Als sie in den Park kam, war Roman noch nicht da. Sie setzte sich auf eine Bank, sodass sie die Brücke im Auge hatte, streckte die Beine weit von sich und tat, als ruhe sie sich aus.
Wenn er nun nicht käme. Wenn er nun wirklich nicht käme! Eine solche Beklemmung kroch von der Magengegend in ihr hoch, dass sie sich verbat, weiter darüber nachzugrübeln.
Am Sonntag, um die Mittagszeit, war es leer im Park. Nur ein älteres Ehepaar schlenderte eingehakt vorüber, und ein Junge flitzte mit dem Fahrrad einen Seitenweg entlang, obwohl das Radfahren hier auch verboten war. Wie das Angeln, dachte das Mädchen.
Roman kam im Laufschritt zur Bank. Im selben Moment schien ihr, sie habe nie einen Zweifel gehabt, dass er kommen würde. Ihre Ängste waren verflogen. Schnell stand sie auf und ging ihm entgegen, streckte ihm die Hand hin, noch ehe sie zögern konnten, sie sich zu reichen. Sie sahen sich an, lächelten. Roman machte eine Bewegung, um anzudeuten, dass sie gehen wollten. Sie sah ihn von der Seite an und bemerkte, dass er kleiner war als sie. Nicht viel, aber immerhin kleiner. In der Klasse lachten sie darüber, wenn das Mädchen einen überragte, mit dem sie zusammenstand oder in der Disco tanzte. Juliane schüttelte den Gedanken ab. Als ob das wichtig wäre. Die paar Zentimeter.
Sie gingen auf dem Pfad, auf dem man um den ganzen See gehen konnte. Sie liefen hintereinander. Das Mädchen sah auf seinen Rücken, den die an den Schultern gepolsterte Jacke unnatürlich verbreiterte. Über dem Kragen ein schmaler Streifen seines gebräunten Halses. Die Nackenhaare waren frisch ausrasiert.
Der Junge ging erst zögernd, dann wieder schritt er rasch aus, wurde langsamer ... Manchmal bückte er sich nach einem Stein und schleuderte ihn in den See, der hinter dem Gürtel aus gelbem, vorjährigem Schilfrohr nicht zu sehen war. Oder er zupfte im Gehen ein Blatt vom Ufergesträuch ab.
Allmählich ging er gleichmäßiger, ruhiger. Er sah sich nicht nach dem Mädchen um, und Juliane hätte es auch gar nicht gewollt. Roman schritt nun ohne Hast aus, wie ein erfahrener Wanderer, der seine Kräfte einzuteilen vermag.
In der Klasse sagten sie: Karsten geht mit Sabine, oder Ruth geht mit Ulli. Sie fand es plötzlich zutreffend gesagt: mit einem gehen. Sie ging mit Roman.
Der schweigende Junge schien ihr an diesem Nachmittag fremder. Aus einem anderen Land, einem anderen Volk war er. Er sprach nicht nur eine andere Sprache, er kannte andere Städte, Dörfer und Gegenden, die sie nie gesehen hatte.
Es gab für ihn außer dem Neubauviertel, in dem sie beide wohnten, ein fernes Zuhause, das Juliane voller Geheimnisse und unergründeter Weiten schien. Wie die Lieder, die sie gegenüber auf den Balkons sangen.
Das Mädchen erinnerte sich, dass sie in den vergangenen Sommerferien nachts auf dem Bahnhof gesehen hatte, wie eine Gruppe von Offizieren, Frauen und Kindern zum Zug nach Brest verabschiedet wurde, ebenfalls von Offizieren, Frauen und Kindern. Die Frauen hatten große Tücher umgelegt, obwohl es nicht kalt war. In einschläferndem, eintönigem Rhythmus wiegten sie die kleinen Kinder auf dem Arm. Die größeren saßen zusammengekauert neben dem dunklen Berg, der aus Koffern und Bündeln auf dem Bahnsteig aufgetürmt lag. Als der Zug auf das Gleis geschoben wurde, umarmten sich alle und küssten sich die Wangen. Die Frauen, die hierblieben, und die, die in den Zug stiegen, wischten sich mit den Zipfeln ihrer Tücher die Tränen weg.
Juliane beneidete die, die schon auf den Trittbrettern standen. Weder die Abreisenden noch die Zurückbleibenden verbargen den Kummer, den ihnen die Trennung bereitete. Die Männer schlugen sich beim Umarmen mit der flachen Hand auf den Rücken.
Roman bog vom Weg, der sich um den See schlängelte, ab. Sie gingen lange bergan. Sie kamen durch ein Buchenwäldchen, über das sich schon ein durchsichtiges Blätterdach breitete. Still, sehr still war es dort. Unter den Bäumen blühten Anemonen. Juliane hätte gern welche gepflückt, aber um ihr gleichmäßiges, aufeinander eingespieltes Gehen wäre es ihr leid gewesen.
Sie liefen jetzt nebeneinander. Einmal streiften sich ihre Hände flüchtig.
Als sie den höchsten Punkt der Böschung erreicht hatten, blieb der Junge stehen.
Man konnte von hier fast über den ganzen See blicken. Die Buchten taten sich auf und wurden von entfernteren Landzungen wieder geschlossen.
Juliane kauerte sich ins Gras. Nach einem Zögern ließ sich der Junge neben ihr nieder. Dicht neben ihr. Sie sahen auf das Wasser, sahen sich an und wieder auf den See, auf dem ein paar Angelkähne zu erkennen waren.
Da Juliane zeigte mit der ausgestreckten Hand auf einen Bussard, der weite Kreise um einen unsichtbaren Mittelpunkt zog. Als sie sich wieder einander zuwandten, machte das Mädchen unwillkürlich eine Bewegung auf den Jungen zu. Sie geriet mit ihrem Gesicht zwischen den dunklen, kratzigen Stoff seiner Jacke und die sehr warme und glatte Haut seines Halses. Betäubt von der Berührung verharrten sie. Juliane spürte die trockenen Lippen des Jungen auf ihrer Wange. Sie zog den Kopf zurück.
Roman sah auf den Boden und zupfte das Gras zwischen seinen Schuhen aus. Sie hielt ihm die Hand fest, die ihr klein und hilflos vorkam.
Er griff nach ihren Fingern. Sie verschlangen sich von selber ineinander.