er das breite Bett noch mit Juliane, seiner Frau, geteilt hatte. Sie war ihm gestorben. Nach dem ersten Kind, das sie auf dem Acker entbunden hatte. Während der Arbeit. Da waren die Wehen gekommen. Sie hatte sich in das Gras eines Feldrains gelegt und das Kind aus ihrem Schoß gepreßt. Eine Kätnerin half ihr, band die Nabelschnur ab, verscharrte die Nachgeburt und wickelte das Kind in Decken, und Juliane war aufgestanden und hatte weitergearbeitet. Aber danach hatte das Fieber sie befallen. Der Hirt war von der Weide geholt worden, er hatte ihr Heidekraut und schwarzen Holunder gegeben, aber die Frau war gestorben, auch das Kind, das nicht einmal mehr getauft werden konnte. Er sah in ihr Gesicht auf dem Hochzeitsbild an der Wand über dem Bett, Juliane im Brautschleier. Der General hatte es ihnen geschenkt, denn er bestellte stets, wenn auf den Gütern geheiratet wurde, aus der Stadt einen Fotografen. Er hatte das Bild geschenkt, dazu den schweren silbernen Rahmen, und den Wein für die Feier. Doch nun war das Silber schon schwarz, das Papier vergilbt, so gelb war es wie die Kerze daneben, die nur ein einziges Mal gebrannt hatte, damals, als Juliane aufgebahrt auf dem Bett gelegen hatte, ihr totes Kind in den Armen. Es war lange her, und der Hirt wußte nicht mehr, wie lange es her war. Er lebte seitdem allein in der Hütte, ließ sie sommers verstauben, räumte sie wieder auf im Herbst und wärmte sich an ihrem Ofen im Winter. Dann saß er abends am Tisch und las in der Bibel, dem Buch, das ihn forttrug, sobald er sich gar zu einsam fühlte. Auch jetzt verlangte es ihn, in der Bibel zu lesen, ein Gleichnis zu finden, eine Antwort darauf, was geschehen sollte, wenn der Inspektor ihn fortschickte und die Herrschaft auf Tütz zu Ende ging. Nein, er würde den Flecken niemals verlassen.

Der Inspektor stierte ihn aus geröteten Augen an. »Du hast keine Ahnung«, sagte er, »was noch kommen wird. Die Front ist nahe. Die Feldgendarmen werden die Kühe holen. Die Truppe muß die Stellungen halten, und dazu braucht sie die Kühe.«

»Haben sie denn keine Tanks und keine Kanonen?«

»Doch … doch … Aber die Truppe hat nichts zu essen.«

Der Hirt erschrak. »Die ganze Herde?« flüsterte er.

Der Inspektor nickte. »Die ganze Herde.«

»Was aber wird der General dazu sagen, wenn er's erfährt? An die hundert Muttertiere, Färsen und Kälber, eingetragen ins Herdbuch. Eine Zucht, wie es sie nicht noch einmal gibt in der Grenzmark und in ganz Pommern.«

»Es ist zwecklos. Wir hätten nicht einmal mehr Leute, die Kühe zu melken und zu füttern. Morgen schon wär ein Geschrei in den Ställen. Und der General, sagen die Feldgendarmen, hat seinen Segen bereits erteilt.«

Die Antwort wollte ihm nicht in den Kopf, und er schwieg. Er wollte trinken, aber die Flasche war leer, und er dachte, daß es mit dem Krieg wahrhaftig schlecht stehen mußte, wenn der General seine Herde aufgab.

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