Im Kanal stinkt es süßlich-brandig. Meine Hände greifen in ein Gemisch aus Sand und Asche. Wenn ich den Kopf hebe, streife ich die zerklüftete Ziegelwölbung. Ich bin einfach nicht mehr Tier genug, um ohne Weiteres auf allen Vieren mitten hinein in die Finsternis zu kriechen. Es gilt indes, voranzukommen. Und den Abzweig nicht zu verpassen. Links, hatte der Mann gesagt. Halt dich links!
Kunststück, wenn man nichts sieht, wenn man das Gefühl für Richtungen verliert! Weiß ein Maulwurf, wo links ist?
Ich taste die Wände ab. Greife rechts in ein Loch. Verharre unschlüssig. Kann sein, der Mensch hat sich getäuscht. Ehe ich mir klarmachen kann, dass sich solche Typen nicht täuschen, poltert hinter mir etwas von der Decke. Am Ende stürzt der Kanal ein! Von Panikgefühlen ergriffen, flüchte ich in den Abzweig. Ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs bin. Laue Mattigkeit erfüllt meinen Kopf und verdrängt jeglichen Zeitbegriff. Dunkelheit drinnen, Dunkelheit draußen. Plötzlich endet der Kanal. Ich kann mich zwar in einer Art Schacht aufrichten, doch über mir gibt es keinen Schimmer. Nur diese süßliche brandige Finsternis.
Ich muss Licht sehen. Soll man mich festnehmen!
Als ich glaube, den Hauptkanal erreicht zu haben, wende ich mich nach rechts. Von dort bin ich gekommen. Bin ichs? Auch in dieser Richtung gibt es kein Anzeichen von Helligkeit. Noch nie war ich in einer derartigen Lage. Was lau war, wird reißend. Ich verliere den letzten Rest von Hemmungen, schreie: Hilfe! Ich muss raus hier! Hab ich geschrien? Meine Stimme ist stumpf und echolos. Noch einmal stoße ich den Kopf hoch: Hilfe.
Ich pralle mit Wucht gegen die schartige Wölbung. Da hab ich mein Licht. Es blitzt für Sekunden unter der Hirnschale. Mir entfährt ein deftiger Fluch. Gleichzeitig vermag ich wieder zu denken. Das müsste Fräulein Brode hören!
Nun weiß ich, dass es das alles noch gibt: die Schule, die Eltern, das Dorf, Opa und Gundula Fischer. Ich bin durch einige Tonnen Mauerwerk und Sand von allem getrennt. Aber es ist da.
Ich wende mich nach links und beginne wieder zu kriechen. Wenn es sich um den Hauptkanal handelt, muss der angekündigte Abzweig irgendwann kommen.
Nicht lange, und meine Linke fuchtelt im Leeren. Der Kanal verzweigt sich noch einmal, aber nun ist es nicht mehr schwer. Ich strebe dem hellsten aller Lichtflecke zu, die vorn über mir schimmern und in mir ein Gefühl wie Ostern und Pfingsten zugleich hervorrufen. Die Kanalsohle steigt leicht an, die Wölbung wächst nach oben. Ich kann gebückt gehen und stelle bald fest, dass ich gut gewählt habe. Die schräg stehenden gusseisernen Roste sind zwar alle geborsten. Aber nur dort, wo das Licht am hellsten strahlt, ist das Loch so groß, dass es meinem Körper einen Durchschlupf bietet.
Ich ziehe mich hoch, stehe mit weichen Knien im Staub und atme den himmlischen Duft der sonnenbeschienenen Welt.
Schließlich klopfe ich mir die rote Asche von den Jeans. Auf den Knien bleibt ein gelblicher Schimmer. Dann verlasse ich diese merkwürdige Fabrik. Ich denke: Hierher nie mehr!
Mit diesem Vorsatz verriegle ich den Kanal, in dem ein um Hilfe rufender Schläppling hocken bleibt.