Ein älterer Herr kommt ihnen über die Holztreppe, die aus dem ersten Stockwerk in einen hallenartigen Vorraum führt, entgegengelaufen. Er streckt die Arme aus und ruft atemlos, noch ehe er ihnen die Hände geschüttelt hat: Haben Sie meinen Kalf wiedergefunden? Haben Sie eine Spur? So reden Sie doch, meine Herren!
Leutnant Bresack senkt den Kopf. Darf ich erst einmal bekannt machen: Leutnant Heym, ein Berliner Kollege - Doktor Weilsheimer, der Direktor des Museums.
Ich muss Ihre Hoffnung leider enttäuschen, beginnt Heym, wir haben bisher noch keine Spur. Im Gegenteil, ich komme, weil in Berlin ein ähnlicher Diebstahl begangen worden ist und gewisse Umstände vermuten lassen, dass es sich um denselben Täter handelt. Auch uns ist er entwischt, aber noch ist nicht aller Tage Abend.
Heym schildert in groben Zügen den in Köpenick verübten Einbruch und fährt fort: Nun hätte ich gern eine möglichst genaue Darstellung, wie hier in Gotha der Diebstahl ausgeführt wurde.
Gewiss, sagt Dr. Weilsheimer, dem die Niedergeschlagenheit deutlich anzumerken ist, wenn Sie glauben, dass es Ihnen weiterhilft.
Sie sind inzwischen in einen der Ausstellungsräume gelangt. Der Direktor zeigt auf ein Bild in schmalem Goldrahmen. An dieser Stelle hing vor drei Monaten das Stillleben von Willem Kalf, einem niederländischen Maler des siebzehnten Jahrhunderts, der vor allem durch seine Kücheninterieurs und Stillleben berühmt geworden ist. Das Bild war eines meiner wertvollsten Stücke, in Komposition und Ausführung von einmaliger Schönheit. Dr. Weilsheimer macht eine Pause, und als er dann weiterspricht, ist die Begeisterung, die für Sekunden aus seinen Worten herauszuhören war, wieder einem nüchternen Tonfall gewichen. Ich konnte es anfangs gar nicht fassen, sagt er, dass man es gestohlen hatte. So ein Fall ist mir während meiner ganzen Dienstzeit noch nicht begegnet.
Heym hat aufmerksam zugehört. Leutnant Bresack erzählte mir, der Dieb soll sich hier irgendwo versteckt haben, bis am Abend die Ausstellungsräume geschlossen wurden. Wie ist das überhaupt möglich?
Das kann ich Ihnen erklären. Sehen Sie bitte! Der Direktor deutet auf zwei lebensgroße vergoldete Buddhafiguren, die in den Zimmerecken gegenüber der Fensterfront hocken. Sie gleichen sich wie Zwillinge, nur ist eine massiv und unbeweglich, die andere aber aus Pappmaschee und nach Betätigung eines Mechanismus schwenkbar. Auf diese Weise wird der Zutritt zu einem System von Geheimgängen freigegeben, die das ganze Schlossgebäude durchziehen. Vielleicht ist Ihnen schon aufgefallen, dass es kaum ein Zimmer gibt, in dem nicht ein Spiegel in die Wand eingelassen ist. Diese Spiegel sind von hinten, also von den Geheimgängen her, durchsichtig, sodass die Schlossherren oder die von ihnen beauftragten Hofschranzen jederzeit in der Lage waren, alle Personen und Gespräche zu belauschen, ohne dass die Ausspionierten auch nur die geringste Ahnung davon hatten. Das war natürlich für den Herzog sehr vorteilhaft und gehörte zu dem Katalog von Winkelzügen, mit denen Duodezfürsten ihre Hausmachtpolitik betrieben.
Wir sahen bisher keinen Grund, bei unseren Führungen diese Tatsachen zu verschweigen, sodass jeder, der einmal hier war, im Prinzip auch über die Geheimgänge Bescheid weiß.