Nun wurde jedoch die Frage spruchreif, wer denn nun eigentlich der Besitzer dieses Häuschens mit dem gut florierenden Geschäft und allem Drum und Dran sein sollte. Von Rechts wegen war es Olga, und formal-juristisch hätte es sich auch schwer anders einrichten lassen. Es waren Verhandlungen zu führen mit der Gewerbepolizei bezüglich des Kaffeeausschankes und des Bierverkaufes, dann mit der Baupolizei bezüglich der Errichtung des Häuschens, schließlich mit der Gemeinde Daßdorf bezüglich der Eingemeindung. Die Durchführung solcher Verhandlungen und die unterschriftliche Verantwortung konnte natürlich nur Olga übernehmen, nicht ihr noch minderjähriger Sohn, denn auch die Gemeinde Daßdorf war in ständiger Sorge vor einem Zuwachs durch Eingemeindung, der der Gemeinde zur Last fallen könnte. Olga hatte es jedoch verstanden, ihren Plan mit Zähigkeit und Geschick zu realisieren, und als endlich die Kolonie Neues Leben durch Aufsiedlung erschlossen wurde, waren zu dem Verdienst durch das Geschäft noch die Prozente durch den Verkauf der Parzellen für den Makler Abramowsky hinzugekommen, und um die Zeit, als Richard und Radtke sich ankauften, stand Olga eigentlich ganz gut da. Für ihren Bruder hatte sie als Ersatz die Parzelle erworben, auf der sie die große Sommerlaube für Kaffeegäste hatte errichten lassen. Als Kapital für weitere Pläne verfügte sie über rund dreitausend Mark, circa die gleiche Summe, die der Verkauf des Spielwarengeschäfts in Berlin nebst Wohnung eingebracht hatte.
Dies wäre ein ganz netter Rückhalt gewesen, auch wenn man die Verknappung der Kaufkraft durch die wie eine Seuche um sich greifende Arbeitslosigkeit mit einkalkulierte.
Nur hätte man sich nach der Decke strecken müssen. Olga steckte jedoch nicht allein unter dieser Decke, sondern ihr Sohn und genau genommen auch schon ein anderes weibliches Wesen namens Lieselotte Gruber, achtzehn Jahre alt, bis vor Kurzem Verkäuferin im Kaufhaus Daßdorf. Sie war das zweitälteste Kind von fünf Geschwistern, der Vater Gussputzer bei der Firma Schwartzkopff. Wenn auch ein bisschen Prahlerei mitsprach, wenn Lieselotte sich gelegentlich als erste Verkäuferin bezeichnete, weil sie außer dem Inhaber die einzige Verkäuferin war, so war diese Bezeichnung dennoch in der Richtung korrekt, dass ihr in Abwesenheit des Inhabers ein Lehrjunge und ein Lehrmädchen unterstellt waren und dass man gut und gerne von einer Vertrauensstellung sprechen konnte. Als es Lieselotte jedoch nicht mehr möglich war, ihre Schwangerschaft zu verbergen, wurde sie von ihrem Arbeitgeber entlassen.
Wie stellst du dir denn nur das Weitere vor?, fragte Olga eines Tages ihren Sohn Adolf.
Wir werden heiraten!, antwortete Adolf.
Heiraten? Und was weiter?
Du hast doch auch einmal geheiratet. Wirst also wohl wissen, was weiter, sagte Adolf.
Olga war achtunddreißig Jahre alt, hatte noch kein graues Haar, war wohl als schuldiger Teil geschieden, aber darauf pfiff sie. Bei einer Wiederverheiratung wiegt solches moralische Manko federleicht; was wiegt, das ist das Haus, das Geschäft, und Olga war in der Wahl ihrer Freier von keinem blinden Eifer besessen. Was ihr vorschwebte, war neben diesem Häuschen ein Gasthaus mit Fremdenzimmern. Über diesen Plan hatte sie mit Adolf des Langen und Breiten gesprochen, und die Frage war lediglich die, ob sie ihr mühsam erarbeitetes Kapital sofort bedenkenlos opfern oder vorsichtshalber noch ein Jahr warten wollten. Olga war entschlossen gewesen, das Häuschen mit dem Laden an Adolf abzutreten. Dreitausend Mark standen für den Bau des Gasthauses zur Verfügung, weitere dreitausend Mark waren Olga von der Brauerei versprochen worden als Darlehen; auf viertausendfünfhundert Mark belief sich der Kostenanschlag für den Bau, und zu einem Wirtshaus und zu einer solchen Wirtin, rechnete Olga weiter, würde sich auch ein Wirt mit entsprechendem Vermögen finden. Diese Rechnung war jedoch nun fragwürdig geworden, denn es ging nicht nur darum, dass vorerst drei Menschen ernährt werden müssen und dann vier, sondern auch darum, dass dieses junge Paar heiraten und sich hier einnisten wollte, und das heißt Kleider- und Möbelrechnungen bezahlen, Wirtschaftsgeld freistellen für eine zweite Familie; alles in allem einen Bleiklotz hinter sich herschleppen, sich selbst zur Großmutter herabwürdigen lassen und mit ansehen müssen, wie zwei nur auf ihren Vorteil bedacht sind. Olga sagte langsam und kalt: Dass ihr euch hier nicht breitmachen könnt, siehst du doch wohl ein?
Wo denn sonst?, fragte Adolf höhnisch.
Das ist deine Sache, sagte Olga. Ich habe dich vor diesem Püppchen gewarnt, du hast nicht auf mich gehört, hast dich aufgeblasen, du seiest kein dummer Junge, und damit geprahlt, du wüsstest selbst, was du zu tun und zu lassen hättest, also nun tu und lass, was du willst.
Ich fordere mein Recht!, sagte Adolf nun. Lange genug hast du mich an der Nase herumgeführt, wenn du mir noch länger Sperenzchen machst und mich ins Gerede vor den Leuten bringen willst, dann holt dich der Teufel! Du möchtest Lieselotte natürlich am liebsten zu einer Abtreiberin abschieben, auch wenn sie dabei wegbleibt Vielleicht würdest du das sogar selbst machen Und nach außen dann immer die anständige Frau spielen. Und als Adolf sah, wie seine Mutter sich verfärbte und blass wurde wie Kalk, sagte er noch: Du magst dich hundertmal auf hundert Urkunden berufen, aber wenn du es hart auf hart ankommen lässt, dann wirst du dich zu verdünnisieren haben, nicht ich und auch nicht Lieselotte.
Die Klingel an der Ladentür meldete, dass jemand eingetreten war. Ein Junge forderte ein viertel Pfund Harzer Käse, eine Flasche Bier und vier Juno-Zigaretten und sagte: Vater bezahlt übermorgen. Erst als der Junge mit den Sachen aus der Tür war, fiel Olga ein, dass sie den Eltern dieses Jungen nichts mehr borgen wollte, bevor nicht die alten Schulden bezahlt waren. Olga konnte sich nicht entsinnen, dass sie in geschäftlichen Dingen jemals so versagt hatte. Ohne Überlegung hatte sie dem Jungen die Sachen hingegeben; ein Glück, dass er nicht noch mehr verlangt hat, stellte sie erschrocken und doch befriedigt fest und schenkte sich einen Likör ein. Ihr war immer noch, als hätte ihr jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gegossen. Sie hatte mit ihrem Sohn schon manchen Strauß auszufechten gehabt, immer gegen sein wachsendes Misstrauen ankämpfen müssen; aber letzten Endes doch immer mit Erfolg unter Hinweis auf praktische, geschäftliche Notwendigkeiten und durch die Vertröstung auf weitere Erfolge, wenn man den Bogen nicht vorzeitig und leichtsinnig überspannt, sondern alles sorgfältig in Rechnung stellt, was geschäftlich nützlich oder abträglich sein könnte. Sie hatten wiederholt erwogen, ob Adolf der Hitlerjugend beitreten sollte, und waren übereingekommen, vorerst noch abzuwarten. Jede voreilige, offene Parteinahme konnte einen Teil der Kundschaft verscheuchen, und bis dahin war es noch undurchsichtig, ob Hitler und sein Anhang sich als die ausschlaggebende Partei behaupten oder wieder absacken würde. Nun, wo sie vor der Frage standen, ob sie sofort mit dem Bau des Gasthauses beginnen sollten oder nicht, durfte man kein unbedachtes Risiko eingehen, auf die Gefahr hin, einen Teil der Kundschaft zu verlieren. Die scheinbare Übereinstimmung zwischen Mutter und Sohn in dieser und anderen Fragen hatte den wuchernden Gegensatz bis dahin überbrückt.